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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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gegangen. Ohne diese Probe haben wir keine Sicherheit. Allein
eben dieß ist noch sehr vernachlässigt. Die Hypothese z. B. von
dem sogenannten Urevangelium ist das Resultat solcher zurückge-
henden Operationen. Man hat nemlich die vielen übereinstim-
menden Stellen der Evangelien zusammengenommen und gefragt,
wie diese Übereinstimmung wol entstanden sein möge. Allein
das Princip, welches man gefunden, ist zu sehr nur arithmetischer,
abstrakter Natur und zu dürftig. Man sagt, was die Evange-
lien Übereinstimmendes haben, das sei das Frühere, was jedem
eigenthümlich ist, das Spätere. Jenes bildet ein Aggregat von
Einzelheiten in größter Dürftigkeit, das Urevangelium, welches,
wie man meint, von den ersten Verkündigern des Evangeliums
als Schema aufgestellt und von jedem Lehrer nach seinem Maaße
erweitert worden sei. Macht man nun damit die Probe, so fin-
det man zunächst, daß das Evangelium des Johannes dabei nicht
zu begreifen sei. Der Apostel Johannes hätte doch seine Zustim-
mung zu jenem Schema geben müssen. Aber die seinem Evange-
lium zum Grunde liegende Ansicht ist eine ganz andere. Also
die Auctorität dieses Apostels geht für jenes Urevangelium schon
verloren. Fragen wir nun weiter, in welche Zeit ein solcher Akt
der Apostel hätte fallen sollen, so finden wir wenigstens in der
Apostelgeschichte kein Verhältniß der Art, woraus ein solcher Akt
wahrscheinlich würde, keine Spur selbst da nicht, wo Lukas Ge-
legenheit gehabt hätte, davon zu sprechen. -- So werden alle
aus dem Einzelnen hervorgehenden Hypothesen über das zum
Grunde liegende Gemeinsame scheitern, sobald man das Ganze
zusammenschaut.

Es kommt hier besonders in Beziehung auf die didaktischen
Schriften ein anderer Punkt in Betracht, der eine Quelle großer
Schwierigkeiten ist und den man daher bei der Auslegung immer
im Auge haben muß. Nemlich die schriftliche Mittheilung war
in jener Zeit immer nur secundär durchaus und in jeder Bezie-
hung. In der Regel sind die Schriften nur berechnet für solche,
mit denen schon ein mündlicher Verkehr statt gehabt. Nicht nur

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gegangen. Ohne dieſe Probe haben wir keine Sicherheit. Allein
eben dieß iſt noch ſehr vernachlaͤſſigt. Die Hypotheſe z. B. von
dem ſogenannten Urevangelium iſt das Reſultat ſolcher zuruͤckge-
henden Operationen. Man hat nemlich die vielen uͤbereinſtim-
menden Stellen der Evangelien zuſammengenommen und gefragt,
wie dieſe Übereinſtimmung wol entſtanden ſein moͤge. Allein
das Princip, welches man gefunden, iſt zu ſehr nur arithmetiſcher,
abſtrakter Natur und zu duͤrftig. Man ſagt, was die Evange-
lien Übereinſtimmendes haben, das ſei das Fruͤhere, was jedem
eigenthuͤmlich iſt, das Spaͤtere. Jenes bildet ein Aggregat von
Einzelheiten in groͤßter Duͤrftigkeit, das Urevangelium, welches,
wie man meint, von den erſten Verkuͤndigern des Evangeliums
als Schema aufgeſtellt und von jedem Lehrer nach ſeinem Maaße
erweitert worden ſei. Macht man nun damit die Probe, ſo fin-
det man zunaͤchſt, daß das Evangelium des Johannes dabei nicht
zu begreifen ſei. Der Apoſtel Johannes haͤtte doch ſeine Zuſtim-
mung zu jenem Schema geben muͤſſen. Aber die ſeinem Evange-
lium zum Grunde liegende Anſicht iſt eine ganz andere. Alſo
die Auctoritaͤt dieſes Apoſtels geht fuͤr jenes Urevangelium ſchon
verloren. Fragen wir nun weiter, in welche Zeit ein ſolcher Akt
der Apoſtel haͤtte fallen ſollen, ſo finden wir wenigſtens in der
Apoſtelgeſchichte kein Verhaͤltniß der Art, woraus ein ſolcher Akt
wahrſcheinlich wuͤrde, keine Spur ſelbſt da nicht, wo Lukas Ge-
legenheit gehabt haͤtte, davon zu ſprechen. — So werden alle
aus dem Einzelnen hervorgehenden Hypotheſen uͤber das zum
Grunde liegende Gemeinſame ſcheitern, ſobald man das Ganze
zuſammenſchaut.

Es kommt hier beſonders in Beziehung auf die didaktiſchen
Schriften ein anderer Punkt in Betracht, der eine Quelle großer
Schwierigkeiten iſt und den man daher bei der Auslegung immer
im Auge haben muß. Nemlich die ſchriftliche Mittheilung war
in jener Zeit immer nur ſecundaͤr durchaus und in jeder Bezie-
hung. In der Regel ſind die Schriften nur berechnet fuͤr ſolche,
mit denen ſchon ein muͤndlicher Verkehr ſtatt gehabt. Nicht nur

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[259/0283] gegangen. Ohne dieſe Probe haben wir keine Sicherheit. Allein eben dieß iſt noch ſehr vernachlaͤſſigt. Die Hypotheſe z. B. von dem ſogenannten Urevangelium iſt das Reſultat ſolcher zuruͤckge- henden Operationen. Man hat nemlich die vielen uͤbereinſtim- menden Stellen der Evangelien zuſammengenommen und gefragt, wie dieſe Übereinſtimmung wol entſtanden ſein moͤge. Allein das Princip, welches man gefunden, iſt zu ſehr nur arithmetiſcher, abſtrakter Natur und zu duͤrftig. Man ſagt, was die Evange- lien Übereinſtimmendes haben, das ſei das Fruͤhere, was jedem eigenthuͤmlich iſt, das Spaͤtere. Jenes bildet ein Aggregat von Einzelheiten in groͤßter Duͤrftigkeit, das Urevangelium, welches, wie man meint, von den erſten Verkuͤndigern des Evangeliums als Schema aufgeſtellt und von jedem Lehrer nach ſeinem Maaße erweitert worden ſei. Macht man nun damit die Probe, ſo fin- det man zunaͤchſt, daß das Evangelium des Johannes dabei nicht zu begreifen ſei. Der Apoſtel Johannes haͤtte doch ſeine Zuſtim- mung zu jenem Schema geben muͤſſen. Aber die ſeinem Evange- lium zum Grunde liegende Anſicht iſt eine ganz andere. Alſo die Auctoritaͤt dieſes Apoſtels geht fuͤr jenes Urevangelium ſchon verloren. Fragen wir nun weiter, in welche Zeit ein ſolcher Akt der Apoſtel haͤtte fallen ſollen, ſo finden wir wenigſtens in der Apoſtelgeſchichte kein Verhaͤltniß der Art, woraus ein ſolcher Akt wahrſcheinlich wuͤrde, keine Spur ſelbſt da nicht, wo Lukas Ge- legenheit gehabt haͤtte, davon zu ſprechen. — So werden alle aus dem Einzelnen hervorgehenden Hypotheſen uͤber das zum Grunde liegende Gemeinſame ſcheitern, ſobald man das Ganze zuſammenſchaut. Es kommt hier beſonders in Beziehung auf die didaktiſchen Schriften ein anderer Punkt in Betracht, der eine Quelle großer Schwierigkeiten iſt und den man daher bei der Auslegung immer im Auge haben muß. Nemlich die ſchriftliche Mittheilung war in jener Zeit immer nur ſecundaͤr durchaus und in jeder Bezie- hung. In der Regel ſind die Schriften nur berechnet fuͤr ſolche, mit denen ſchon ein muͤndlicher Verkehr ſtatt gehabt. Nicht nur 17*

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/283>, abgerufen am 19.04.2024.