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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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entweder der Stoff aufgegeben oder eine neue Form gesucht wer-
den. Wird nun diese gesucht, so tritt das positive Moment ein.
Absolut neu ist keine neuerfundene Form. Sie existirt schon ir-
gendwo, nur nicht gerade an dem Punkt, wo der Verf. sie her-
vorbringen will. Sie liegt entweder auf einem andern Kunstge-
biete. Indem der Verf. sie auf das seinige herüberzieht, so
erscheint er bei aller Neuheit doch als Nachahmer der schon vor-
handenen. Oder die Form ist schon im Leben vorhanden, nur
noch nicht in der Kunst gebraucht. So nahm das alte Drama
als es entstand seine Form aus dem im Leben überall vorhandenen
Gespräch, so wie der frühere Typus für die Kunstform des Epos
die Erzählung ist. Selbst der Chor in den Dramen findet
seinen Typus in dem Zusammentreffen des Einzelnen mit dem
Volke. Wir müssen also sagen, selbst der Erfinder neuer Formen
der Darstellung ist nicht rein frei in seinem Entschlusse; es steht
zwar in seiner Macht, ob die Form eine stehende Kunstform wer-
den soll oder nicht, aber er ist auch bei der Bildung der neuen
in der Gewalt der Analoga, die schon vorhanden sind.

Indem wir nun den Hauptunterschied der psychologischen und
technischen Seite festhalten, fangen wir natürlich bei dem Ver-
ständniß des Impulses im Individuum an und gehen zum Fort-
wirken des Gesammtlebens auf die Entwicklung des Ganzen über,
wobei wir, was dabei von Composition erwähnt werden muß,
als aus dem litterarischen Leben schon bekannt voraussezen können.

Die psychologische Aufgabe insbesondere.

Die Aufgabe enthält ein Zwiefaches, was in Beziehung auf
die Totalität des Werkes sehr verschieden, aber in Beziehung auf
dessen elementarische Produktion sehr ähnlich ist. Das eine ist,
den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verstehen, das andere
die einzelnen Theile desselben aus dem Leben des Autors zu be-
greifen. Jenes ist das, woraus sich alles entwickelt, dieses das

entweder der Stoff aufgegeben oder eine neue Form geſucht wer-
den. Wird nun dieſe geſucht, ſo tritt das poſitive Moment ein.
Abſolut neu iſt keine neuerfundene Form. Sie exiſtirt ſchon ir-
gendwo, nur nicht gerade an dem Punkt, wo der Verf. ſie her-
vorbringen will. Sie liegt entweder auf einem andern Kunſtge-
biete. Indem der Verf. ſie auf das ſeinige heruͤberzieht, ſo
erſcheint er bei aller Neuheit doch als Nachahmer der ſchon vor-
handenen. Oder die Form iſt ſchon im Leben vorhanden, nur
noch nicht in der Kunſt gebraucht. So nahm das alte Drama
als es entſtand ſeine Form aus dem im Leben uͤberall vorhandenen
Geſpraͤch, ſo wie der fruͤhere Typus fuͤr die Kunſtform des Epos
die Erzaͤhlung iſt. Selbſt der Chor in den Dramen findet
ſeinen Typus in dem Zuſammentreffen des Einzelnen mit dem
Volke. Wir muͤſſen alſo ſagen, ſelbſt der Erfinder neuer Formen
der Darſtellung iſt nicht rein frei in ſeinem Entſchluſſe; es ſteht
zwar in ſeiner Macht, ob die Form eine ſtehende Kunſtform wer-
den ſoll oder nicht, aber er iſt auch bei der Bildung der neuen
in der Gewalt der Analoga, die ſchon vorhanden ſind.

Indem wir nun den Hauptunterſchied der pſychologiſchen und
techniſchen Seite feſthalten, fangen wir natuͤrlich bei dem Ver-
ſtaͤndniß des Impulſes im Individuum an und gehen zum Fort-
wirken des Geſammtlebens auf die Entwicklung des Ganzen uͤber,
wobei wir, was dabei von Compoſition erwaͤhnt werden muß,
als aus dem litterariſchen Leben ſchon bekannt vorausſezen koͤnnen.

Die pſychologiſche Aufgabe insbeſondere.

Die Aufgabe enthaͤlt ein Zwiefaches, was in Beziehung auf
die Totalitaͤt des Werkes ſehr verſchieden, aber in Beziehung auf
deſſen elementariſche Produktion ſehr aͤhnlich iſt. Das eine iſt,
den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verſtehen, das andere
die einzelnen Theile deſſelben aus dem Leben des Autors zu be-
greifen. Jenes iſt das, woraus ſich alles entwickelt, dieſes das

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[155/0179] entweder der Stoff aufgegeben oder eine neue Form geſucht wer- den. Wird nun dieſe geſucht, ſo tritt das poſitive Moment ein. Abſolut neu iſt keine neuerfundene Form. Sie exiſtirt ſchon ir- gendwo, nur nicht gerade an dem Punkt, wo der Verf. ſie her- vorbringen will. Sie liegt entweder auf einem andern Kunſtge- biete. Indem der Verf. ſie auf das ſeinige heruͤberzieht, ſo erſcheint er bei aller Neuheit doch als Nachahmer der ſchon vor- handenen. Oder die Form iſt ſchon im Leben vorhanden, nur noch nicht in der Kunſt gebraucht. So nahm das alte Drama als es entſtand ſeine Form aus dem im Leben uͤberall vorhandenen Geſpraͤch, ſo wie der fruͤhere Typus fuͤr die Kunſtform des Epos die Erzaͤhlung iſt. Selbſt der Chor in den Dramen findet ſeinen Typus in dem Zuſammentreffen des Einzelnen mit dem Volke. Wir muͤſſen alſo ſagen, ſelbſt der Erfinder neuer Formen der Darſtellung iſt nicht rein frei in ſeinem Entſchluſſe; es ſteht zwar in ſeiner Macht, ob die Form eine ſtehende Kunſtform wer- den ſoll oder nicht, aber er iſt auch bei der Bildung der neuen in der Gewalt der Analoga, die ſchon vorhanden ſind. Indem wir nun den Hauptunterſchied der pſychologiſchen und techniſchen Seite feſthalten, fangen wir natuͤrlich bei dem Ver- ſtaͤndniß des Impulſes im Individuum an und gehen zum Fort- wirken des Geſammtlebens auf die Entwicklung des Ganzen uͤber, wobei wir, was dabei von Compoſition erwaͤhnt werden muß, als aus dem litterariſchen Leben ſchon bekannt vorausſezen koͤnnen. Die pſychologiſche Aufgabe insbeſondere. Die Aufgabe enthaͤlt ein Zwiefaches, was in Beziehung auf die Totalitaͤt des Werkes ſehr verſchieden, aber in Beziehung auf deſſen elementariſche Produktion ſehr aͤhnlich iſt. Das eine iſt, den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verſtehen, das andere die einzelnen Theile deſſelben aus dem Leben des Autors zu be- greifen. Jenes iſt das, woraus ſich alles entwickelt, dieſes das

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/179>, abgerufen am 25.04.2024.