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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Das Gleichgewicht der beiden Geschlechter.
gezählt werden. Wo der Männerverbrauch nicht so stark oder gar der der Frauen durch
schlechte Behandlung, Überanstrengung etc. ebenso groß ist, da können die Männer im
Gesamtdurchschnitt überwiegen: so kommen auf 1000 Männer in Italien 995, in
Griechenland 905, in Brittisch Indien 958 Weiber. Wo starke Männereinwanderung
in Rechnung kommt, wird die Differenz noch etwas größer: in Australien kommen auf
1000 Männer 866, in den ganzen Vereinigten Staaten 953, in den Weststaaten
698 Frauen. In ganz Europa ist das Verhältnis jetzt 1000 zu 1024, was immer
4 Millionen Weiberüberschuß giebt, in Brittisch Indien soll es 1000 : 958 sein, was
6 Millionen Weibermangel bedeutete.

Kommt so Männer- wie Weiberüberschuß im Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung
vor, so hält er sich doch meist in mäßigen Grenzen und ist durch die späteren Schicksale
des einen oder anderen Geschlechtes bedingt. Aber er scheint doch auch da und dort
von einem abweichenden Verhältnis der Geburten verursacht zu sein. Bei rohen und
halbkultivierten Völkern ohne ausgebildete Statistik, von denen uns die stärksten Ab-
weichungen im Gesamtgleichgewicht (z. B. von Ratzel, Westermarck etc.) gemeldet werden,
da können wir freilich stets zweifeln, ob das Geburtenverhältnis oder die späteren
Schicksale oder beides zusammen in verschiedenen Stärken die Abweichung erklären.
Sicher ist auch hier vielfach das spätere Schicksal das eingreifende: z. B. die Tötung
der neugeborenen Mädchen, die starke Mißhandlung der Frauen da und dort, das über-
frühe Mutterwerden. Wir finden rohe Stämme, wo auf 4--5 Männer nur eine Frau
kommt. Andererseits, z. B. bei den Eskimos und Indianern, auf 100 Männer 130 bis
200 Frauen, was wesentlich auf die gefährlichen Jagden, Eisfahrten und derartiges der
Männer zurückzuführen sein wird. Aber schon Humboldt meldete, daß in Neuspanien
der Knabenüberschuß bei den Geburten ein größerer sei; andere Forscher berichten für
Australien einen starken Überschuß der Mädchengeburten; Ähnliches hören wir aus Syrien
und Mesopotamien, bis zu 2--3 Mädchen auf einen Knaben; Emin Pascha behauptet
gleiches von Negerstämmen. Auch in Europa kommen große Schwankungen vor: in Russisch-
Polen 100 : 101, in Rumänien und Griechenland 100 Mädchen : 111 Knaben. Wir
dürfen auf die vermuteten Ursachen dieser Abweichungen nicht näher eingehen; die
Wissenschaft steht noch vor den Vorfragen. Am ehesten scheint man heute sagen zu
können: Rassenverschiedenheit der Eltern, überhaupt große Verschiedenheit, alle Paarung,
die man unter dem Begriffe der Exogamie zusammenfaßt, bewirke ein starkes Anwachsen
der Mädchengeburten; Gleichheit der Eltern, wie alle Inzucht vermehre die männlichen
Geburten. Daß die Vielmännerei und Vielweiberei da und dort mit der anormalen
Zahl der vorhandenen Männer oder Frauen zusammenhängt, ist möglich; sicher aber
scheint, daß weder die eine noch die andere anormale Gestaltung des ehelichen Rechtes
regelmäßig und überall von der anormalen Zahl der Geschlechter bedingt ist. Die
Sitten und Institutionen des Geschlechtslebens haben ihre eigene Geschichte und Ur-
sachen; die Vielweiberei ist überdies meist nur eine Einrichtung für die wenigen Reichen,
an der das übrige Volk nicht Teil hat; sie kann auf Weibereinfuhr beruhen oder auf
Nichtverehelichung eines Teiles der Ärmeren; im ganzen kommt sie in den reichen
Ländern des Südens am häufigsten vor, wie die Vielmännerei in ganz armen Ländern,
wo die Not zur Einschränkung der Kinderzahl nötigt, und daher mehrere Brüder sich
nur eine Frau halten können.

Von den verschiedenen Formen der Ehe, ihrer historischen Entwickelung, der Größe
der Haushalte und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung wird unten in anderem Zusammen-
hange gesprochen werden. Hier haben wir nur im Anschluß an den natürlichen
Gegensatz der Geschlechter die überwiegend mit statistischen Mitteln zu lösende Frage
ins Auge zu fassen, welcher Teil der Bevölkerung das ebenso natürliche wie durch Sitte
und Recht normierte Ziel der Eingehung einer Ehe erreiche, in welchem Alter das
geschehe, welcher Teil der Erwachsenen unverehelicht bleibe, welche Zahl von Ehen
jährlich geschlossen werden, und mit welchen wirtschaftlichen Ursachen das zusammenhänge.

Bei den Naturvölkern, zumal den unter südlichem Himmel lebenden, treten alle
15--20 jährigen, mit Ausnahme der Verkrüppelten und Gebrechlichen, in die Ehe.

11*

Das Gleichgewicht der beiden Geſchlechter.
gezählt werden. Wo der Männerverbrauch nicht ſo ſtark oder gar der der Frauen durch
ſchlechte Behandlung, Überanſtrengung ꝛc. ebenſo groß iſt, da können die Männer im
Geſamtdurchſchnitt überwiegen: ſo kommen auf 1000 Männer in Italien 995, in
Griechenland 905, in Brittiſch Indien 958 Weiber. Wo ſtarke Männereinwanderung
in Rechnung kommt, wird die Differenz noch etwas größer: in Auſtralien kommen auf
1000 Männer 866, in den ganzen Vereinigten Staaten 953, in den Weſtſtaaten
698 Frauen. In ganz Europa iſt das Verhältnis jetzt 1000 zu 1024, was immer
4 Millionen Weiberüberſchuß giebt, in Brittiſch Indien ſoll es 1000 : 958 ſein, was
6 Millionen Weibermangel bedeutete.

Kommt ſo Männer- wie Weiberüberſchuß im Geſamtdurchſchnitt der Bevölkerung
vor, ſo hält er ſich doch meiſt in mäßigen Grenzen und iſt durch die ſpäteren Schickſale
des einen oder anderen Geſchlechtes bedingt. Aber er ſcheint doch auch da und dort
von einem abweichenden Verhältnis der Geburten verurſacht zu ſein. Bei rohen und
halbkultivierten Völkern ohne ausgebildete Statiſtik, von denen uns die ſtärkſten Ab-
weichungen im Geſamtgleichgewicht (z. B. von Ratzel, Weſtermarck ꝛc.) gemeldet werden,
da können wir freilich ſtets zweifeln, ob das Geburtenverhältnis oder die ſpäteren
Schickſale oder beides zuſammen in verſchiedenen Stärken die Abweichung erklären.
Sicher iſt auch hier vielfach das ſpätere Schickſal das eingreifende: z. B. die Tötung
der neugeborenen Mädchen, die ſtarke Mißhandlung der Frauen da und dort, das über-
frühe Mutterwerden. Wir finden rohe Stämme, wo auf 4—5 Männer nur eine Frau
kommt. Andererſeits, z. B. bei den Eskimos und Indianern, auf 100 Männer 130 bis
200 Frauen, was weſentlich auf die gefährlichen Jagden, Eisfahrten und derartiges der
Männer zurückzuführen ſein wird. Aber ſchon Humboldt meldete, daß in Neuſpanien
der Knabenüberſchuß bei den Geburten ein größerer ſei; andere Forſcher berichten für
Auſtralien einen ſtarken Überſchuß der Mädchengeburten; Ähnliches hören wir aus Syrien
und Meſopotamien, bis zu 2—3 Mädchen auf einen Knaben; Emin Paſcha behauptet
gleiches von Negerſtämmen. Auch in Europa kommen große Schwankungen vor: in Ruſſiſch-
Polen 100 : 101, in Rumänien und Griechenland 100 Mädchen : 111 Knaben. Wir
dürfen auf die vermuteten Urſachen dieſer Abweichungen nicht näher eingehen; die
Wiſſenſchaft ſteht noch vor den Vorfragen. Am eheſten ſcheint man heute ſagen zu
können: Raſſenverſchiedenheit der Eltern, überhaupt große Verſchiedenheit, alle Paarung,
die man unter dem Begriffe der Exogamie zuſammenfaßt, bewirke ein ſtarkes Anwachſen
der Mädchengeburten; Gleichheit der Eltern, wie alle Inzucht vermehre die männlichen
Geburten. Daß die Vielmännerei und Vielweiberei da und dort mit der anormalen
Zahl der vorhandenen Männer oder Frauen zuſammenhängt, iſt möglich; ſicher aber
ſcheint, daß weder die eine noch die andere anormale Geſtaltung des ehelichen Rechtes
regelmäßig und überall von der anormalen Zahl der Geſchlechter bedingt iſt. Die
Sitten und Inſtitutionen des Geſchlechtslebens haben ihre eigene Geſchichte und Ur-
ſachen; die Vielweiberei iſt überdies meiſt nur eine Einrichtung für die wenigen Reichen,
an der das übrige Volk nicht Teil hat; ſie kann auf Weibereinfuhr beruhen oder auf
Nichtverehelichung eines Teiles der Ärmeren; im ganzen kommt ſie in den reichen
Ländern des Südens am häufigſten vor, wie die Vielmännerei in ganz armen Ländern,
wo die Not zur Einſchränkung der Kinderzahl nötigt, und daher mehrere Brüder ſich
nur eine Frau halten können.

Von den verſchiedenen Formen der Ehe, ihrer hiſtoriſchen Entwickelung, der Größe
der Haushalte und ihrer wirtſchaftlichen Bedeutung wird unten in anderem Zuſammen-
hange geſprochen werden. Hier haben wir nur im Anſchluß an den natürlichen
Gegenſatz der Geſchlechter die überwiegend mit ſtatiſtiſchen Mitteln zu löſende Frage
ins Auge zu faſſen, welcher Teil der Bevölkerung das ebenſo natürliche wie durch Sitte
und Recht normierte Ziel der Eingehung einer Ehe erreiche, in welchem Alter das
geſchehe, welcher Teil der Erwachſenen unverehelicht bleibe, welche Zahl von Ehen
jährlich geſchloſſen werden, und mit welchen wirtſchaftlichen Urſachen das zuſammenhänge.

Bei den Naturvölkern, zumal den unter ſüdlichem Himmel lebenden, treten alle
15—20 jährigen, mit Ausnahme der Verkrüppelten und Gebrechlichen, in die Ehe.

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[163/0179] Das Gleichgewicht der beiden Geſchlechter. gezählt werden. Wo der Männerverbrauch nicht ſo ſtark oder gar der der Frauen durch ſchlechte Behandlung, Überanſtrengung ꝛc. ebenſo groß iſt, da können die Männer im Geſamtdurchſchnitt überwiegen: ſo kommen auf 1000 Männer in Italien 995, in Griechenland 905, in Brittiſch Indien 958 Weiber. Wo ſtarke Männereinwanderung in Rechnung kommt, wird die Differenz noch etwas größer: in Auſtralien kommen auf 1000 Männer 866, in den ganzen Vereinigten Staaten 953, in den Weſtſtaaten 698 Frauen. In ganz Europa iſt das Verhältnis jetzt 1000 zu 1024, was immer 4 Millionen Weiberüberſchuß giebt, in Brittiſch Indien ſoll es 1000 : 958 ſein, was 6 Millionen Weibermangel bedeutete. Kommt ſo Männer- wie Weiberüberſchuß im Geſamtdurchſchnitt der Bevölkerung vor, ſo hält er ſich doch meiſt in mäßigen Grenzen und iſt durch die ſpäteren Schickſale des einen oder anderen Geſchlechtes bedingt. Aber er ſcheint doch auch da und dort von einem abweichenden Verhältnis der Geburten verurſacht zu ſein. Bei rohen und halbkultivierten Völkern ohne ausgebildete Statiſtik, von denen uns die ſtärkſten Ab- weichungen im Geſamtgleichgewicht (z. B. von Ratzel, Weſtermarck ꝛc.) gemeldet werden, da können wir freilich ſtets zweifeln, ob das Geburtenverhältnis oder die ſpäteren Schickſale oder beides zuſammen in verſchiedenen Stärken die Abweichung erklären. Sicher iſt auch hier vielfach das ſpätere Schickſal das eingreifende: z. B. die Tötung der neugeborenen Mädchen, die ſtarke Mißhandlung der Frauen da und dort, das über- frühe Mutterwerden. Wir finden rohe Stämme, wo auf 4—5 Männer nur eine Frau kommt. Andererſeits, z. B. bei den Eskimos und Indianern, auf 100 Männer 130 bis 200 Frauen, was weſentlich auf die gefährlichen Jagden, Eisfahrten und derartiges der Männer zurückzuführen ſein wird. Aber ſchon Humboldt meldete, daß in Neuſpanien der Knabenüberſchuß bei den Geburten ein größerer ſei; andere Forſcher berichten für Auſtralien einen ſtarken Überſchuß der Mädchengeburten; Ähnliches hören wir aus Syrien und Meſopotamien, bis zu 2—3 Mädchen auf einen Knaben; Emin Paſcha behauptet gleiches von Negerſtämmen. Auch in Europa kommen große Schwankungen vor: in Ruſſiſch- Polen 100 : 101, in Rumänien und Griechenland 100 Mädchen : 111 Knaben. Wir dürfen auf die vermuteten Urſachen dieſer Abweichungen nicht näher eingehen; die Wiſſenſchaft ſteht noch vor den Vorfragen. Am eheſten ſcheint man heute ſagen zu können: Raſſenverſchiedenheit der Eltern, überhaupt große Verſchiedenheit, alle Paarung, die man unter dem Begriffe der Exogamie zuſammenfaßt, bewirke ein ſtarkes Anwachſen der Mädchengeburten; Gleichheit der Eltern, wie alle Inzucht vermehre die männlichen Geburten. Daß die Vielmännerei und Vielweiberei da und dort mit der anormalen Zahl der vorhandenen Männer oder Frauen zuſammenhängt, iſt möglich; ſicher aber ſcheint, daß weder die eine noch die andere anormale Geſtaltung des ehelichen Rechtes regelmäßig und überall von der anormalen Zahl der Geſchlechter bedingt iſt. Die Sitten und Inſtitutionen des Geſchlechtslebens haben ihre eigene Geſchichte und Ur- ſachen; die Vielweiberei iſt überdies meiſt nur eine Einrichtung für die wenigen Reichen, an der das übrige Volk nicht Teil hat; ſie kann auf Weibereinfuhr beruhen oder auf Nichtverehelichung eines Teiles der Ärmeren; im ganzen kommt ſie in den reichen Ländern des Südens am häufigſten vor, wie die Vielmännerei in ganz armen Ländern, wo die Not zur Einſchränkung der Kinderzahl nötigt, und daher mehrere Brüder ſich nur eine Frau halten können. Von den verſchiedenen Formen der Ehe, ihrer hiſtoriſchen Entwickelung, der Größe der Haushalte und ihrer wirtſchaftlichen Bedeutung wird unten in anderem Zuſammen- hange geſprochen werden. Hier haben wir nur im Anſchluß an den natürlichen Gegenſatz der Geſchlechter die überwiegend mit ſtatiſtiſchen Mitteln zu löſende Frage ins Auge zu faſſen, welcher Teil der Bevölkerung das ebenſo natürliche wie durch Sitte und Recht normierte Ziel der Eingehung einer Ehe erreiche, in welchem Alter das geſchehe, welcher Teil der Erwachſenen unverehelicht bleibe, welche Zahl von Ehen jährlich geſchloſſen werden, und mit welchen wirtſchaftlichen Urſachen das zuſammenhänge. Bei den Naturvölkern, zumal den unter ſüdlichem Himmel lebenden, treten alle 15—20 jährigen, mit Ausnahme der Verkrüppelten und Gebrechlichen, in die Ehe. 11*

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/179>, abgerufen am 29.03.2024.