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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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Zum Naiven wird erfodert daß die Natur über die

"gleichsam der Schalk in uns selbst bloß gestellt wird,
"bringt die Bewegung des Gemüths nach zwey entgegen-
"gesetzten Richtungen nach einander hervor, die zugleich
"den Körper heilsam schüttelt. Daß aber etwas, was un-
"endlich besser als alle angenommene Sitte ist, die Lauter-
"keit der Denkungsart, (wenigstens die Anlage dazu) doch
"nicht ganz in der menschlichen Natur erloschen ist, mischt
"Ernst und Hochschätzung in dieses Spiel der Urtheilskraft.
"Weil es aber nur eine kurze Zeit Erscheinung ist und die
"Deke der Verstellungskunst bald wieder vorgezogen wird,
"so mengt sich zugleich ein Bedauren darunter, welches
"eine Rührung der Zärtlichkeit ist, die sich als Spiel mit
"einem solchen gutherzigen Lachen sehr wohl verbinden läßt,
"und auch wirklich damit gewöhnlich verbindet, zugleich
"auch die Verlegenheit dessen, der den Stoff dazu hergiebt,
"darüber daß er noch nicht nach Menschenweise gewitzigt
"ist, zu vergüten pflegt. --" Ich gestehe, daß diese Erklä-
rungsart mich nicht ganz befriedigt, und zwar vorzüglich
deswegen nicht, weil sie von dem Naiven überhaupt etwas
behauptet, was höchstens von einer Species desselben, dem
Naiven der Ueberraschung, von welchem ich nachher reden
werde, wahr ist. Allerdings erregt es Lachen, wenn sich
jemand durch Naivheit bloß giebt, und in manchen Fällen
mag dieses Lachen aus einer vorhergegangenen Erwartung,
die in Nichts aufgelößt wird, fliessen. Aber auch die Naiv-
heit der edelsten Art, das Naive der Gesinnung erregt im-
mer ein Lächeln, welches doch schwerlich eine in Nichts

Zum Naiven wird erfodert daß die Natur uͤber die

„gleichſam der Schalk in uns ſelbſt bloß geſtellt wird,
„bringt die Bewegung des Gemuͤths nach zwey entgegen-
„geſetzten Richtungen nach einander hervor, die zugleich
„den Koͤrper heilſam ſchuͤttelt. Daß aber etwas, was un-
„endlich beſſer als alle angenommene Sitte iſt, die Lauter-
„keit der Denkungsart, (wenigſtens die Anlage dazu) doch
„nicht ganz in der menſchlichen Natur erloſchen iſt, miſcht
„Ernſt und Hochſchaͤtzung in dieſes Spiel der Urtheilskraft.
„Weil es aber nur eine kurze Zeit Erſcheinung iſt und die
„Deke der Verſtellungskunſt bald wieder vorgezogen wird,
„ſo mengt ſich zugleich ein Bedauren darunter, welches
„eine Ruͤhrung der Zaͤrtlichkeit iſt, die ſich als Spiel mit
„einem ſolchen gutherzigen Lachen ſehr wohl verbinden laͤßt,
„und auch wirklich damit gewoͤhnlich verbindet, zugleich
„auch die Verlegenheit deſſen, der den Stoff dazu hergiebt,
„daruͤber daß er noch nicht nach Menſchenweiſe gewitzigt
„iſt, zu verguͤten pflegt. —“ Ich geſtehe, daß dieſe Erklaͤ-
rungsart mich nicht ganz befriedigt, und zwar vorzuͤglich
deswegen nicht, weil ſie von dem Naiven uͤberhaupt etwas
behauptet, was hoͤchſtens von einer Species deſſelben, dem
Naiven der Ueberraſchung, von welchem ich nachher reden
werde, wahr iſt. Allerdings erregt es Lachen, wenn ſich
jemand durch Naivheit bloß giebt, und in manchen Faͤllen
mag dieſes Lachen aus einer vorhergegangenen Erwartung,
die in Nichts aufgeloͤßt wird, flieſſen. Aber auch die Naiv-
heit der edelſten Art, das Naive der Geſinnung erregt im-
mer ein Laͤcheln, welches doch ſchwerlich eine in Nichts
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[50/0018] Zum Naiven wird erfodert daß die Natur uͤber die * * „gleichſam der Schalk in uns ſelbſt bloß geſtellt wird, „bringt die Bewegung des Gemuͤths nach zwey entgegen- „geſetzten Richtungen nach einander hervor, die zugleich „den Koͤrper heilſam ſchuͤttelt. Daß aber etwas, was un- „endlich beſſer als alle angenommene Sitte iſt, die Lauter- „keit der Denkungsart, (wenigſtens die Anlage dazu) doch „nicht ganz in der menſchlichen Natur erloſchen iſt, miſcht „Ernſt und Hochſchaͤtzung in dieſes Spiel der Urtheilskraft. „Weil es aber nur eine kurze Zeit Erſcheinung iſt und die „Deke der Verſtellungskunſt bald wieder vorgezogen wird, „ſo mengt ſich zugleich ein Bedauren darunter, welches „eine Ruͤhrung der Zaͤrtlichkeit iſt, die ſich als Spiel mit „einem ſolchen gutherzigen Lachen ſehr wohl verbinden laͤßt, „und auch wirklich damit gewoͤhnlich verbindet, zugleich „auch die Verlegenheit deſſen, der den Stoff dazu hergiebt, „daruͤber daß er noch nicht nach Menſchenweiſe gewitzigt „iſt, zu verguͤten pflegt. —“ Ich geſtehe, daß dieſe Erklaͤ- rungsart mich nicht ganz befriedigt, und zwar vorzuͤglich deswegen nicht, weil ſie von dem Naiven uͤberhaupt etwas behauptet, was hoͤchſtens von einer Species deſſelben, dem Naiven der Ueberraſchung, von welchem ich nachher reden werde, wahr iſt. Allerdings erregt es Lachen, wenn ſich jemand durch Naivheit bloß giebt, und in manchen Faͤllen mag dieſes Lachen aus einer vorhergegangenen Erwartung, die in Nichts aufgeloͤßt wird, flieſſen. Aber auch die Naiv- heit der edelſten Art, das Naive der Geſinnung erregt im- mer ein Laͤcheln, welches doch ſchwerlich eine in Nichts

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/18>, abgerufen am 28.03.2024.