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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Zweiter Theil.
Kritik der Fehler, die durch freie
Handlung entstanden sind.

Hier sind alle die Fälle zu untersuchen, wo die Abweichung
nicht in dem Mechanismus der Sinne und der Vorstellungen
ihren Grund hat, sondern in einer freien Handlung.

Es entsteht die Frage, ob und wie es möglich sei, daß man
in die Rede eines Andern hineinbringt, was nicht darin gelegen hat?

Ein bloßer Referent, der nichts als dieß ist, wird es nicht
thun. Aber, wenn Jemand ein bestimmtes Interesse hat, kann
es vorkommen, daß er dem Andern etwas unterschiebt. Hat
einer das Interesse, Andere glauben zu machen, der Verfasser
einer Schrift habe so oder so gedacht, so wird er durch Änderun-
gen in der Schrift etwas hervorzubringen suchen, was seiner Ab-
sicht gemäß ist. Dieß ist eigentlicher Betrug, wissentliche Ver-
fälschung. Aber so etwas kann man nur unter sehr besondern
Umständen voraussezen, im Allgemeinen nicht. Denken wir, daß
Jemand die absichtliche Verfälschung einer Schrift im Großen als
seinen Beruf treibt, so wird ein solcher Änderungen vermeiden, um
sich im Ruf der Zuverlässigkeit zu erhalten. Aber, wenn Jemand
einen Schriftsteller anführt mit dem bestimmten Interesse zu zei-
gen, daß derselbe zu seiner Parthei oder Meinung gehört, so
kann dieß Interesse zur Verfälschung treiben. Da ist denn zu
fragen, ob Jemand ein solches bestimmtes Interesse wirklich ge-
habt. Finde ich dieß, so verliert die Stelle ihre Beweiskraft,

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Zweiter Theil.
Kritik der Fehler, die durch freie
Handlung entſtanden ſind.

Hier ſind alle die Faͤlle zu unterſuchen, wo die Abweichung
nicht in dem Mechanismus der Sinne und der Vorſtellungen
ihren Grund hat, ſondern in einer freien Handlung.

Es entſteht die Frage, ob und wie es moͤglich ſei, daß man
in die Rede eines Andern hineinbringt, was nicht darin gelegen hat?

Ein bloßer Referent, der nichts als dieß iſt, wird es nicht
thun. Aber, wenn Jemand ein beſtimmtes Intereſſe hat, kann
es vorkommen, daß er dem Andern etwas unterſchiebt. Hat
einer das Intereſſe, Andere glauben zu machen, der Verfaſſer
einer Schrift habe ſo oder ſo gedacht, ſo wird er durch Änderun-
gen in der Schrift etwas hervorzubringen ſuchen, was ſeiner Ab-
ſicht gemaͤß iſt. Dieß iſt eigentlicher Betrug, wiſſentliche Ver-
faͤlſchung. Aber ſo etwas kann man nur unter ſehr beſondern
Umſtaͤnden vorausſezen, im Allgemeinen nicht. Denken wir, daß
Jemand die abſichtliche Verfaͤlſchung einer Schrift im Großen als
ſeinen Beruf treibt, ſo wird ein ſolcher Änderungen vermeiden, um
ſich im Ruf der Zuverlaͤſſigkeit zu erhalten. Aber, wenn Jemand
einen Schriftſteller anfuͤhrt mit dem beſtimmten Intereſſe zu zei-
gen, daß derſelbe zu ſeiner Parthei oder Meinung gehoͤrt, ſo
kann dieß Intereſſe zur Verfaͤlſchung treiben. Da iſt denn zu
fragen, ob Jemand ein ſolches beſtimmtes Intereſſe wirklich ge-
habt. Finde ich dieß, ſo verliert die Stelle ihre Beweiskraft,

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[[323]/0347] Zweiter Theil. Kritik der Fehler, die durch freie Handlung entſtanden ſind. Hier ſind alle die Faͤlle zu unterſuchen, wo die Abweichung nicht in dem Mechanismus der Sinne und der Vorſtellungen ihren Grund hat, ſondern in einer freien Handlung. Es entſteht die Frage, ob und wie es moͤglich ſei, daß man in die Rede eines Andern hineinbringt, was nicht darin gelegen hat? Ein bloßer Referent, der nichts als dieß iſt, wird es nicht thun. Aber, wenn Jemand ein beſtimmtes Intereſſe hat, kann es vorkommen, daß er dem Andern etwas unterſchiebt. Hat einer das Intereſſe, Andere glauben zu machen, der Verfaſſer einer Schrift habe ſo oder ſo gedacht, ſo wird er durch Änderun- gen in der Schrift etwas hervorzubringen ſuchen, was ſeiner Ab- ſicht gemaͤß iſt. Dieß iſt eigentlicher Betrug, wiſſentliche Ver- faͤlſchung. Aber ſo etwas kann man nur unter ſehr beſondern Umſtaͤnden vorausſezen, im Allgemeinen nicht. Denken wir, daß Jemand die abſichtliche Verfaͤlſchung einer Schrift im Großen als ſeinen Beruf treibt, ſo wird ein ſolcher Änderungen vermeiden, um ſich im Ruf der Zuverlaͤſſigkeit zu erhalten. Aber, wenn Jemand einen Schriftſteller anfuͤhrt mit dem beſtimmten Intereſſe zu zei- gen, daß derſelbe zu ſeiner Parthei oder Meinung gehoͤrt, ſo kann dieß Intereſſe zur Verfaͤlſchung treiben. Da iſt denn zu fragen, ob Jemand ein ſolches beſtimmtes Intereſſe wirklich ge- habt. Finde ich dieß, ſo verliert die Stelle ihre Beweiskraft, 21*

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. [323]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/347>, abgerufen am 18.04.2024.