Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie
zum Spiegelbild zusammenfaßt.

Auf der Grundlage historischer Studien das Schöne und
Darstellbare einer Epoche umspannend, darf der Roman auch
wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geschichte anerkannt
zu werden, und wer ihn achselzuckend als das Werk willkürlicher
und fälschender Laune zurückweisen wollte, der mag sich dabei
getrösten, daß die Geschichte, wie sie bei uns geschrieben zu wer-
den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zusammenschmiedung
von Wahrem und Falschem ist, der nur zu viel Schwerfälligkeit
anklebt, als daß sie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre
Lücken spielend auszufüllen.

Wenn nicht alle Zeichen trügen, so ist unsere Zeit in einem
eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen.

In allen Gebieten schlägt die Erkenntniß durch, wie unsäg-
lich unser Denken und Empfinden unter der Herrschaft der Ab-
straction und der Phrase geschädigt worden; da und dort Rü-
stung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blassen, Begrifflichen
zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, statt müßiger Selbstbe-
schauung des Geistes Beziehung auf Leben und Gegenwart,
statt Formeln und Schablonen naturgeschichtliche Analyse, statt
der Kritik schöpferische Production, und unsere Enkel erleben
vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß seit-
heriger Wissenschaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht spricht,
wie von den Resten eines vorsündfluthlichen Riesengethieres, und
wo man ohne Gefahr, als Barbar verschrieen zu werden, be-
haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-

Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums ſich wie
zum Spiegelbild zuſammenfaßt.

Auf der Grundlage hiſtoriſcher Studien das Schöne und
Darſtellbare einer Epoche umſpannend, darf der Roman auch
wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geſchichte anerkannt
zu werden, und wer ihn achſelzuckend als das Werk willkürlicher
und fälſchender Laune zurückweiſen wollte, der mag ſich dabei
getröſten, daß die Geſchichte, wie ſie bei uns geſchrieben zu wer-
den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zuſammenſchmiedung
von Wahrem und Falſchem iſt, der nur zu viel Schwerfälligkeit
anklebt, als daß ſie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre
Lücken ſpielend auszufüllen.

Wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo iſt unſere Zeit in einem
eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen.

In allen Gebieten ſchlägt die Erkenntniß durch, wie unſäg-
lich unſer Denken und Empfinden unter der Herrſchaft der Ab-
ſtraction und der Phraſe geſchädigt worden; da und dort Rü-
ſtung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blaſſen, Begrifflichen
zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, ſtatt müßiger Selbſtbe-
ſchauung des Geiſtes Beziehung auf Leben und Gegenwart,
ſtatt Formeln und Schablonen naturgeſchichtliche Analyſe, ſtatt
der Kritik ſchöpferiſche Production, und unſere Enkel erleben
vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß ſeit-
heriger Wiſſenſchaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht ſpricht,
wie von den Reſten eines vorſündfluthlichen Rieſengethieres, und
wo man ohne Gefahr, als Barbar verſchrieen zu werden, be-
haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0014" n="IV"/>
Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums &#x017F;ich wie<lb/>
zum Spiegelbild zu&#x017F;ammenfaßt.</p><lb/>
        <p>Auf der Grundlage hi&#x017F;tori&#x017F;cher Studien das Schöne und<lb/>
Dar&#x017F;tellbare einer Epoche um&#x017F;pannend, darf der Roman auch<lb/>
wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Ge&#x017F;chichte anerkannt<lb/>
zu werden, und wer ihn ach&#x017F;elzuckend als das Werk willkürlicher<lb/>
und fäl&#x017F;chender Laune zurückwei&#x017F;en wollte, der mag &#x017F;ich dabei<lb/>
getrö&#x017F;ten, daß die Ge&#x017F;chichte, wie &#x017F;ie bei uns ge&#x017F;chrieben zu wer-<lb/>
den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zu&#x017F;ammen&#x017F;chmiedung<lb/>
von Wahrem und Fal&#x017F;chem i&#x017F;t, der nur zu viel Schwerfälligkeit<lb/>
anklebt, als daß &#x017F;ie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre<lb/>
Lücken &#x017F;pielend auszufüllen.</p><lb/>
        <p>Wenn nicht alle Zeichen trügen, &#x017F;o i&#x017F;t un&#x017F;ere Zeit in einem<lb/>
eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen.</p><lb/>
        <p>In allen Gebieten &#x017F;chlägt die Erkenntniß durch, wie un&#x017F;äg-<lb/>
lich un&#x017F;er Denken und Empfinden unter der Herr&#x017F;chaft der Ab-<lb/>
&#x017F;traction und der Phra&#x017F;e ge&#x017F;chädigt worden; da und dort Rü-<lb/>
&#x017F;tung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Bla&#x017F;&#x017F;en, Begrifflichen<lb/>
zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, &#x017F;tatt müßiger Selb&#x017F;tbe-<lb/>
&#x017F;chauung des Gei&#x017F;tes Beziehung auf Leben und Gegenwart,<lb/>
&#x017F;tatt Formeln und Schablonen naturge&#x017F;chichtliche Analy&#x017F;e, &#x017F;tatt<lb/>
der Kritik &#x017F;chöpferi&#x017F;che Production, und un&#x017F;ere Enkel erleben<lb/>
vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß &#x017F;eit-<lb/>
heriger Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht &#x017F;pricht,<lb/>
wie von den Re&#x017F;ten eines vor&#x017F;ündfluthlichen Rie&#x017F;engethieres, und<lb/>
wo man ohne Gefahr, als Barbar ver&#x017F;chrieen zu werden, be-<lb/>
haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[IV/0014] Leiden der Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums ſich wie zum Spiegelbild zuſammenfaßt. Auf der Grundlage hiſtoriſcher Studien das Schöne und Darſtellbare einer Epoche umſpannend, darf der Roman auch wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geſchichte anerkannt zu werden, und wer ihn achſelzuckend als das Werk willkürlicher und fälſchender Laune zurückweiſen wollte, der mag ſich dabei getröſten, daß die Geſchichte, wie ſie bei uns geſchrieben zu wer- den pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zuſammenſchmiedung von Wahrem und Falſchem iſt, der nur zu viel Schwerfälligkeit anklebt, als daß ſie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre Lücken ſpielend auszufüllen. Wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo iſt unſere Zeit in einem eigenthümlichen Läuterungsproceß begriffen. In allen Gebieten ſchlägt die Erkenntniß durch, wie unſäg- lich unſer Denken und Empfinden unter der Herrſchaft der Ab- ſtraction und der Phraſe geſchädigt worden; da und dort Rü- ſtung zur Umkehr aus dem Abgezogenen, Blaſſen, Begrifflichen zum Concreten, Farbigen, Sinnlichen, ſtatt müßiger Selbſtbe- ſchauung des Geiſtes Beziehung auf Leben und Gegenwart, ſtatt Formeln und Schablonen naturgeſchichtliche Analyſe, ſtatt der Kritik ſchöpferiſche Production, und unſere Enkel erleben vielleicht noch die Stunde, wo man von manchem Koloß ſeit- heriger Wiſſenſchaft mit der gleichen lächelnden Ehrfurcht ſpricht, wie von den Reſten eines vorſündfluthlichen Rieſengethieres, und wo man ohne Gefahr, als Barbar verſchrieen zu werden, be- haupten darf, in einem Steinkrug alten Weines ruhe nicht we-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/14
Zitationshilfe: Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/14>, abgerufen am 28.03.2024.