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Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124.

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Nichts ist gewöhnlicher als von gewißen trivialen Critikern des Zeitalters die Klage zu vernehmen, daß alle Solidität aus der Welt verschwunden sey, und das Wesen über dem Schein vernachlässigt werde. Obgleich ich mich gar nicht berufen fühle, das Zeitalter gegen diesen Vorwurf zu rechtfertigen, so geht doch schon aus der weiten Ausdehnung, welche diese strengen Herren Sittenrichter ihrer Anklage geben, sattsam hervor, daß sie dem Zeitalter nicht bloß den falschen sondern auch den aufrichtigen Schein verargen; und sogar die Ausnahmen, welche sie noch etwa zu Gunsten der Schönheit machen, gehen mehr auf den bedürftigen als auf den selbstständigen Schein. Sie greifen nicht bloß die betrügerische Schminke an, welche die Wahrheit verbirgt, welche die Wirklichkeit zu vertreten sich anmaßt; sie ereifern sich auch gegen den wohlthätigen Schein, der die Leerheit ausfüllt, und die Armseligkeit zudeckt, auch gegen den idealischen, der eine gemeine Wirklichkeit veredelt. Die Falschheit der Sitten beleidigt mit Recht ihr strenges Wahrheitsgefühl; nur schade, daß sie zu dieser Falschheit auch schon die Höflichkeit rechnen. Es mißfällt ihnen, daß äusserer Flitterglanz so oft das wahre Verdienst verdunkelt, aber es verdrüßt sie nicht weniger, daß man auch Schein vom Verdienste fodert, und dem innern Gehalte die gefällige Form nicht erläßt. Sie vermissen das Herzliche, Kernhafte und Gediegene der vorigen Zeiten, aber sie möchten auch das Eckigte und Derbe der ersten Sitten, das Schwerfällige der alten Formen, und den ehemaligen gotischen Überfluß wieder eingeführt sehen. Sie beweisen durch Urtheile dieser Art dem Stoff an sich selbst eine Achtung, die der Menschheit nicht würdig ist, welche vielmehr das Materielle

Nichts ist gewöhnlicher als von gewißen trivialen Critikern des Zeitalters die Klage zu vernehmen, daß alle Solidität aus der Welt verschwunden sey, und das Wesen über dem Schein vernachlässigt werde. Obgleich ich mich gar nicht berufen fühle, das Zeitalter gegen diesen Vorwurf zu rechtfertigen, so geht doch schon aus der weiten Ausdehnung, welche diese strengen Herren Sittenrichter ihrer Anklage geben, sattsam hervor, daß sie dem Zeitalter nicht bloß den falschen sondern auch den aufrichtigen Schein verargen; und sogar die Ausnahmen, welche sie noch etwa zu Gunsten der Schönheit machen, gehen mehr auf den bedürftigen als auf den selbstständigen Schein. Sie greifen nicht bloß die betrügerische Schminke an, welche die Wahrheit verbirgt, welche die Wirklichkeit zu vertreten sich anmaßt; sie ereifern sich auch gegen den wohlthätigen Schein, der die Leerheit ausfüllt, und die Armseligkeit zudeckt, auch gegen den idealischen, der eine gemeine Wirklichkeit veredelt. Die Falschheit der Sitten beleidigt mit Recht ihr strenges Wahrheitsgefühl; nur schade, daß sie zu dieser Falschheit auch schon die Höflichkeit rechnen. Es mißfällt ihnen, daß äusserer Flitterglanz so oft das wahre Verdienst verdunkelt, aber es verdrüßt sie nicht weniger, daß man auch Schein vom Verdienste fodert, und dem innern Gehalte die gefällige Form nicht erläßt. Sie vermissen das Herzliche, Kernhafte und Gediegene der vorigen Zeiten, aber sie möchten auch das Eckigte und Derbe der ersten Sitten, das Schwerfällige der alten Formen, und den ehemaligen gotischen Überfluß wieder eingeführt sehen. Sie beweisen durch Urtheile dieser Art dem Stoff an sich selbst eine Achtung, die der Menschheit nicht würdig ist, welche vielmehr das Materielle

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[110/0066] Nichts ist gewöhnlicher als von gewißen trivialen Critikern des Zeitalters die Klage zu vernehmen, daß alle Solidität aus der Welt verschwunden sey, und das Wesen über dem Schein vernachlässigt werde. Obgleich ich mich gar nicht berufen fühle, das Zeitalter gegen diesen Vorwurf zu rechtfertigen, so geht doch schon aus der weiten Ausdehnung, welche diese strengen Herren Sittenrichter ihrer Anklage geben, sattsam hervor, daß sie dem Zeitalter nicht bloß den falschen sondern auch den aufrichtigen Schein verargen; und sogar die Ausnahmen, welche sie noch etwa zu Gunsten der Schönheit machen, gehen mehr auf den bedürftigen als auf den selbstständigen Schein. Sie greifen nicht bloß die betrügerische Schminke an, welche die Wahrheit verbirgt, welche die Wirklichkeit zu vertreten sich anmaßt; sie ereifern sich auch gegen den wohlthätigen Schein, der die Leerheit ausfüllt, und die Armseligkeit zudeckt, auch gegen den idealischen, der eine gemeine Wirklichkeit veredelt. Die Falschheit der Sitten beleidigt mit Recht ihr strenges Wahrheitsgefühl; nur schade, daß sie zu dieser Falschheit auch schon die Höflichkeit rechnen. Es mißfällt ihnen, daß äusserer Flitterglanz so oft das wahre Verdienst verdunkelt, aber es verdrüßt sie nicht weniger, daß man auch Schein vom Verdienste fodert, und dem innern Gehalte die gefällige Form nicht erläßt. Sie vermissen das Herzliche, Kernhafte und Gediegene der vorigen Zeiten, aber sie möchten auch das Eckigte und Derbe der ersten Sitten, das Schwerfällige der alten Formen, und den ehemaligen gotischen Überfluß wieder eingeführt sehen. Sie beweisen durch Urtheile dieser Art dem Stoff an sich selbst eine Achtung, die der Menschheit nicht würdig ist, welche vielmehr das Materielle

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124, hier S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung03_1795/66>, abgerufen am 29.03.2024.