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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die neueren Fortschritte in England und Frankreich.

In Paris und den dortigen akademischen Kreisen, im Journal des Economistes
(seit 1842) und der Buchhandlung Guillaumin blieb die alte Saysche Schulweisheit,
wie wir schon erwähnt, bis in die Gegenwart vorherrschend. Aber neben ihr wirkten
nicht bloß Sismondi, die socialistischen, schutzzöllnerischen und kirchlichen National-
ökonomen, sondern stets auch eine Schule praktischer Kenner des wirklichen Lebens,
wie Leon Fauchen (Etudes sur l'Angleterre, 2 Bde., 1856) und Leon de la Vergne
(Economie rurale de la France depuis 1789, 1860). Die französischen Arbeiter- und
Industrieverhältnisse fanden eine Reihe von hervorragenden Bearbeitern in Gerando,
Villermee, E. Laurent, Audiganne, Reybaud, J. Barbaret. Niemand aber hat die Be-
obachtung und Beschreibung der socialen Gegenwart so energisch in die Hand genommen,
wie der große Ingenieur Le Play, der erst auf Jahrzehnte langen Reisen eine große
Zahl zutreffender Beschreibungen der wirtschaftlichen Lage der unteren Klassen sammelte
(Les ouvriers europeens, 6 Bde., 1877--79), ehe er, ähnlich wie der Belgier Ducpetiaux,
dieses Material zu vergleichenden Haushaltungsbudgets zusammenstellte, damit einen
ganzen eigenen Zweig der Litteratur und Untersuchung schuf; an dieses Material lehnten
sich auch seine konservativ und christlich gehaltenen Vorschläge über Wiederherstellung
eines patriarchalischen Familienverhältnisses und patriarchalischer Arbeiterverhältnisse an
(La reforme sociale en France, 1864). Er hat Schule gemacht in Frankreich; seine
Gedanken und Bestrebungen werden von einer Zeitschrift (La reforme sociale, seit 1881)
und einem Verein Gleichgesinnter fortgeführt. Neuerdings hat Graf Maroussem vor
allem derartige Beschreibungen in ausgezeichneter Weise geliefert.

Die eigentliche Wirtschaftsgeschichte hatte in Frankreichs alten gelehrten Tra-
ditionen ebenso einen Boden, wie sie durch die neue Blüte historischer Studien unter
Guizot und Thierry angeregt wurde. Depping schrieb seine Geschichte des Levantehandels
(1830) und gab das Livre des metiers aus dem 13. Jahrhundert heraus (1837). Guerard
veröffentlichte seine grundlegenden Untersuchungen über die Wirtschaftszustände unter Karl
dem Großen (Politique de l'abbe Irminon, 2 vol. 1836 u. 1844). Pierre Clement ließ
seinen beschreibenden Werken über Colbert (1846, 1854) seine großen Archivpublikationen
über ihn folgen (1861--73), die bald weitere ähnliche Unternehmungen in Bezug auf
Mazarin, Richelieu, Ludwig XIV., sowie in Bezug auf die Korrespondenz der Intendanten
und Generalkontrolleure des alten Regimes nach sich zogen. E. Levasseur schrieb seine
belehrende französische Wirtschaftsgeschichte in vier Bänden unter dem Titel Histoire des
classes ouvrieres en France
(1859--67), H. Wallon seine Geschichte der Sklaverei im
Altertum (3 Bde., 1847 u. 1879), H. Baudrillart seine Geschichte des Luxus (4 Bde.,
1880). Und zahlreiche Monographien über die Agrar-, Handels- und Gewerbegeschichte
einzelner Provinzen und Städte, über die Verwaltung im ganzen, den auswärtigen
Handel bestimmter Epochen, die Geschichte der Finanzen wie einzelner Verwaltungszweige
gehen diesen umfassenderen Arbeiten parallel.

Von 1880 an erhob sich unter den neuangestellten Professoren der National-
ökonomie an den französischen Rechtsfakultäten, deren Führung Cauwes in Paris und
Gide in Montpellier zufiel, ein ganz neuer Geist unabhängiger Forschung, der mit dem
deutschen nahe verwandt ist, und der dazu führte, daß die betreffenden hauptsächlich in
Verbindung mit deutschen Gelehrten die neue Zeitschrift Revue d'economie politique
von 1887 an gründeten.

Es ist hier nicht möglich, auch in Bezug auf die Vereinigten Staaten, Italien
und andere Länder den Umschwung im wissenschaftlichen Betriebe der ökonomischen und
socialen Studien zu schildern. Wir erwähnen nur noch, daß in Belgien Emil de Laveleye
durch eine Reihe von bemerkenswerten Werken, hauptsächlich durch seine Geschichte des
älteren Gemeindeeigentums (Ureigentum, deutsch von Bücher, 1879) die Forschung zur
Geschichte und zur Beobachtung der Wirklichkeit zurückgelenkt hat. Im übrigen mag
die Bemerkung genügen, daß die alte abstrakte, dogmatisch-naturrechtliche Behandlung
überall in dem Maße noch stärker vorhält, wie die geistige und die sociale Entwickelung
der betreffenden Länder eine langsamer voranschreitende ist.

Die neueren Fortſchritte in England und Frankreich.

In Paris und den dortigen akademiſchen Kreiſen, im Journal des Économistes
(ſeit 1842) und der Buchhandlung Guillaumin blieb die alte Sayſche Schulweisheit,
wie wir ſchon erwähnt, bis in die Gegenwart vorherrſchend. Aber neben ihr wirkten
nicht bloß Sismondi, die ſocialiſtiſchen, ſchutzzöllneriſchen und kirchlichen National-
ökonomen, ſondern ſtets auch eine Schule praktiſcher Kenner des wirklichen Lebens,
wie Léon Fauchen (Études sur l’Angleterre, 2 Bde., 1856) und Léon de la Vergne
(Économie rurale de la France depuis 1789, 1860). Die franzöſiſchen Arbeiter- und
Induſtrieverhältniſſe fanden eine Reihe von hervorragenden Bearbeitern in Gérando,
Villermée, E. Laurent, Audiganne, Reybaud, J. Barbaret. Niemand aber hat die Be-
obachtung und Beſchreibung der ſocialen Gegenwart ſo energiſch in die Hand genommen,
wie der große Ingenieur Le Play, der erſt auf Jahrzehnte langen Reiſen eine große
Zahl zutreffender Beſchreibungen der wirtſchaftlichen Lage der unteren Klaſſen ſammelte
(Les ouvriers européens, 6 Bde., 1877—79), ehe er, ähnlich wie der Belgier Ducpétiaux,
dieſes Material zu vergleichenden Haushaltungsbudgets zuſammenſtellte, damit einen
ganzen eigenen Zweig der Litteratur und Unterſuchung ſchuf; an dieſes Material lehnten
ſich auch ſeine konſervativ und chriſtlich gehaltenen Vorſchläge über Wiederherſtellung
eines patriarchaliſchen Familienverhältniſſes und patriarchaliſcher Arbeiterverhältniſſe an
(La réforme sociale en France, 1864). Er hat Schule gemacht in Frankreich; ſeine
Gedanken und Beſtrebungen werden von einer Zeitſchrift (La réforme sociale, ſeit 1881)
und einem Verein Gleichgeſinnter fortgeführt. Neuerdings hat Graf Marouſſem vor
allem derartige Beſchreibungen in ausgezeichneter Weiſe geliefert.

Die eigentliche Wirtſchaftsgeſchichte hatte in Frankreichs alten gelehrten Tra-
ditionen ebenſo einen Boden, wie ſie durch die neue Blüte hiſtoriſcher Studien unter
Guizot und Thierry angeregt wurde. Depping ſchrieb ſeine Geſchichte des Levantehandels
(1830) und gab das Livre des métiers aus dem 13. Jahrhundert heraus (1837). Guérard
veröffentlichte ſeine grundlegenden Unterſuchungen über die Wirtſchaftszuſtände unter Karl
dem Großen (Politique de l’abbé Irminon, 2 vol. 1836 u. 1844). Pierre Clément ließ
ſeinen beſchreibenden Werken über Colbert (1846, 1854) ſeine großen Archivpublikationen
über ihn folgen (1861—73), die bald weitere ähnliche Unternehmungen in Bezug auf
Mazarin, Richelieu, Ludwig XIV., ſowie in Bezug auf die Korreſpondenz der Intendanten
und Generalkontrolleure des alten Regimes nach ſich zogen. E. Levaſſeur ſchrieb ſeine
belehrende franzöſiſche Wirtſchaftsgeſchichte in vier Bänden unter dem Titel Histoire des
classes ouvrières en France
(1859—67), H. Wallon ſeine Geſchichte der Sklaverei im
Altertum (3 Bde., 1847 u. 1879), H. Baudrillart ſeine Geſchichte des Luxus (4 Bde.,
1880). Und zahlreiche Monographien über die Agrar-, Handels- und Gewerbegeſchichte
einzelner Provinzen und Städte, über die Verwaltung im ganzen, den auswärtigen
Handel beſtimmter Epochen, die Geſchichte der Finanzen wie einzelner Verwaltungszweige
gehen dieſen umfaſſenderen Arbeiten parallel.

Von 1880 an erhob ſich unter den neuangeſtellten Profeſſoren der National-
ökonomie an den franzöſiſchen Rechtsfakultäten, deren Führung Cauwès in Paris und
Gide in Montpellier zufiel, ein ganz neuer Geiſt unabhängiger Forſchung, der mit dem
deutſchen nahe verwandt iſt, und der dazu führte, daß die betreffenden hauptſächlich in
Verbindung mit deutſchen Gelehrten die neue Zeitſchrift Revue d’économie politique
von 1887 an gründeten.

Es iſt hier nicht möglich, auch in Bezug auf die Vereinigten Staaten, Italien
und andere Länder den Umſchwung im wiſſenſchaftlichen Betriebe der ökonomiſchen und
ſocialen Studien zu ſchildern. Wir erwähnen nur noch, daß in Belgien Emil de Laveleye
durch eine Reihe von bemerkenswerten Werken, hauptſächlich durch ſeine Geſchichte des
älteren Gemeindeeigentums (Ureigentum, deutſch von Bücher, 1879) die Forſchung zur
Geſchichte und zur Beobachtung der Wirklichkeit zurückgelenkt hat. Im übrigen mag
die Bemerkung genügen, daß die alte abſtrakte, dogmatiſch-naturrechtliche Behandlung
überall in dem Maße noch ſtärker vorhält, wie die geiſtige und die ſociale Entwickelung
der betreffenden Länder eine langſamer voranſchreitende iſt.

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[121/0137] Die neueren Fortſchritte in England und Frankreich. In Paris und den dortigen akademiſchen Kreiſen, im Journal des Économistes (ſeit 1842) und der Buchhandlung Guillaumin blieb die alte Sayſche Schulweisheit, wie wir ſchon erwähnt, bis in die Gegenwart vorherrſchend. Aber neben ihr wirkten nicht bloß Sismondi, die ſocialiſtiſchen, ſchutzzöllneriſchen und kirchlichen National- ökonomen, ſondern ſtets auch eine Schule praktiſcher Kenner des wirklichen Lebens, wie Léon Fauchen (Études sur l’Angleterre, 2 Bde., 1856) und Léon de la Vergne (Économie rurale de la France depuis 1789, 1860). Die franzöſiſchen Arbeiter- und Induſtrieverhältniſſe fanden eine Reihe von hervorragenden Bearbeitern in Gérando, Villermée, E. Laurent, Audiganne, Reybaud, J. Barbaret. Niemand aber hat die Be- obachtung und Beſchreibung der ſocialen Gegenwart ſo energiſch in die Hand genommen, wie der große Ingenieur Le Play, der erſt auf Jahrzehnte langen Reiſen eine große Zahl zutreffender Beſchreibungen der wirtſchaftlichen Lage der unteren Klaſſen ſammelte (Les ouvriers européens, 6 Bde., 1877—79), ehe er, ähnlich wie der Belgier Ducpétiaux, dieſes Material zu vergleichenden Haushaltungsbudgets zuſammenſtellte, damit einen ganzen eigenen Zweig der Litteratur und Unterſuchung ſchuf; an dieſes Material lehnten ſich auch ſeine konſervativ und chriſtlich gehaltenen Vorſchläge über Wiederherſtellung eines patriarchaliſchen Familienverhältniſſes und patriarchaliſcher Arbeiterverhältniſſe an (La réforme sociale en France, 1864). Er hat Schule gemacht in Frankreich; ſeine Gedanken und Beſtrebungen werden von einer Zeitſchrift (La réforme sociale, ſeit 1881) und einem Verein Gleichgeſinnter fortgeführt. Neuerdings hat Graf Marouſſem vor allem derartige Beſchreibungen in ausgezeichneter Weiſe geliefert. Die eigentliche Wirtſchaftsgeſchichte hatte in Frankreichs alten gelehrten Tra- ditionen ebenſo einen Boden, wie ſie durch die neue Blüte hiſtoriſcher Studien unter Guizot und Thierry angeregt wurde. Depping ſchrieb ſeine Geſchichte des Levantehandels (1830) und gab das Livre des métiers aus dem 13. Jahrhundert heraus (1837). Guérard veröffentlichte ſeine grundlegenden Unterſuchungen über die Wirtſchaftszuſtände unter Karl dem Großen (Politique de l’abbé Irminon, 2 vol. 1836 u. 1844). Pierre Clément ließ ſeinen beſchreibenden Werken über Colbert (1846, 1854) ſeine großen Archivpublikationen über ihn folgen (1861—73), die bald weitere ähnliche Unternehmungen in Bezug auf Mazarin, Richelieu, Ludwig XIV., ſowie in Bezug auf die Korreſpondenz der Intendanten und Generalkontrolleure des alten Regimes nach ſich zogen. E. Levaſſeur ſchrieb ſeine belehrende franzöſiſche Wirtſchaftsgeſchichte in vier Bänden unter dem Titel Histoire des classes ouvrières en France (1859—67), H. Wallon ſeine Geſchichte der Sklaverei im Altertum (3 Bde., 1847 u. 1879), H. Baudrillart ſeine Geſchichte des Luxus (4 Bde., 1880). Und zahlreiche Monographien über die Agrar-, Handels- und Gewerbegeſchichte einzelner Provinzen und Städte, über die Verwaltung im ganzen, den auswärtigen Handel beſtimmter Epochen, die Geſchichte der Finanzen wie einzelner Verwaltungszweige gehen dieſen umfaſſenderen Arbeiten parallel. Von 1880 an erhob ſich unter den neuangeſtellten Profeſſoren der National- ökonomie an den franzöſiſchen Rechtsfakultäten, deren Führung Cauwès in Paris und Gide in Montpellier zufiel, ein ganz neuer Geiſt unabhängiger Forſchung, der mit dem deutſchen nahe verwandt iſt, und der dazu führte, daß die betreffenden hauptſächlich in Verbindung mit deutſchen Gelehrten die neue Zeitſchrift Revue d’économie politique von 1887 an gründeten. Es iſt hier nicht möglich, auch in Bezug auf die Vereinigten Staaten, Italien und andere Länder den Umſchwung im wiſſenſchaftlichen Betriebe der ökonomiſchen und ſocialen Studien zu ſchildern. Wir erwähnen nur noch, daß in Belgien Emil de Laveleye durch eine Reihe von bemerkenswerten Werken, hauptſächlich durch ſeine Geſchichte des älteren Gemeindeeigentums (Ureigentum, deutſch von Bücher, 1879) die Forſchung zur Geſchichte und zur Beobachtung der Wirklichkeit zurückgelenkt hat. Im übrigen mag die Bemerkung genügen, daß die alte abſtrakte, dogmatiſch-naturrechtliche Behandlung überall in dem Maße noch ſtärker vorhält, wie die geiſtige und die ſociale Entwickelung der betreffenden Länder eine langſamer voranſchreitende iſt.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/137>, abgerufen am 28.03.2024.