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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.

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Hier setzt die Natur auch dem Universalgenie eine Grenze, die es nicht überschreiten kann, und die Wahrheit wird solange Märtyrer machen, als die Philosophie noch ihr vornehmstes Geschäft daraus machen muß, Anstalten gegen den Irrthum zu treffen.

Wieviel also auch für das Ganze der Welt durch diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht zu läugnen, daß die Individuen, welche sie trift, unter dem Fluch dieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Uebungen bilden sich zwar athletische Körper aus, aber nur durch das freye und gleichförmige Spiel der Glieder die Schönheit. Eben so kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar ausserordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. Und in welchem Verhältniß stünden wir also zu dem vergangenen und kommenden Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein solches Opfer nothwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie getrieben, und unsrer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt - damit das spätere Geschlecht in einem seligen Müßiggange seiner moralischen Gesundheit warten, und den freyen Wuchs seiner Menschheit entwickeln könnte!

Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt seyn, über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt? Es muß also falsch seyn, daß die Aus-

Hier setzt die Natur auch dem Universalgenie eine Grenze, die es nicht überschreiten kann, und die Wahrheit wird solange Märtyrer machen, als die Philosophie noch ihr vornehmstes Geschäft daraus machen muß, Anstalten gegen den Irrthum zu treffen.

Wieviel also auch für das Ganze der Welt durch diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht zu läugnen, daß die Individuen, welche sie trift, unter dem Fluch dieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Uebungen bilden sich zwar athletische Körper aus, aber nur durch das freye und gleichförmige Spiel der Glieder die Schönheit. Eben so kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar ausserordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. Und in welchem Verhältniß stünden wir also zu dem vergangenen und kommenden Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein solches Opfer nothwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie getrieben, und unsrer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt – damit das spätere Geschlecht in einem seligen Müßiggange seiner moralischen Gesundheit warten, und den freyen Wuchs seiner Menschheit entwickeln könnte!

Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt seyn, über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt? Es muß also falsch seyn, daß die Aus-

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[34/0028] Hier setzt die Natur auch dem Universalgenie eine Grenze, die es nicht überschreiten kann, und die Wahrheit wird solange Märtyrer machen, als die Philosophie noch ihr vornehmstes Geschäft daraus machen muß, Anstalten gegen den Irrthum zu treffen. Wieviel also auch für das Ganze der Welt durch diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht zu läugnen, daß die Individuen, welche sie trift, unter dem Fluch dieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Uebungen bilden sich zwar athletische Körper aus, aber nur durch das freye und gleichförmige Spiel der Glieder die Schönheit. Eben so kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar ausserordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. Und in welchem Verhältniß stünden wir also zu dem vergangenen und kommenden Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein solches Opfer nothwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie getrieben, und unsrer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt – damit das spätere Geschlecht in einem seligen Müßiggange seiner moralischen Gesundheit warten, und den freyen Wuchs seiner Menschheit entwickeln könnte! Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt seyn, über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt? Es muß also falsch seyn, daß die Aus-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/28>, abgerufen am 25.04.2024.