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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Populationisten, Malthus und seine theoretischen Gegner.
bereits, die Grenzen der Bevölkerung lägen in der Ernährungsmöglichkeit. T. R. Malthus
aber stellte sich 1798 unter dem Eindrucke des zunehmenden Proletariats und der
erdrückenden Armenlast auf den pessimistischen Standpunkt und kam zu den bekannten
Sätzen: die Bevölkerung hat die Tendenz, sich unverhältnismäßig, wie alle natürlichen
Organismen, über die Grenzen der bereitliegenden Nahrung hinaus zu vermehren; da,
wo die Hemmnisse gering sind, verdoppelt sie sich in 25 Jahren, sie wächst also in
100 Jahren im Verhältnis von 1 : 16; in 25 Jahren kann unter den günstigsten Ver-
hältnissen der Ertrag der Erde sich verdoppeln, also in 100 Jahren von 1 : 4 zunehmen;
aus diesem Mißverhältnis ergiebt sich, daß die Bevölkerung nur durch zuvorkommende
Hemmnisse, wie moralische Enthaltung, oder durch Laster, Krankheit, Elend aller Art
im Einklange mit der Ernährungsmöglichkeit erhalten werden kann. Diese Sätze fanden
unter den stockenden Erwerbsverhältnissen 1800--1855 weiten Beifall bei den ersten
englischen, französischen und deutschen Staatsmännern und Nationalökonomen. J. St. Mill
vor allem predigte Enthaltsamkeit in der Ehe und die Bildung einer öffentlichen Meinung,
welche das Laster der Trunkenheit und der größeren Kinderzahl gleichstelle.

Das Verdienst von Malthus ist es, daß er mit Nachdruck und wissenschaftlichen
Beweisen den Zusammenhang der Menschenzahl mit der Ernährungsmöglichkeit betont
und die vorhandenen Grenzen der letzteren erläutert hat; aber seine Zahlenformeln sind
falsch, und er stellt die sicher vorhandene Vermehrungstendenz zu sehr als natürliche,
absolute, stets vorhandene hin, unterscheidet nicht genug die verschiedenen Wirtschafts-
zustände und Möglichkeiten des Unterhaltes und des Ausweges; er sieht, wie viele seiner
pessimistischen Anhänger, auch Zustände als Übervölkerung an, die mehr Folge von
schlechter Einrichtung der Produktion und Verteilung der Güter, von technischer Rück-
ständigkeit als zu großer Menschenzahl sind.

Praktisch hatte die Malthussche Theorie die Folge, daß in vielen Staaten 1815
bis 1855 mancherlei die Zunahme hemmende Gesetze über Eheschließung, Niederlassung,
Gewerbebetrieb, Schaffung neuer Ackerstellen erlassen wurden. Aber ihr Erfolg war doch
im ganzen gering. Die Fortschritte der Technik und des Verkehrs wirkten in entgegen-
gesetztem Sinne, und die längst einsetzende liberale Gesetzgebung, welche nun von 1850
an überall definitiv die alten Schranken der Ehe, der Niederlassung, des Wanderns, der
Gewerbe beseitigte, wirkte auf eine außerordentliche Beschleunigung der Zunahme: der
Optimismus der Zeit setzte sich in entsprechende gern geglaubte Theorien um.

Das liberale Manchestertum nahm an, daß zwischen Bevölkerungs- und Wirtschafts-
fortschritt wie überall an sich Harmonie sein müsse oder erklärte es ohne Rücksicht auf
die irdischen Raum- und Güterschranken, jeder Mensch mit gesunden Armen könne so
viel produzieren wie er brauche; oder es jubelte über die Kapitalanhäufung, die schneller
gehe als die Menschenzunahme, als ob die oft ins Ausland gehende, oft für Kriege
verbrauchte Kapitalmenge allein stets ausreiche, für mehr Menschen Nahrung, Absatz,
richtige Organisation zu schaffen. Physiologische Optimisten von H. Spencer bis Bebel
stützten sich auf die Abnahme der Zeugungskraft, welche der Zunahme der Geistesthätig-
keit entspreche, ohne Beweise für die Gegenwart zu erbringen. Manche Socialisten unter
der Führung von Sismondi fanden die Quelle alles Übels in der ungleichen Einkommens-
verteilung; und gewiß kann eine gleichmäßigere Verteilung zu einer anderen Richtung
aller Produktion Anlaß geben und eine vermehrte Möglichkeit des Lebens für etwas
mehr Menschen schaffen; aber allzuviel macht das nicht aus; und Vorzugsportionen für
die höher Stehenden sind nie ganz zu beseitigen. Andere Socialisten träumen von
technischen Fortschritten, welche an das Schlaraffenland erinnern, oder erklären, ohne
geographische und landwirtschaftliche Kenntnisse, wie Engels, es gäbe keine Übervölkerung,
da erst ein Drittel der Erde angebaut, und die Produktion auf das Sechsfache gesteigert
werden könne. Wieder andere, wie Marx, erklären, die heutige überrasche Bevölkerungs-
zunahme sei der notwendige Ausdruck der kapitalistischen Epoche; für die Zeit des
socialistischen Staates hoffen sie kindlich auf harmonische Selbstregulierung.

Die empirische Wissenschaft und die vernünftige Praxis tröstete sich zunächst mit
der Aushülfe von Auswanderung und Kolonisation und der möglichen Verdichtung der

Die Populationiſten, Malthus und ſeine theoretiſchen Gegner.
bereits, die Grenzen der Bevölkerung lägen in der Ernährungsmöglichkeit. T. R. Malthus
aber ſtellte ſich 1798 unter dem Eindrucke des zunehmenden Proletariats und der
erdrückenden Armenlaſt auf den peſſimiſtiſchen Standpunkt und kam zu den bekannten
Sätzen: die Bevölkerung hat die Tendenz, ſich unverhältnismäßig, wie alle natürlichen
Organismen, über die Grenzen der bereitliegenden Nahrung hinaus zu vermehren; da,
wo die Hemmniſſe gering ſind, verdoppelt ſie ſich in 25 Jahren, ſie wächſt alſo in
100 Jahren im Verhältnis von 1 : 16; in 25 Jahren kann unter den günſtigſten Ver-
hältniſſen der Ertrag der Erde ſich verdoppeln, alſo in 100 Jahren von 1 : 4 zunehmen;
aus dieſem Mißverhältnis ergiebt ſich, daß die Bevölkerung nur durch zuvorkommende
Hemmniſſe, wie moraliſche Enthaltung, oder durch Laſter, Krankheit, Elend aller Art
im Einklange mit der Ernährungsmöglichkeit erhalten werden kann. Dieſe Sätze fanden
unter den ſtockenden Erwerbsverhältniſſen 1800—1855 weiten Beifall bei den erſten
engliſchen, franzöſiſchen und deutſchen Staatsmännern und Nationalökonomen. J. St. Mill
vor allem predigte Enthaltſamkeit in der Ehe und die Bildung einer öffentlichen Meinung,
welche das Laſter der Trunkenheit und der größeren Kinderzahl gleichſtelle.

Das Verdienſt von Malthus iſt es, daß er mit Nachdruck und wiſſenſchaftlichen
Beweiſen den Zuſammenhang der Menſchenzahl mit der Ernährungsmöglichkeit betont
und die vorhandenen Grenzen der letzteren erläutert hat; aber ſeine Zahlenformeln ſind
falſch, und er ſtellt die ſicher vorhandene Vermehrungstendenz zu ſehr als natürliche,
abſolute, ſtets vorhandene hin, unterſcheidet nicht genug die verſchiedenen Wirtſchafts-
zuſtände und Möglichkeiten des Unterhaltes und des Ausweges; er ſieht, wie viele ſeiner
peſſimiſtiſchen Anhänger, auch Zuſtände als Übervölkerung an, die mehr Folge von
ſchlechter Einrichtung der Produktion und Verteilung der Güter, von techniſcher Rück-
ſtändigkeit als zu großer Menſchenzahl ſind.

Praktiſch hatte die Malthusſche Theorie die Folge, daß in vielen Staaten 1815
bis 1855 mancherlei die Zunahme hemmende Geſetze über Eheſchließung, Niederlaſſung,
Gewerbebetrieb, Schaffung neuer Ackerſtellen erlaſſen wurden. Aber ihr Erfolg war doch
im ganzen gering. Die Fortſchritte der Technik und des Verkehrs wirkten in entgegen-
geſetztem Sinne, und die längſt einſetzende liberale Geſetzgebung, welche nun von 1850
an überall definitiv die alten Schranken der Ehe, der Niederlaſſung, des Wanderns, der
Gewerbe beſeitigte, wirkte auf eine außerordentliche Beſchleunigung der Zunahme: der
Optimismus der Zeit ſetzte ſich in entſprechende gern geglaubte Theorien um.

Das liberale Mancheſtertum nahm an, daß zwiſchen Bevölkerungs- und Wirtſchafts-
fortſchritt wie überall an ſich Harmonie ſein müſſe oder erklärte es ohne Rückſicht auf
die irdiſchen Raum- und Güterſchranken, jeder Menſch mit geſunden Armen könne ſo
viel produzieren wie er brauche; oder es jubelte über die Kapitalanhäufung, die ſchneller
gehe als die Menſchenzunahme, als ob die oft ins Ausland gehende, oft für Kriege
verbrauchte Kapitalmenge allein ſtets ausreiche, für mehr Menſchen Nahrung, Abſatz,
richtige Organiſation zu ſchaffen. Phyſiologiſche Optimiſten von H. Spencer bis Bebel
ſtützten ſich auf die Abnahme der Zeugungskraft, welche der Zunahme der Geiſtesthätig-
keit entſpreche, ohne Beweiſe für die Gegenwart zu erbringen. Manche Socialiſten unter
der Führung von Sismondi fanden die Quelle alles Übels in der ungleichen Einkommens-
verteilung; und gewiß kann eine gleichmäßigere Verteilung zu einer anderen Richtung
aller Produktion Anlaß geben und eine vermehrte Möglichkeit des Lebens für etwas
mehr Menſchen ſchaffen; aber allzuviel macht das nicht aus; und Vorzugsportionen für
die höher Stehenden ſind nie ganz zu beſeitigen. Andere Socialiſten träumen von
techniſchen Fortſchritten, welche an das Schlaraffenland erinnern, oder erklären, ohne
geographiſche und landwirtſchaftliche Kenntniſſe, wie Engels, es gäbe keine Übervölkerung,
da erſt ein Drittel der Erde angebaut, und die Produktion auf das Sechsfache geſteigert
werden könne. Wieder andere, wie Marx, erklären, die heutige überraſche Bevölkerungs-
zunahme ſei der notwendige Ausdruck der kapitaliſtiſchen Epoche; für die Zeit des
ſocialiſtiſchen Staates hoffen ſie kindlich auf harmoniſche Selbſtregulierung.

Die empiriſche Wiſſenſchaft und die vernünftige Praxis tröſtete ſich zunächſt mit
der Aushülfe von Auswanderung und Koloniſation und der möglichen Verdichtung der

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[175/0191] Die Populationiſten, Malthus und ſeine theoretiſchen Gegner. bereits, die Grenzen der Bevölkerung lägen in der Ernährungsmöglichkeit. T. R. Malthus aber ſtellte ſich 1798 unter dem Eindrucke des zunehmenden Proletariats und der erdrückenden Armenlaſt auf den peſſimiſtiſchen Standpunkt und kam zu den bekannten Sätzen: die Bevölkerung hat die Tendenz, ſich unverhältnismäßig, wie alle natürlichen Organismen, über die Grenzen der bereitliegenden Nahrung hinaus zu vermehren; da, wo die Hemmniſſe gering ſind, verdoppelt ſie ſich in 25 Jahren, ſie wächſt alſo in 100 Jahren im Verhältnis von 1 : 16; in 25 Jahren kann unter den günſtigſten Ver- hältniſſen der Ertrag der Erde ſich verdoppeln, alſo in 100 Jahren von 1 : 4 zunehmen; aus dieſem Mißverhältnis ergiebt ſich, daß die Bevölkerung nur durch zuvorkommende Hemmniſſe, wie moraliſche Enthaltung, oder durch Laſter, Krankheit, Elend aller Art im Einklange mit der Ernährungsmöglichkeit erhalten werden kann. Dieſe Sätze fanden unter den ſtockenden Erwerbsverhältniſſen 1800—1855 weiten Beifall bei den erſten engliſchen, franzöſiſchen und deutſchen Staatsmännern und Nationalökonomen. J. St. Mill vor allem predigte Enthaltſamkeit in der Ehe und die Bildung einer öffentlichen Meinung, welche das Laſter der Trunkenheit und der größeren Kinderzahl gleichſtelle. Das Verdienſt von Malthus iſt es, daß er mit Nachdruck und wiſſenſchaftlichen Beweiſen den Zuſammenhang der Menſchenzahl mit der Ernährungsmöglichkeit betont und die vorhandenen Grenzen der letzteren erläutert hat; aber ſeine Zahlenformeln ſind falſch, und er ſtellt die ſicher vorhandene Vermehrungstendenz zu ſehr als natürliche, abſolute, ſtets vorhandene hin, unterſcheidet nicht genug die verſchiedenen Wirtſchafts- zuſtände und Möglichkeiten des Unterhaltes und des Ausweges; er ſieht, wie viele ſeiner peſſimiſtiſchen Anhänger, auch Zuſtände als Übervölkerung an, die mehr Folge von ſchlechter Einrichtung der Produktion und Verteilung der Güter, von techniſcher Rück- ſtändigkeit als zu großer Menſchenzahl ſind. Praktiſch hatte die Malthusſche Theorie die Folge, daß in vielen Staaten 1815 bis 1855 mancherlei die Zunahme hemmende Geſetze über Eheſchließung, Niederlaſſung, Gewerbebetrieb, Schaffung neuer Ackerſtellen erlaſſen wurden. Aber ihr Erfolg war doch im ganzen gering. Die Fortſchritte der Technik und des Verkehrs wirkten in entgegen- geſetztem Sinne, und die längſt einſetzende liberale Geſetzgebung, welche nun von 1850 an überall definitiv die alten Schranken der Ehe, der Niederlaſſung, des Wanderns, der Gewerbe beſeitigte, wirkte auf eine außerordentliche Beſchleunigung der Zunahme: der Optimismus der Zeit ſetzte ſich in entſprechende gern geglaubte Theorien um. Das liberale Mancheſtertum nahm an, daß zwiſchen Bevölkerungs- und Wirtſchafts- fortſchritt wie überall an ſich Harmonie ſein müſſe oder erklärte es ohne Rückſicht auf die irdiſchen Raum- und Güterſchranken, jeder Menſch mit geſunden Armen könne ſo viel produzieren wie er brauche; oder es jubelte über die Kapitalanhäufung, die ſchneller gehe als die Menſchenzunahme, als ob die oft ins Ausland gehende, oft für Kriege verbrauchte Kapitalmenge allein ſtets ausreiche, für mehr Menſchen Nahrung, Abſatz, richtige Organiſation zu ſchaffen. Phyſiologiſche Optimiſten von H. Spencer bis Bebel ſtützten ſich auf die Abnahme der Zeugungskraft, welche der Zunahme der Geiſtesthätig- keit entſpreche, ohne Beweiſe für die Gegenwart zu erbringen. Manche Socialiſten unter der Führung von Sismondi fanden die Quelle alles Übels in der ungleichen Einkommens- verteilung; und gewiß kann eine gleichmäßigere Verteilung zu einer anderen Richtung aller Produktion Anlaß geben und eine vermehrte Möglichkeit des Lebens für etwas mehr Menſchen ſchaffen; aber allzuviel macht das nicht aus; und Vorzugsportionen für die höher Stehenden ſind nie ganz zu beſeitigen. Andere Socialiſten träumen von techniſchen Fortſchritten, welche an das Schlaraffenland erinnern, oder erklären, ohne geographiſche und landwirtſchaftliche Kenntniſſe, wie Engels, es gäbe keine Übervölkerung, da erſt ein Drittel der Erde angebaut, und die Produktion auf das Sechsfache geſteigert werden könne. Wieder andere, wie Marx, erklären, die heutige überraſche Bevölkerungs- zunahme ſei der notwendige Ausdruck der kapitaliſtiſchen Epoche; für die Zeit des ſocialiſtiſchen Staates hoffen ſie kindlich auf harmoniſche Selbſtregulierung. Die empiriſche Wiſſenſchaft und die vernünftige Praxis tröſtete ſich zunächſt mit der Aushülfe von Auswanderung und Koloniſation und der möglichen Verdichtung der

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/191>, abgerufen am 19.04.2024.