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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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ihnen einverstanden ist, Aeschylos also hier die Zuschauer als auf der
Seite des Rechts und der Gerechtigkeit stehend annahm. Sonst ist der
Chor mehr oder weniger indifferent. Die handelnden Personen sprechen,
als ob sie ganz allein wären und keine Zeugen hätten. Auch darin
zeigt sich die ganz symbolische Bedeutung des Chors. Er ist, wie der
Zuschauer, der Vertraute beider Parteien und verräth keine an die
andere. Wenn er aber Theil nimmt, so ist es, weil er unparteiisch
ist, immer die Seite des Rechts und der Billigkeit, auf die er tritt.
Er räth zum Frieden, sucht zu besänftigen, beklagt das Unrecht und
unterstützt den Unterdrückten, oder gibt seine Theilnahme an dem Un-
glück durch sanfte Rührung zu erkennen. (Aus dieser Indifferenz und
Unparteilichkeit des Chors sieht man das Mißlungene der Nachahmung
desselben in Schillers Braut von Messina.)

Da der Chor eine symbolische Person ist, so kann auf ihn auch
alles andere zur Handlung Nothwendige, aber nicht in ihr selbst Be-
griffene übergetragen werden. Er überhebt also den Dichter einer
Menge anderer zufälliger Beschwerlichkeiten. Die neueren Dichter er-
sticken die Handlung gleichsam unter der Last der Mittel, die sie brauchen,
sie in Bewegung zu setzen. Zum wenigsten bedürfen sie doch für die
Hauptperson eines Vertrauten, eines Rathgebers. Auch dieß ist durch
den Chor aufgehoben, der, da er das Nothwendige und Unvermeidliche
ebenso wie das Vermeidliche sieht, im erforderlichen Fall durch Rath,
Vermahnung, Antrieb wirksam ist.

Endlich auch die große Last neuerer Dichter, das Theater nie leer
zu lassen, ist durch den Chor hinweggenommen.

Gehen wir nun, nachdem wir die Tragödie ganz von innen heraus
construirt haben, bis zur letzten Erscheinung fort, so ist sie unter den
drei Formen der Poesie die einzige, die den Gegenstand von allen Seiten,
demnach ganz absolut zeigt, da das Epos den Zuhörer ebenso wie die
Malerei doch für jeden einzelnen Fall auf einen gewissen Gesichtspunkt
beschränkt, und ihn von dem Gegenstand jedesmal nur so viel sehen läßt,
als dem Erzähler gefällig ist. Das Drama ist endlich unter diesen drei
Formen die einzig wahrhaft symbolische, eben dadurch, daß sie ihre

ihnen einverſtanden iſt, Aeſchylos alſo hier die Zuſchauer als auf der
Seite des Rechts und der Gerechtigkeit ſtehend annahm. Sonſt iſt der
Chor mehr oder weniger indifferent. Die handelnden Perſonen ſprechen,
als ob ſie ganz allein wären und keine Zeugen hätten. Auch darin
zeigt ſich die ganz ſymboliſche Bedeutung des Chors. Er iſt, wie der
Zuſchauer, der Vertraute beider Parteien und verräth keine an die
andere. Wenn er aber Theil nimmt, ſo iſt es, weil er unparteiiſch
iſt, immer die Seite des Rechts und der Billigkeit, auf die er tritt.
Er räth zum Frieden, ſucht zu beſänftigen, beklagt das Unrecht und
unterſtützt den Unterdrückten, oder gibt ſeine Theilnahme an dem Un-
glück durch ſanfte Rührung zu erkennen. (Aus dieſer Indifferenz und
Unparteilichkeit des Chors ſieht man das Mißlungene der Nachahmung
deſſelben in Schillers Braut von Meſſina.)

Da der Chor eine ſymboliſche Perſon iſt, ſo kann auf ihn auch
alles andere zur Handlung Nothwendige, aber nicht in ihr ſelbſt Be-
griffene übergetragen werden. Er überhebt alſo den Dichter einer
Menge anderer zufälliger Beſchwerlichkeiten. Die neueren Dichter er-
ſticken die Handlung gleichſam unter der Laſt der Mittel, die ſie brauchen,
ſie in Bewegung zu ſetzen. Zum wenigſten bedürfen ſie doch für die
Hauptperſon eines Vertrauten, eines Rathgebers. Auch dieß iſt durch
den Chor aufgehoben, der, da er das Nothwendige und Unvermeidliche
ebenſo wie das Vermeidliche ſieht, im erforderlichen Fall durch Rath,
Vermahnung, Antrieb wirkſam iſt.

Endlich auch die große Laſt neuerer Dichter, das Theater nie leer
zu laſſen, iſt durch den Chor hinweggenommen.

Gehen wir nun, nachdem wir die Tragödie ganz von innen heraus
conſtruirt haben, bis zur letzten Erſcheinung fort, ſo iſt ſie unter den
drei Formen der Poeſie die einzige, die den Gegenſtand von allen Seiten,
demnach ganz abſolut zeigt, da das Epos den Zuhörer ebenſo wie die
Malerei doch für jeden einzelnen Fall auf einen gewiſſen Geſichtspunkt
beſchränkt, und ihn von dem Gegenſtand jedesmal nur ſo viel ſehen läßt,
als dem Erzähler gefällig iſt. Das Drama iſt endlich unter dieſen drei
Formen die einzig wahrhaft ſymboliſche, eben dadurch, daß ſie ihre

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[707/0383] ihnen einverſtanden iſt, Aeſchylos alſo hier die Zuſchauer als auf der Seite des Rechts und der Gerechtigkeit ſtehend annahm. Sonſt iſt der Chor mehr oder weniger indifferent. Die handelnden Perſonen ſprechen, als ob ſie ganz allein wären und keine Zeugen hätten. Auch darin zeigt ſich die ganz ſymboliſche Bedeutung des Chors. Er iſt, wie der Zuſchauer, der Vertraute beider Parteien und verräth keine an die andere. Wenn er aber Theil nimmt, ſo iſt es, weil er unparteiiſch iſt, immer die Seite des Rechts und der Billigkeit, auf die er tritt. Er räth zum Frieden, ſucht zu beſänftigen, beklagt das Unrecht und unterſtützt den Unterdrückten, oder gibt ſeine Theilnahme an dem Un- glück durch ſanfte Rührung zu erkennen. (Aus dieſer Indifferenz und Unparteilichkeit des Chors ſieht man das Mißlungene der Nachahmung deſſelben in Schillers Braut von Meſſina.) Da der Chor eine ſymboliſche Perſon iſt, ſo kann auf ihn auch alles andere zur Handlung Nothwendige, aber nicht in ihr ſelbſt Be- griffene übergetragen werden. Er überhebt alſo den Dichter einer Menge anderer zufälliger Beſchwerlichkeiten. Die neueren Dichter er- ſticken die Handlung gleichſam unter der Laſt der Mittel, die ſie brauchen, ſie in Bewegung zu ſetzen. Zum wenigſten bedürfen ſie doch für die Hauptperſon eines Vertrauten, eines Rathgebers. Auch dieß iſt durch den Chor aufgehoben, der, da er das Nothwendige und Unvermeidliche ebenſo wie das Vermeidliche ſieht, im erforderlichen Fall durch Rath, Vermahnung, Antrieb wirkſam iſt. Endlich auch die große Laſt neuerer Dichter, das Theater nie leer zu laſſen, iſt durch den Chor hinweggenommen. Gehen wir nun, nachdem wir die Tragödie ganz von innen heraus conſtruirt haben, bis zur letzten Erſcheinung fort, ſo iſt ſie unter den drei Formen der Poeſie die einzige, die den Gegenſtand von allen Seiten, demnach ganz abſolut zeigt, da das Epos den Zuhörer ebenſo wie die Malerei doch für jeden einzelnen Fall auf einen gewiſſen Geſichtspunkt beſchränkt, und ihn von dem Gegenſtand jedesmal nur ſo viel ſehen läßt, als dem Erzähler gefällig iſt. Das Drama iſt endlich unter dieſen drei Formen die einzig wahrhaft ſymboliſche, eben dadurch, daß ſie ihre

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 707. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/383>, abgerufen am 19.04.2024.