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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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andern richtig zu verstehen. Der wissenschaftliche Begriff bezieht
sich auf das dritte, als das mittlere zwischen dem ersten und zweiten.

2. Aber auch nicht nur schwieriger Stellen in fremder
Sprache. Bekanntschaft mit dem Gegenstande und der Sprache
wird vielmehr vorausgesetzt. Ist beides, so werden Stellen
nur schwierig, weil man auch die leichteren nicht verstanden
hat. Nur ein kunstmäßiges Verstehen begleitet stetig die Rede
und die Schrift.

3. Man hat gewöhnlich geglaubt wegen der allgemeinen
Principien sich auf den gesunden Menschenverstand verlassen zu
können. Aber dann kann man sich auch wegen des beson-
deren auf das gesunde Gefühl verlassen 1).

2. Es ist schwer der allgemeinen Hermeneutik ihren
Ort anzuweisen.

1. Eine Zeitlang ist sie allerdings als Anhang der Logik
behandelt worden, aber als man alles angewandte in der Lo-
gik aufgab mußte dieß auch aufhören. Der Philosoph an sich
hat keine Neigung, diese Theorie aufzustellen, weil er selten

1) Anmerk. d. Herausg. In den zuletzt im Winter 1832 auf 1833.
gehaltenen Vorlesungen über die Hermeneutik suchte Schleiermacher den
Begriff und die Nothwendigkeit der allgemeinen Hermeneutik
auf dialektische Weise zu gewinnen durch Kritik der auf das klassische
Gebiet beschränkten, einander zum Theil gegenüberstehenden Ansichten von
F. A. Wolf, in der Darstellung der Alterthumswissenschaft in d. Museum
der Alterthumswissenschaft. Bd. 1. S. 1-145. und Fr. Ast, in dem Grund-
riß der Philologie, Landshut. 1808. 8.
Da aber alles, was er hier darüber sagt, viel ausgearbeiteter zu
lesen ist, in den beyden Akademischen Abhandlungen über den Be-
griff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolf's An-
deutungen und Ast's Lehrbuch (in den Reden und Abhandlun-
gen der Königl. Akademie der Wissenschaften, sämmtliche Werke, dritte
Abtheil. Zur Philosophie. Dritter Band. S. 344-380.), so haben wir
uns bis auf einige wenige Ausnahmen billig enthalten, den unvollkommenen
mündlichen Vortrag aus den nachgeschriebenen Heften hier aufzunehmen.

andern richtig zu verſtehen. Der wiſſenſchaftliche Begriff bezieht
ſich auf das dritte, als das mittlere zwiſchen dem erſten und zweiten.

2. Aber auch nicht nur ſchwieriger Stellen in fremder
Sprache. Bekanntſchaft mit dem Gegenſtande und der Sprache
wird vielmehr vorausgeſetzt. Iſt beides, ſo werden Stellen
nur ſchwierig, weil man auch die leichteren nicht verſtanden
hat. Nur ein kunſtmaͤßiges Verſtehen begleitet ſtetig die Rede
und die Schrift.

3. Man hat gewoͤhnlich geglaubt wegen der allgemeinen
Principien ſich auf den geſunden Menſchenverſtand verlaſſen zu
koͤnnen. Aber dann kann man ſich auch wegen des beſon-
deren auf das geſunde Gefuͤhl verlaſſen 1).

2. Es iſt ſchwer der allgemeinen Hermeneutik ihren
Ort anzuweiſen.

1. Eine Zeitlang iſt ſie allerdings als Anhang der Logik
behandelt worden, aber als man alles angewandte in der Lo-
gik aufgab mußte dieß auch aufhoͤren. Der Philoſoph an ſich
hat keine Neigung, dieſe Theorie aufzuſtellen, weil er ſelten

1) Anmerk. d. Herausg. In den zuletzt im Winter 1832 auf 1833.
gehaltenen Vorleſungen uͤber die Hermeneutik ſuchte Schleiermacher den
Begriff und die Nothwendigkeit der allgemeinen Hermeneutik
auf dialektiſche Weiſe zu gewinnen durch Kritik der auf das klaſſiſche
Gebiet beſchraͤnkten, einander zum Theil gegenuͤberſtehenden Anſichten von
F. A. Wolf, in der Darſtellung der Alterthumswiſſenſchaft in d. Muſeum
der Alterthumswiſſenſchaft. Bd. 1. S. 1-145. und Fr. Aſt, in dem Grund-
riß der Philologie, Landshut. 1808. 8.
Da aber alles, was er hier daruͤber ſagt, viel ausgearbeiteter zu
leſen iſt, in den beyden Akademiſchen Abhandlungen uͤber den Be-
griff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolf's An-
deutungen und Aſt's Lehrbuch (in den Reden und Abhandlun-
gen der Koͤnigl. Akademie der Wiſſenſchaften, ſaͤmmtliche Werke, dritte
Abtheil. Zur Philoſophie. Dritter Band. S. 344-380.), ſo haben wir
uns bis auf einige wenige Ausnahmen billig enthalten, den unvollkommenen
muͤndlichen Vortrag aus den nachgeſchriebenen Heften hier aufzunehmen.
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[8/0032] andern richtig zu verſtehen. Der wiſſenſchaftliche Begriff bezieht ſich auf das dritte, als das mittlere zwiſchen dem erſten und zweiten. 2. Aber auch nicht nur ſchwieriger Stellen in fremder Sprache. Bekanntſchaft mit dem Gegenſtande und der Sprache wird vielmehr vorausgeſetzt. Iſt beides, ſo werden Stellen nur ſchwierig, weil man auch die leichteren nicht verſtanden hat. Nur ein kunſtmaͤßiges Verſtehen begleitet ſtetig die Rede und die Schrift. 3. Man hat gewoͤhnlich geglaubt wegen der allgemeinen Principien ſich auf den geſunden Menſchenverſtand verlaſſen zu koͤnnen. Aber dann kann man ſich auch wegen des beſon- deren auf das geſunde Gefuͤhl verlaſſen 1). 2. Es iſt ſchwer der allgemeinen Hermeneutik ihren Ort anzuweiſen. 1. Eine Zeitlang iſt ſie allerdings als Anhang der Logik behandelt worden, aber als man alles angewandte in der Lo- gik aufgab mußte dieß auch aufhoͤren. Der Philoſoph an ſich hat keine Neigung, dieſe Theorie aufzuſtellen, weil er ſelten 1) Anmerk. d. Herausg. In den zuletzt im Winter 1832 auf 1833. gehaltenen Vorleſungen uͤber die Hermeneutik ſuchte Schleiermacher den Begriff und die Nothwendigkeit der allgemeinen Hermeneutik auf dialektiſche Weiſe zu gewinnen durch Kritik der auf das klaſſiſche Gebiet beſchraͤnkten, einander zum Theil gegenuͤberſtehenden Anſichten von F. A. Wolf, in der Darſtellung der Alterthumswiſſenſchaft in d. Muſeum der Alterthumswiſſenſchaft. Bd. 1. S. 1-145. und Fr. Aſt, in dem Grund- riß der Philologie, Landshut. 1808. 8. Da aber alles, was er hier daruͤber ſagt, viel ausgearbeiteter zu leſen iſt, in den beyden Akademiſchen Abhandlungen uͤber den Be- griff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolf's An- deutungen und Aſt's Lehrbuch (in den Reden und Abhandlun- gen der Koͤnigl. Akademie der Wiſſenſchaften, ſaͤmmtliche Werke, dritte Abtheil. Zur Philoſophie. Dritter Band. S. 344-380.), ſo haben wir uns bis auf einige wenige Ausnahmen billig enthalten, den unvollkommenen muͤndlichen Vortrag aus den nachgeſchriebenen Heften hier aufzunehmen.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/32>, abgerufen am 19.04.2024.