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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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nämlich, den tonus major, die Quinte und die Oktave. Daß wirklich
ein solches Tonsystem in den Triglyphen ausgedrückt sey, läßt sich
nicht deutlich machen, ohne die Anschauung zu Hülfe zu nehmen, da-
her ich es der eignen Ansicht überlassen muß, sich davon zu überzeugen.
Ich kann zur Bestätigung dieser Vermuthung noch die sogenannten
Tropfen der Triglyphen zu Hülfe nehmen. Die gewöhnliche Vorstel-
lung ist, in die hervorragenden Balkenköpfe seyen anfänglich darum
senkrecht heruntergehende Schlitze gemacht worden, damit das Wasser
desto leichter abliefe, und man beruft sich deßhalb auf die unten
hängenden Tropfen. Allein die Anzahl derselben steht mit der Anzahl
der Rinnen, als welche nämlich die Schlitze betrachtet werden müßten,
in keinem Verhältniß. Da in dem System von vier Tönen nur sechs
verschiedene Verbindungen von Tönen oder Consonanzen möglich sind,
so würde die Sechszahl hier eben für das Zusammenfließen der vier
Töne in sechs Consonanzen bedeutend seyn.

Die genaue Zusammenstimmung der Verhältnisse der dorischen
Ordnung mit musikalischen Verhältnissen ist auch noch auf andere Weise
offenbar. Vitruvius gibt das Verhältniß der Breite zu der Höhe der
Triglyphen wie 1 : 11/2 oder 2 : 3 an, welches das Verhältniß einer der
schönsten Consonanzen, der Quinte, ist, anstatt daß das andere von
ihm für bei weitem weniger schön angegebene Verhältniß von 3 : 4 der
Quarte in der Musik entspricht, die jener an Annehmlichkeit bei weitem
nachsteht. Ob man mit solchen Vorstellungen zu viel Absichtlichkeit und
Sinn in die architektonischen Formen der Griechen legt, mögen die-
jenigen beurtheilen, die die Klarheit und das in allen ihren Werken
herrschende Bewußtseyn sonst zu erkennen fähig sind.

§. 117. Der harmonische Theil der Architektur bezieht
sich vornehmlich auf die Proportionen oder Verhältnisse
und ist die ideale Form dieser Kunst
. --

Proportionen finden in der Architektur vorzüglich wegen der An-
spielung auf den menschlichen Körper statt, dessen Schönheit eben dar-
auf beruht. Die Architektur, welche in der Beobachtung des Rhythmus
noch die hohe, strenge Form behält und auf Wahrheit geht, nähert

nämlich, den tonus major, die Quinte und die Oktave. Daß wirklich
ein ſolches Tonſyſtem in den Triglyphen ausgedrückt ſey, läßt ſich
nicht deutlich machen, ohne die Anſchauung zu Hülfe zu nehmen, da-
her ich es der eignen Anſicht überlaſſen muß, ſich davon zu überzeugen.
Ich kann zur Beſtätigung dieſer Vermuthung noch die ſogenannten
Tropfen der Triglyphen zu Hülfe nehmen. Die gewöhnliche Vorſtel-
lung iſt, in die hervorragenden Balkenköpfe ſeyen anfänglich darum
ſenkrecht heruntergehende Schlitze gemacht worden, damit das Waſſer
deſto leichter abliefe, und man beruft ſich deßhalb auf die unten
hängenden Tropfen. Allein die Anzahl derſelben ſteht mit der Anzahl
der Rinnen, als welche nämlich die Schlitze betrachtet werden müßten,
in keinem Verhältniß. Da in dem Syſtem von vier Tönen nur ſechs
verſchiedene Verbindungen von Tönen oder Conſonanzen möglich ſind,
ſo würde die Sechszahl hier eben für das Zuſammenfließen der vier
Töne in ſechs Conſonanzen bedeutend ſeyn.

Die genaue Zuſammenſtimmung der Verhältniſſe der doriſchen
Ordnung mit muſikaliſchen Verhältniſſen iſt auch noch auf andere Weiſe
offenbar. Vitruvius gibt das Verhältniß der Breite zu der Höhe der
Triglyphen wie 1 : 1½ oder 2 : 3 an, welches das Verhältniß einer der
ſchönſten Conſonanzen, der Quinte, iſt, anſtatt daß das andere von
ihm für bei weitem weniger ſchön angegebene Verhältniß von 3 : 4 der
Quarte in der Muſik entſpricht, die jener an Annehmlichkeit bei weitem
nachſteht. Ob man mit ſolchen Vorſtellungen zu viel Abſichtlichkeit und
Sinn in die architektoniſchen Formen der Griechen legt, mögen die-
jenigen beurtheilen, die die Klarheit und das in allen ihren Werken
herrſchende Bewußtſeyn ſonſt zu erkennen fähig ſind.

§. 117. Der harmoniſche Theil der Architektur bezieht
ſich vornehmlich auf die Proportionen oder Verhältniſſe
und iſt die ideale Form dieſer Kunſt
. —

Proportionen finden in der Architektur vorzüglich wegen der An-
ſpielung auf den menſchlichen Körper ſtatt, deſſen Schönheit eben dar-
auf beruht. Die Architektur, welche in der Beobachtung des Rhythmus
noch die hohe, ſtrenge Form behält und auf Wahrheit geht, nähert

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[594/0270] nämlich, den tonus major, die Quinte und die Oktave. Daß wirklich ein ſolches Tonſyſtem in den Triglyphen ausgedrückt ſey, läßt ſich nicht deutlich machen, ohne die Anſchauung zu Hülfe zu nehmen, da- her ich es der eignen Anſicht überlaſſen muß, ſich davon zu überzeugen. Ich kann zur Beſtätigung dieſer Vermuthung noch die ſogenannten Tropfen der Triglyphen zu Hülfe nehmen. Die gewöhnliche Vorſtel- lung iſt, in die hervorragenden Balkenköpfe ſeyen anfänglich darum ſenkrecht heruntergehende Schlitze gemacht worden, damit das Waſſer deſto leichter abliefe, und man beruft ſich deßhalb auf die unten hängenden Tropfen. Allein die Anzahl derſelben ſteht mit der Anzahl der Rinnen, als welche nämlich die Schlitze betrachtet werden müßten, in keinem Verhältniß. Da in dem Syſtem von vier Tönen nur ſechs verſchiedene Verbindungen von Tönen oder Conſonanzen möglich ſind, ſo würde die Sechszahl hier eben für das Zuſammenfließen der vier Töne in ſechs Conſonanzen bedeutend ſeyn. Die genaue Zuſammenſtimmung der Verhältniſſe der doriſchen Ordnung mit muſikaliſchen Verhältniſſen iſt auch noch auf andere Weiſe offenbar. Vitruvius gibt das Verhältniß der Breite zu der Höhe der Triglyphen wie 1 : 1½ oder 2 : 3 an, welches das Verhältniß einer der ſchönſten Conſonanzen, der Quinte, iſt, anſtatt daß das andere von ihm für bei weitem weniger ſchön angegebene Verhältniß von 3 : 4 der Quarte in der Muſik entſpricht, die jener an Annehmlichkeit bei weitem nachſteht. Ob man mit ſolchen Vorſtellungen zu viel Abſichtlichkeit und Sinn in die architektoniſchen Formen der Griechen legt, mögen die- jenigen beurtheilen, die die Klarheit und das in allen ihren Werken herrſchende Bewußtſeyn ſonſt zu erkennen fähig ſind. §. 117. Der harmoniſche Theil der Architektur bezieht ſich vornehmlich auf die Proportionen oder Verhältniſſe und iſt die ideale Form dieſer Kunſt. — Proportionen finden in der Architektur vorzüglich wegen der An- ſpielung auf den menſchlichen Körper ſtatt, deſſen Schönheit eben dar- auf beruht. Die Architektur, welche in der Beobachtung des Rhythmus noch die hohe, ſtrenge Form behält und auf Wahrheit geht, nähert

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 594. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/270>, abgerufen am 23.04.2024.