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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
Bevölkerung auf Grund der technischen Fortschritte. Aber beide mußten zugeben, daß die
Pessimisten nicht ganz Unrecht haben mit dem Hinweis auf dunkle Punkte, die mit unserer
heutigen volkswirtschaftlichen und socialen Organisation zusammenhängen: die steigende
Ehe- und Kinderlosigkeit der oberen Klassen unter starker Zunahme des außerehelichen
Geschlechtsverkehrs und der Prostitution, die Verspätung der Eheschließung im Mittel-
stande, die proletarisch große Vermehrung der unteren Klassen mit überfrüher, leicht-
sinniger Eheschließung und erheblicher Kindersterblichkeit sind sehr bedenkliche Symptome.
Und daß gegen sie die bloße Empfehlung verspäteter Ehe und die Enthaltung des Ge-
schlechtsverkehrs in der Ehe, vollends in der des Arbeiters, wie sie von Malthus und
J. St. Mill ausgingen, nichts nützen, ist klar. Andere Sitten der unteren und der
höheren Klassen in Bezug auf die Eheschließung und Kinderzeugung können nur im
Zusammenhang mit veränderter Lebensauffassung und -führung, mit veredelten Institu-
tionen entstehen, nicht durch billige Ratschläge an die Armen herbeigeführt werden.

Das große Problem, die Bevölkerung stets wieder in Einklang zu stellen mit den
wirtschaftlichen Lebensbedingungen, steht daher trotz der großen Auswege, die wir im
folgenden betrachten, auch heute noch, und jetzt wieder mehr als zur Zeit des unbedingten
Optimismus, vor uns. Wir werden sehen, daß zuletzt nur die sittliche Zucht und die
richtige Ausbildung unserer Institutionen uns helfen kann.

Es ist eine neuere, halbpraktische, halbtheoretische Richtung von Ärzten, edlen
Schwärmern und klugen Genußmenschen, welche glaubt, viel einfacher helfen zu können:
der seit 25 Jahren ausgebildete Neumalthusianismus. Er verlangt frühe Ehen mit
beabsichtigter Beschränkung der Kinderzeugung, soweit sie 2--3 Kinder überschreitet --
die Sitte des Zweikindersystems, welche in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und
auch schon in manchen anderen Ländern die höheren Gesellschaftskreise und die Bauern,
teilweise sogar schon weitere Kreise ergriffen hat. Man hat früher solche Vorschläge als
unsittlich und strafbar angesehen und sie strafrechtlich verfolgt, sie als Eingriffe in die
göttliche Schicksalslenkung verurteilt. Das geht zu weit. Menschliche Voraussicht und
planmäßiges Handeln muß, wie überall, so auch hier erlaubt sein; wo 20--40 % der
Neugeborenen in den ersten Jahren wieder sterben, ist die Verhinderung ihrer Geburt und
ihres Todes mindestens der geringere Fehler. Für bestimmte Fälle muß aus medizinischen
und moralischen Gründen Derartiges erlaubt sein. Aber die allgemeine Verbreitung der
hiefür nötigen Kenntnisse und Praktiken hat zunächst andere Schattenseiten ernstester
Art. Sie erleichtert zugleich jede Art von geschlechtlicher Unsittlichkeit, und sie fördert
den Egoismus, die Bequemlichkeit, die Genußsucht der Eltern, sie vermindert leicht
jene höchste Elterntugend, die erschöpfende Aufopferung für die Kinder, sowie die größte
Anstrengung der ganzen Nation für ihre Zukunft. Vielleicht ist in künftigen Zeiten
höherer moralischer Ausbildung des Menschengeschlechtes es denkbar, daß diese Schäden
nicht oder in geringem Maße eintreten; vielleicht ist, wenn die ganze Erde statt 1500
6000--12000 Mill. Menschen trägt, kein anderer Ausweg möglich; zunächst betreten
ihn allgemeiner nur die alternden, absterbenden Rassen, Völker und Klassen; die jugendlich
kräftigen und aufwärtssteigenden vermeiden in der Hauptsache noch mit Recht das Zwei-
kindersystem, weil sie noch an ihre eigene Ausbreitungsfähigkeit nach außen und an ihre
Verdichtung im Innern glauben.

74. Das Bevölkerungsproblem und die Wege seiner Lösung:
b) die Ausbreitung nach außen, Eroberungen, Kolonisationen,
Wanderungen
. Wir sahen, daß die heutige Bevölkerungsbewegung durch die Wan-
derungen zeit- und stellenweise stark beeinflußt wird. Wir haben oben erwähnt, daß
die Entstehung der Tier- und Pflanzenarten sowie der Menschenrassen auf Wanderprozesse
zurückgeführt wird. Wir wissen, daß die Menschheit größere Zeiträume der unsteten
Wanderung als der Seßhaftigkeit hinter sich hat, daß ihre Ausbreitung wie die der
wichtigsten Kulturerrungenschaften, Einrichtungen, Religionen und Sitten, die Aus-
breitung des Geldes, der Schrift, des Handels über die Erde auf Wanderungen beruht.
Moritz Wagner sagt: die Migrationstheorie ist die fundamentale Theorie der Welt-
geschichte. --

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Bevölkerung auf Grund der techniſchen Fortſchritte. Aber beide mußten zugeben, daß die
Peſſimiſten nicht ganz Unrecht haben mit dem Hinweis auf dunkle Punkte, die mit unſerer
heutigen volkswirtſchaftlichen und ſocialen Organiſation zuſammenhängen: die ſteigende
Ehe- und Kinderloſigkeit der oberen Klaſſen unter ſtarker Zunahme des außerehelichen
Geſchlechtsverkehrs und der Proſtitution, die Verſpätung der Eheſchließung im Mittel-
ſtande, die proletariſch große Vermehrung der unteren Klaſſen mit überfrüher, leicht-
ſinniger Eheſchließung und erheblicher Kinderſterblichkeit ſind ſehr bedenkliche Symptome.
Und daß gegen ſie die bloße Empfehlung verſpäteter Ehe und die Enthaltung des Ge-
ſchlechtsverkehrs in der Ehe, vollends in der des Arbeiters, wie ſie von Malthus und
J. St. Mill ausgingen, nichts nützen, iſt klar. Andere Sitten der unteren und der
höheren Klaſſen in Bezug auf die Eheſchließung und Kinderzeugung können nur im
Zuſammenhang mit veränderter Lebensauffaſſung und -führung, mit veredelten Inſtitu-
tionen entſtehen, nicht durch billige Ratſchläge an die Armen herbeigeführt werden.

Das große Problem, die Bevölkerung ſtets wieder in Einklang zu ſtellen mit den
wirtſchaftlichen Lebensbedingungen, ſteht daher trotz der großen Auswege, die wir im
folgenden betrachten, auch heute noch, und jetzt wieder mehr als zur Zeit des unbedingten
Optimismus, vor uns. Wir werden ſehen, daß zuletzt nur die ſittliche Zucht und die
richtige Ausbildung unſerer Inſtitutionen uns helfen kann.

Es iſt eine neuere, halbpraktiſche, halbtheoretiſche Richtung von Ärzten, edlen
Schwärmern und klugen Genußmenſchen, welche glaubt, viel einfacher helfen zu können:
der ſeit 25 Jahren ausgebildete Neumalthuſianismus. Er verlangt frühe Ehen mit
beabſichtigter Beſchränkung der Kinderzeugung, ſoweit ſie 2—3 Kinder überſchreitet —
die Sitte des Zweikinderſyſtems, welche in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und
auch ſchon in manchen anderen Ländern die höheren Geſellſchaftskreiſe und die Bauern,
teilweiſe ſogar ſchon weitere Kreiſe ergriffen hat. Man hat früher ſolche Vorſchläge als
unſittlich und ſtrafbar angeſehen und ſie ſtrafrechtlich verfolgt, ſie als Eingriffe in die
göttliche Schickſalslenkung verurteilt. Das geht zu weit. Menſchliche Vorausſicht und
planmäßiges Handeln muß, wie überall, ſo auch hier erlaubt ſein; wo 20—40 % der
Neugeborenen in den erſten Jahren wieder ſterben, iſt die Verhinderung ihrer Geburt und
ihres Todes mindeſtens der geringere Fehler. Für beſtimmte Fälle muß aus mediziniſchen
und moraliſchen Gründen Derartiges erlaubt ſein. Aber die allgemeine Verbreitung der
hiefür nötigen Kenntniſſe und Praktiken hat zunächſt andere Schattenſeiten ernſteſter
Art. Sie erleichtert zugleich jede Art von geſchlechtlicher Unſittlichkeit, und ſie fördert
den Egoismus, die Bequemlichkeit, die Genußſucht der Eltern, ſie vermindert leicht
jene höchſte Elterntugend, die erſchöpfende Aufopferung für die Kinder, ſowie die größte
Anſtrengung der ganzen Nation für ihre Zukunft. Vielleicht iſt in künftigen Zeiten
höherer moraliſcher Ausbildung des Menſchengeſchlechtes es denkbar, daß dieſe Schäden
nicht oder in geringem Maße eintreten; vielleicht iſt, wenn die ganze Erde ſtatt 1500
6000—12000 Mill. Menſchen trägt, kein anderer Ausweg möglich; zunächſt betreten
ihn allgemeiner nur die alternden, abſterbenden Raſſen, Völker und Klaſſen; die jugendlich
kräftigen und aufwärtsſteigenden vermeiden in der Hauptſache noch mit Recht das Zwei-
kinderſyſtem, weil ſie noch an ihre eigene Ausbreitungsfähigkeit nach außen und an ihre
Verdichtung im Innern glauben.

74. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung:
b) die Ausbreitung nach außen, Eroberungen, Koloniſationen,
Wanderungen
. Wir ſahen, daß die heutige Bevölkerungsbewegung durch die Wan-
derungen zeit- und ſtellenweiſe ſtark beeinflußt wird. Wir haben oben erwähnt, daß
die Entſtehung der Tier- und Pflanzenarten ſowie der Menſchenraſſen auf Wanderprozeſſe
zurückgeführt wird. Wir wiſſen, daß die Menſchheit größere Zeiträume der unſteten
Wanderung als der Seßhaftigkeit hinter ſich hat, daß ihre Ausbreitung wie die der
wichtigſten Kulturerrungenſchaften, Einrichtungen, Religionen und Sitten, die Aus-
breitung des Geldes, der Schrift, des Handels über die Erde auf Wanderungen beruht.
Moritz Wagner ſagt: die Migrationstheorie iſt die fundamentale Theorie der Welt-
geſchichte. —

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[176/0192] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Bevölkerung auf Grund der techniſchen Fortſchritte. Aber beide mußten zugeben, daß die Peſſimiſten nicht ganz Unrecht haben mit dem Hinweis auf dunkle Punkte, die mit unſerer heutigen volkswirtſchaftlichen und ſocialen Organiſation zuſammenhängen: die ſteigende Ehe- und Kinderloſigkeit der oberen Klaſſen unter ſtarker Zunahme des außerehelichen Geſchlechtsverkehrs und der Proſtitution, die Verſpätung der Eheſchließung im Mittel- ſtande, die proletariſch große Vermehrung der unteren Klaſſen mit überfrüher, leicht- ſinniger Eheſchließung und erheblicher Kinderſterblichkeit ſind ſehr bedenkliche Symptome. Und daß gegen ſie die bloße Empfehlung verſpäteter Ehe und die Enthaltung des Ge- ſchlechtsverkehrs in der Ehe, vollends in der des Arbeiters, wie ſie von Malthus und J. St. Mill ausgingen, nichts nützen, iſt klar. Andere Sitten der unteren und der höheren Klaſſen in Bezug auf die Eheſchließung und Kinderzeugung können nur im Zuſammenhang mit veränderter Lebensauffaſſung und -führung, mit veredelten Inſtitu- tionen entſtehen, nicht durch billige Ratſchläge an die Armen herbeigeführt werden. Das große Problem, die Bevölkerung ſtets wieder in Einklang zu ſtellen mit den wirtſchaftlichen Lebensbedingungen, ſteht daher trotz der großen Auswege, die wir im folgenden betrachten, auch heute noch, und jetzt wieder mehr als zur Zeit des unbedingten Optimismus, vor uns. Wir werden ſehen, daß zuletzt nur die ſittliche Zucht und die richtige Ausbildung unſerer Inſtitutionen uns helfen kann. Es iſt eine neuere, halbpraktiſche, halbtheoretiſche Richtung von Ärzten, edlen Schwärmern und klugen Genußmenſchen, welche glaubt, viel einfacher helfen zu können: der ſeit 25 Jahren ausgebildete Neumalthuſianismus. Er verlangt frühe Ehen mit beabſichtigter Beſchränkung der Kinderzeugung, ſoweit ſie 2—3 Kinder überſchreitet — die Sitte des Zweikinderſyſtems, welche in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und auch ſchon in manchen anderen Ländern die höheren Geſellſchaftskreiſe und die Bauern, teilweiſe ſogar ſchon weitere Kreiſe ergriffen hat. Man hat früher ſolche Vorſchläge als unſittlich und ſtrafbar angeſehen und ſie ſtrafrechtlich verfolgt, ſie als Eingriffe in die göttliche Schickſalslenkung verurteilt. Das geht zu weit. Menſchliche Vorausſicht und planmäßiges Handeln muß, wie überall, ſo auch hier erlaubt ſein; wo 20—40 % der Neugeborenen in den erſten Jahren wieder ſterben, iſt die Verhinderung ihrer Geburt und ihres Todes mindeſtens der geringere Fehler. Für beſtimmte Fälle muß aus mediziniſchen und moraliſchen Gründen Derartiges erlaubt ſein. Aber die allgemeine Verbreitung der hiefür nötigen Kenntniſſe und Praktiken hat zunächſt andere Schattenſeiten ernſteſter Art. Sie erleichtert zugleich jede Art von geſchlechtlicher Unſittlichkeit, und ſie fördert den Egoismus, die Bequemlichkeit, die Genußſucht der Eltern, ſie vermindert leicht jene höchſte Elterntugend, die erſchöpfende Aufopferung für die Kinder, ſowie die größte Anſtrengung der ganzen Nation für ihre Zukunft. Vielleicht iſt in künftigen Zeiten höherer moraliſcher Ausbildung des Menſchengeſchlechtes es denkbar, daß dieſe Schäden nicht oder in geringem Maße eintreten; vielleicht iſt, wenn die ganze Erde ſtatt 1500 6000—12000 Mill. Menſchen trägt, kein anderer Ausweg möglich; zunächſt betreten ihn allgemeiner nur die alternden, abſterbenden Raſſen, Völker und Klaſſen; die jugendlich kräftigen und aufwärtsſteigenden vermeiden in der Hauptſache noch mit Recht das Zwei- kinderſyſtem, weil ſie noch an ihre eigene Ausbreitungsfähigkeit nach außen und an ihre Verdichtung im Innern glauben. 74. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung: b) die Ausbreitung nach außen, Eroberungen, Koloniſationen, Wanderungen. Wir ſahen, daß die heutige Bevölkerungsbewegung durch die Wan- derungen zeit- und ſtellenweiſe ſtark beeinflußt wird. Wir haben oben erwähnt, daß die Entſtehung der Tier- und Pflanzenarten ſowie der Menſchenraſſen auf Wanderprozeſſe zurückgeführt wird. Wir wiſſen, daß die Menſchheit größere Zeiträume der unſteten Wanderung als der Seßhaftigkeit hinter ſich hat, daß ihre Ausbreitung wie die der wichtigſten Kulturerrungenſchaften, Einrichtungen, Religionen und Sitten, die Aus- breitung des Geldes, der Schrift, des Handels über die Erde auf Wanderungen beruht. Moritz Wagner ſagt: die Migrationstheorie iſt die fundamentale Theorie der Welt- geſchichte. —

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/192>, abgerufen am 29.03.2024.