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Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124.

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über die Nothdurft gegeben, und in das dunkle thierische Leben einen Schimmer von Freyheit gestreut. Wenn den Löwen kein Hunger nagt, und kein Raubthier zum Kampf herausfodert, so erschafft sich die müßige Stärke selbst einen Gegenstand; mit muthvollem Gebrüll erfüllt er die hallende Wüste, und in zwecklosem Aufwand genießt sich die üppige Kraft. Mit frohem Leben schwärmt das Insekt in dem Sonnenstrahl; auch ist es sicherlich nicht der Schrey der Begierde, den wir in dem melodischen Schlag des Singvogels hören. Unläugbar ist in diesen Bewegungen Freyheit, aber nicht Freyheit von dem Bedürfniß überhaupt, bloß von einem bestimmten, von einem äussern Bedürfniß. Das Thier arbeitet, wenn ein Mangel die Triebfeder seiner Thätigkeit ist, und es spielt, wenn der Reichthum der Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Thätigkeit stachelt. Selbst in der unbeseelten Natur zeigt sich ein solcher Luxus der Kräfte und eine Laxität der Bestimmung, die man in jenem materiellen Sinn gar wohl Spiel nennen könnte. Der Baum treibt unzählige Keime, die unentwickelt verderben, und streckt weit mehr Wurzeln, Zweige und Blätter nach Nahrung aus, als zu Erhaltung seines Individuums und seiner Gattung verwendet werden. Was er von seiner verschwenderischen Fülle ungebraucht und ungenossen dem Elementarreich zurückgiebt, das darf das Lebendige in fröhlicher Bewegung verschwelgen. So giebt uns die Natur schon in ihrem materiellen Reich ein Vorspiel des Unbegrenzten und hebt hier schon zum Theil die Fesseln auf, deren sie sich im Reich der Form ganz und gar entledigt. Von dem Zwang

über die Nothdurft gegeben, und in das dunkle thierische Leben einen Schimmer von Freyheit gestreut. Wenn den Löwen kein Hunger nagt, und kein Raubthier zum Kampf herausfodert, so erschafft sich die müßige Stärke selbst einen Gegenstand; mit muthvollem Gebrüll erfüllt er die hallende Wüste, und in zwecklosem Aufwand genießt sich die üppige Kraft. Mit frohem Leben schwärmt das Insekt in dem Sonnenstrahl; auch ist es sicherlich nicht der Schrey der Begierde, den wir in dem melodischen Schlag des Singvogels hören. Unläugbar ist in diesen Bewegungen Freyheit, aber nicht Freyheit von dem Bedürfniß überhaupt, bloß von einem bestimmten, von einem äussern Bedürfniß. Das Thier arbeitet, wenn ein Mangel die Triebfeder seiner Thätigkeit ist, und es spielt, wenn der Reichthum der Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Thätigkeit stachelt. Selbst in der unbeseelten Natur zeigt sich ein solcher Luxus der Kräfte und eine Laxität der Bestimmung, die man in jenem materiellen Sinn gar wohl Spiel nennen könnte. Der Baum treibt unzählige Keime, die unentwickelt verderben, und streckt weit mehr Wurzeln, Zweige und Blätter nach Nahrung aus, als zu Erhaltung seines Individuums und seiner Gattung verwendet werden. Was er von seiner verschwenderischen Fülle ungebraucht und ungenossen dem Elementarreich zurückgiebt, das darf das Lebendige in fröhlicher Bewegung verschwelgen. So giebt uns die Natur schon in ihrem materiellen Reich ein Vorspiel des Unbegrenzten und hebt hier schon zum Theil die Fesseln auf, deren sie sich im Reich der Form ganz und gar entledigt. Von dem Zwang

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[114/0070] über die Nothdurft gegeben, und in das dunkle thierische Leben einen Schimmer von Freyheit gestreut. Wenn den Löwen kein Hunger nagt, und kein Raubthier zum Kampf herausfodert, so erschafft sich die müßige Stärke selbst einen Gegenstand; mit muthvollem Gebrüll erfüllt er die hallende Wüste, und in zwecklosem Aufwand genießt sich die üppige Kraft. Mit frohem Leben schwärmt das Insekt in dem Sonnenstrahl; auch ist es sicherlich nicht der Schrey der Begierde, den wir in dem melodischen Schlag des Singvogels hören. Unläugbar ist in diesen Bewegungen Freyheit, aber nicht Freyheit von dem Bedürfniß überhaupt, bloß von einem bestimmten, von einem äussern Bedürfniß. Das Thier arbeitet, wenn ein Mangel die Triebfeder seiner Thätigkeit ist, und es spielt, wenn der Reichthum der Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Thätigkeit stachelt. Selbst in der unbeseelten Natur zeigt sich ein solcher Luxus der Kräfte und eine Laxität der Bestimmung, die man in jenem materiellen Sinn gar wohl Spiel nennen könnte. Der Baum treibt unzählige Keime, die unentwickelt verderben, und streckt weit mehr Wurzeln, Zweige und Blätter nach Nahrung aus, als zu Erhaltung seines Individuums und seiner Gattung verwendet werden. Was er von seiner verschwenderischen Fülle ungebraucht und ungenossen dem Elementarreich zurückgiebt, das darf das Lebendige in fröhlicher Bewegung verschwelgen. So giebt uns die Natur schon in ihrem materiellen Reich ein Vorspiel des Unbegrenzten und hebt hier schon zum Theil die Fesseln auf, deren sie sich im Reich der Form ganz und gar entledigt. Von dem Zwang

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124, hier S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung03_1795/70>, abgerufen am 18.04.2024.