Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
bleibt, ahmt er bewußt oder unbewußt täglich und stündlich Unzähliges nach. Wie
der Hypnotiseur sein Medium, so zwingen überall die führenden Menschen die Masse
in ihren Bannkreis, und tauschen alle sich Berührenden ihre Gefühle und Gepflogenheiten
unwillkürlich aus. So konnte Tarde sagen: eine Gesellschaft ist eine Gruppe von Wesen,
die sich untereinander nachahmen, oder die ähnliche Nachkommen solcher Wesen sind, die
sich früher nachgeahmt haben.

Die ununterbrochene und unwiderstehliche, psychische Wechselwirkung und Suggestion
aller sich Berührenden stellt den verbindenden Strom dar, der gemeinsame Gefühle,
Verständigung, Ineinanderpassung, sowie Abschließung gegen außen herbeiführt. Aber
dieser Strom wäre ewig schwach geblieben, wenn er nicht durch die Sprache, die Schrift,
die Vervielfältigung derselben, sowie durch die Methoden ihrer Verbreitung und Benutzung
eine Kraft erhalten hätte, welche sich zu der wortlosen Verständigung und Wechselwirkung
verhält, wie die heutigen starken elektrischen Induktionsströme zu den schwachen galva-
nischen Strömen.

2. Die psychophysischen Mittel menschlicher Verständigung: Sprache und Schrift.
Herder, Über den Ursprung der Sprache. 1772. -- Jakob Grimm, Über den Ursprung
der Sprache, Kleine Schriften 1, 1864. --
Lazarus, Geist und Sprache, Leben der Seele. 2, 1857. --
Steinthal, Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens. 1877.
Steinthal, Die Entwickelung der Schrift. 1852. --
Wuttke, Geschichte der Schrift und
des Schrifttums. 1872. --
Faulmann, Illustrierte Geschichte der Schrift. 1880. -- Kirchhoff,
Die Handschriftenhändler des Mittelalters. 1853. --
Wattenbach, Das Schriftwesen des Mittel-
alters. 1871. --
Treutlin, Geschichte unserer Zahlzeichen. 1875.
Falkenstein, Geschichte der Buchdruckerei. 1840. --
Kirchhoff, Beiträge zur Geschichte des
deutschen Buchhandels. 1851--53. Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels. --
Buchner,
Beiträge zur Geschichte des deutschen Buchhandels. 1874. --
Jul. Duboc, Geschichte der englischen
Presse. 1873. --
Wuttke, Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. 1875.
Karl v. Raumer, Geschichte der Pädagogik seit dem Wiederaufblühen klass. Studien bis auf
unsere Zeit. 5. Aufl. 1877 ff. --
Karl Schmidt, Geschichte der Pädagogik. 3. Aufl. 1873--76. --
Sander, Lexikon der Pädagogik. 1883.
Edwards, Memoris of libraries. 1859. 2. Bde. --
Ders., Libraries and founders of
libraries
. 1865.

5. Die Sprache. Die Sprachbildung ist Gesellschaftsbildung, die Sprachlaute
sind Verständigungslaute. Man hat beobachtet, daß gewisse Tiere bis zu 10, 12, ja
20 verschiedene Töne haben, deren jeder den Genossen eine andere Stimmung andeutet.
Der gemeine Mann soll selbst mitten in der heutigen, aufgeklärten Gesellschaft nicht über
300 Worte gebrauchen, während der Gebildete es bis zu 100000 und mehr bringt.
In diesen Zahlen drückt sich wenigstens einigermaßen die steigende Fähigkeit zur Ver-
gesellschaftung aus.

Die Entstehung der Sprache ist eine Seite an dem Vernünftigwerden des Menschen.
Die Anschauungen und Vorstellungen werden erst in wenigen, dann in mehreren Lauten
und Worten vergegenständlicht. Der Mensch will sich dem Menschen verständlich machen;
wie wir schon sahen, wirken Gebärden, Gefühle und Leidenschaften ansteckend; was
den einen erfüllt, klingt sympathisch beim anderen an. Das Fühlen, Vorstellen und
Denken kommt durch das Zusammensein mit anderen in Fluß, und so entstehen durch
die Gesellschaft und durch die sympathischen Gefühle die Verständigungslaute und mit
ihr die fixierten Vorstellungen und Begriffe, das Denken selbst. Alle Erweiterung fester
Beobachtung, alle umfassende Klassifikation der Erscheinungen, alle Anhäufung der
Erfahrung, alle Entstehung allgemeiner Urteile und das Weiterschließen daraus hängt
an der Ausbildung fester Lautzeichen. Die Autorität des Vaters, des Häuptlings
wirkt mit, das lose, eben erst entstehende Band, das im verstandenen Worte liegt, etwas
fester zu ziehen. Es entsteht mit der Sprache und dem Denken das gesellschaftliche
Bewußtsein.

Freilich zunächst nur in wenig fester Form. Die Ursprachen umfassen kleine
Gruppen von Menschen. Je niedriger die Kultur, desto zahlreichere verschiedene Sprachen

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
bleibt, ahmt er bewußt oder unbewußt täglich und ſtündlich Unzähliges nach. Wie
der Hypnotiſeur ſein Medium, ſo zwingen überall die führenden Menſchen die Maſſe
in ihren Bannkreis, und tauſchen alle ſich Berührenden ihre Gefühle und Gepflogenheiten
unwillkürlich aus. So konnte Tarde ſagen: eine Geſellſchaft iſt eine Gruppe von Weſen,
die ſich untereinander nachahmen, oder die ähnliche Nachkommen ſolcher Weſen ſind, die
ſich früher nachgeahmt haben.

Die ununterbrochene und unwiderſtehliche, pſychiſche Wechſelwirkung und Suggeſtion
aller ſich Berührenden ſtellt den verbindenden Strom dar, der gemeinſame Gefühle,
Verſtändigung, Ineinanderpaſſung, ſowie Abſchließung gegen außen herbeiführt. Aber
dieſer Strom wäre ewig ſchwach geblieben, wenn er nicht durch die Sprache, die Schrift,
die Vervielfältigung derſelben, ſowie durch die Methoden ihrer Verbreitung und Benutzung
eine Kraft erhalten hätte, welche ſich zu der wortloſen Verſtändigung und Wechſelwirkung
verhält, wie die heutigen ſtarken elektriſchen Induktionsſtröme zu den ſchwachen galva-
niſchen Strömen.

2. Die pſychophyſiſchen Mittel menſchlicher Verſtändigung: Sprache und Schrift.
Herder, Über den Urſprung der Sprache. 1772. — Jakob Grimm, Über den Urſprung
der Sprache, Kleine Schriften 1, 1864. —
Lazarus, Geiſt und Sprache, Leben der Seele. 2, 1857. —
Steinthal, Der Urſprung der Sprache im Zuſammenhang mit den letzten Fragen alles Wiſſens. 1877.
Steinthal, Die Entwickelung der Schrift. 1852. —
Wuttke, Geſchichte der Schrift und
des Schrifttums. 1872. —
Faulmann, Illuſtrierte Geſchichte der Schrift. 1880. — Kirchhoff,
Die Handſchriftenhändler des Mittelalters. 1853. —
Wattenbach, Das Schriftweſen des Mittel-
alters. 1871. —
Treutlin, Geſchichte unſerer Zahlzeichen. 1875.
Falkenſtein, Geſchichte der Buchdruckerei. 1840. —
Kirchhoff, Beiträge zur Geſchichte des
deutſchen Buchhandels. 1851—53. Archiv für Geſchichte des deutſchen Buchhandels. —
Buchner,
Beiträge zur Geſchichte des deutſchen Buchhandels. 1874. —
Jul. Duboc, Geſchichte der engliſchen
Preſſe. 1873. —
Wuttke, Die deutſchen Zeitſchriften und die Entſtehung der öffentlichen Meinung. 1875.
Karl v. Raumer, Geſchichte der Pädagogik ſeit dem Wiederaufblühen klaſſ. Studien bis auf
unſere Zeit. 5. Aufl. 1877 ff. —
Karl Schmidt, Geſchichte der Pädagogik. 3. Aufl. 1873—76. —
Sander, Lexikon der Pädagogik. 1883.
Edwards, Memoris of libraries. 1859. 2. Bde. —
Derſ., Libraries and founders of
libraries
. 1865.

5. Die Sprache. Die Sprachbildung iſt Geſellſchaftsbildung, die Sprachlaute
ſind Verſtändigungslaute. Man hat beobachtet, daß gewiſſe Tiere bis zu 10, 12, ja
20 verſchiedene Töne haben, deren jeder den Genoſſen eine andere Stimmung andeutet.
Der gemeine Mann ſoll ſelbſt mitten in der heutigen, aufgeklärten Geſellſchaft nicht über
300 Worte gebrauchen, während der Gebildete es bis zu 100000 und mehr bringt.
In dieſen Zahlen drückt ſich wenigſtens einigermaßen die ſteigende Fähigkeit zur Ver-
geſellſchaftung aus.

Die Entſtehung der Sprache iſt eine Seite an dem Vernünftigwerden des Menſchen.
Die Anſchauungen und Vorſtellungen werden erſt in wenigen, dann in mehreren Lauten
und Worten vergegenſtändlicht. Der Menſch will ſich dem Menſchen verſtändlich machen;
wie wir ſchon ſahen, wirken Gebärden, Gefühle und Leidenſchaften anſteckend; was
den einen erfüllt, klingt ſympathiſch beim anderen an. Das Fühlen, Vorſtellen und
Denken kommt durch das Zuſammenſein mit anderen in Fluß, und ſo entſtehen durch
die Geſellſchaft und durch die ſympathiſchen Gefühle die Verſtändigungslaute und mit
ihr die fixierten Vorſtellungen und Begriffe, das Denken ſelbſt. Alle Erweiterung feſter
Beobachtung, alle umfaſſende Klaſſifikation der Erſcheinungen, alle Anhäufung der
Erfahrung, alle Entſtehung allgemeiner Urteile und das Weiterſchließen daraus hängt
an der Ausbildung feſter Lautzeichen. Die Autorität des Vaters, des Häuptlings
wirkt mit, das loſe, eben erſt entſtehende Band, das im verſtandenen Worte liegt, etwas
feſter zu ziehen. Es entſteht mit der Sprache und dem Denken das geſellſchaftliche
Bewußtſein.

Freilich zunächſt nur in wenig feſter Form. Die Urſprachen umfaſſen kleine
Gruppen von Menſchen. Je niedriger die Kultur, deſto zahlreichere verſchiedene Sprachen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0026" n="10"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. P&#x017F;ychologi&#x017F;che und &#x017F;ittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/>
bleibt, ahmt er bewußt oder unbewußt täglich und &#x017F;tündlich Unzähliges nach. Wie<lb/>
der Hypnoti&#x017F;eur &#x017F;ein Medium, &#x017F;o zwingen überall die führenden Men&#x017F;chen die Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
in ihren Bannkreis, und tau&#x017F;chen alle &#x017F;ich Berührenden ihre Gefühle und Gepflogenheiten<lb/>
unwillkürlich aus. So konnte Tarde &#x017F;agen: eine Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft i&#x017F;t eine Gruppe von We&#x017F;en,<lb/>
die &#x017F;ich untereinander nachahmen, oder die ähnliche Nachkommen &#x017F;olcher We&#x017F;en &#x017F;ind, die<lb/>
&#x017F;ich früher nachgeahmt haben.</p><lb/>
          <p>Die ununterbrochene und unwider&#x017F;tehliche, p&#x017F;ychi&#x017F;che Wech&#x017F;elwirkung und Sugge&#x017F;tion<lb/>
aller &#x017F;ich Berührenden &#x017F;tellt den verbindenden Strom dar, der gemein&#x017F;ame Gefühle,<lb/>
Ver&#x017F;tändigung, Ineinanderpa&#x017F;&#x017F;ung, &#x017F;owie Ab&#x017F;chließung gegen außen herbeiführt. Aber<lb/>
die&#x017F;er Strom wäre ewig &#x017F;chwach geblieben, wenn er nicht durch die Sprache, die Schrift,<lb/>
die Vervielfältigung der&#x017F;elben, &#x017F;owie durch die Methoden ihrer Verbreitung und Benutzung<lb/>
eine Kraft erhalten hätte, welche &#x017F;ich zu der wortlo&#x017F;en Ver&#x017F;tändigung und Wech&#x017F;elwirkung<lb/>
verhält, wie die heutigen &#x017F;tarken elektri&#x017F;chen Induktions&#x017F;tröme zu den &#x017F;chwachen galva-<lb/>
ni&#x017F;chen Strömen.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">2. Die p&#x017F;ychophy&#x017F;i&#x017F;chen Mittel men&#x017F;chlicher Ver&#x017F;tändigung: Sprache und Schrift.</hi> </head><lb/>
          <listBibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Herder</hi>, Über den Ur&#x017F;prung der Sprache. 1772. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Jakob Grimm</hi>, Über den Ur&#x017F;prung<lb/>
der Sprache, Kleine Schriften 1, 1864. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Lazarus</hi>, Gei&#x017F;t und Sprache, Leben der Seele. 2, 1857. &#x2014;</bibl>
            <bibl><lb/><hi rendition="#g">Steinthal</hi>, Der Ur&#x017F;prung der Sprache im Zu&#x017F;ammenhang mit den letzten Fragen alles Wi&#x017F;&#x017F;ens. 1877.<lb/><hi rendition="#g">Steinthal</hi>, Die Entwickelung der Schrift. 1852. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Wuttke</hi>, Ge&#x017F;chichte der Schrift und<lb/>
des Schrifttums. 1872. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Faulmann</hi>, Illu&#x017F;trierte Ge&#x017F;chichte der Schrift. 1880. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Kirchhoff</hi>,<lb/>
Die Hand&#x017F;chriftenhändler des Mittelalters. 1853. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Wattenbach</hi>, Das Schriftwe&#x017F;en des Mittel-<lb/>
alters. 1871. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Treutlin</hi>, Ge&#x017F;chichte un&#x017F;erer Zahlzeichen. 1875.<lb/><hi rendition="#g">Falken&#x017F;tein</hi>, Ge&#x017F;chichte der Buchdruckerei. 1840. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Kirchhoff</hi>, Beiträge zur Ge&#x017F;chichte des<lb/>
deut&#x017F;chen Buchhandels. 1851&#x2014;53. Archiv für Ge&#x017F;chichte des deut&#x017F;chen Buchhandels. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Buchner</hi>,<lb/>
Beiträge zur Ge&#x017F;chichte des deut&#x017F;chen Buchhandels. 1874. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Jul. Duboc</hi>, Ge&#x017F;chichte der engli&#x017F;chen<lb/>
Pre&#x017F;&#x017F;e. 1873. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Wuttke</hi>, Die deut&#x017F;chen Zeit&#x017F;chriften und die Ent&#x017F;tehung der öffentlichen Meinung. 1875.<lb/><hi rendition="#g">Karl v. Raumer</hi>, Ge&#x017F;chichte der Pädagogik &#x017F;eit dem Wiederaufblühen kla&#x017F;&#x017F;. Studien bis auf<lb/>
un&#x017F;ere Zeit. 5. Aufl. 1877 ff. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Karl Schmidt</hi>, Ge&#x017F;chichte der Pädagogik. 3. Aufl. 1873&#x2014;76. &#x2014;</bibl>
            <bibl><lb/><hi rendition="#g">Sander</hi>, Lexikon der Pädagogik. 1883.<lb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Edwards</hi>, Memoris of libraries.</hi> 1859. 2. Bde. &#x2014;</bibl>
            <bibl><hi rendition="#g">Der&#x017F;.</hi>, <hi rendition="#aq">Libraries and founders of<lb/>
libraries</hi>. 1865.</bibl>
          </listBibl><lb/>
          <p>5. <hi rendition="#g">Die Sprache</hi>. Die Sprachbildung i&#x017F;t Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsbildung, die Sprachlaute<lb/>
&#x017F;ind Ver&#x017F;tändigungslaute. Man hat beobachtet, daß gewi&#x017F;&#x017F;e Tiere bis zu 10, 12, ja<lb/>
20 ver&#x017F;chiedene Töne haben, deren jeder den Geno&#x017F;&#x017F;en eine andere Stimmung andeutet.<lb/>
Der gemeine Mann &#x017F;oll &#x017F;elb&#x017F;t mitten in der heutigen, aufgeklärten Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft nicht über<lb/>
300 Worte gebrauchen, während der Gebildete es bis zu 100000 und mehr bringt.<lb/>
In die&#x017F;en Zahlen drückt &#x017F;ich wenig&#x017F;tens einigermaßen die &#x017F;teigende Fähigkeit zur Ver-<lb/>
ge&#x017F;ell&#x017F;chaftung aus.</p><lb/>
          <p>Die Ent&#x017F;tehung der Sprache i&#x017F;t eine Seite an dem Vernünftigwerden des Men&#x017F;chen.<lb/>
Die An&#x017F;chauungen und Vor&#x017F;tellungen werden er&#x017F;t in wenigen, dann in mehreren Lauten<lb/>
und Worten vergegen&#x017F;tändlicht. Der Men&#x017F;ch will &#x017F;ich dem Men&#x017F;chen ver&#x017F;tändlich machen;<lb/>
wie wir &#x017F;chon &#x017F;ahen, wirken Gebärden, Gefühle und Leiden&#x017F;chaften an&#x017F;teckend; was<lb/>
den einen erfüllt, klingt &#x017F;ympathi&#x017F;ch beim anderen an. Das Fühlen, Vor&#x017F;tellen und<lb/>
Denken kommt durch das Zu&#x017F;ammen&#x017F;ein mit anderen in Fluß, und &#x017F;o ent&#x017F;tehen durch<lb/>
die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft und durch die &#x017F;ympathi&#x017F;chen Gefühle die Ver&#x017F;tändigungslaute und mit<lb/>
ihr die fixierten Vor&#x017F;tellungen und Begriffe, das Denken &#x017F;elb&#x017F;t. Alle Erweiterung fe&#x017F;ter<lb/>
Beobachtung, alle umfa&#x017F;&#x017F;ende Kla&#x017F;&#x017F;ifikation der Er&#x017F;cheinungen, alle Anhäufung der<lb/>
Erfahrung, alle Ent&#x017F;tehung allgemeiner Urteile und das Weiter&#x017F;chließen daraus hängt<lb/>
an der Ausbildung fe&#x017F;ter Lautzeichen. Die Autorität des Vaters, des Häuptlings<lb/>
wirkt mit, das lo&#x017F;e, eben er&#x017F;t ent&#x017F;tehende Band, das im ver&#x017F;tandenen Worte liegt, etwas<lb/>
fe&#x017F;ter zu ziehen. Es ent&#x017F;teht mit der Sprache und dem Denken das ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche<lb/>
Bewußt&#x017F;ein.</p><lb/>
          <p>Freilich zunäch&#x017F;t nur in wenig fe&#x017F;ter Form. Die Ur&#x017F;prachen umfa&#x017F;&#x017F;en kleine<lb/>
Gruppen von Men&#x017F;chen. Je niedriger die Kultur, de&#x017F;to zahlreichere ver&#x017F;chiedene Sprachen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0026] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. bleibt, ahmt er bewußt oder unbewußt täglich und ſtündlich Unzähliges nach. Wie der Hypnotiſeur ſein Medium, ſo zwingen überall die führenden Menſchen die Maſſe in ihren Bannkreis, und tauſchen alle ſich Berührenden ihre Gefühle und Gepflogenheiten unwillkürlich aus. So konnte Tarde ſagen: eine Geſellſchaft iſt eine Gruppe von Weſen, die ſich untereinander nachahmen, oder die ähnliche Nachkommen ſolcher Weſen ſind, die ſich früher nachgeahmt haben. Die ununterbrochene und unwiderſtehliche, pſychiſche Wechſelwirkung und Suggeſtion aller ſich Berührenden ſtellt den verbindenden Strom dar, der gemeinſame Gefühle, Verſtändigung, Ineinanderpaſſung, ſowie Abſchließung gegen außen herbeiführt. Aber dieſer Strom wäre ewig ſchwach geblieben, wenn er nicht durch die Sprache, die Schrift, die Vervielfältigung derſelben, ſowie durch die Methoden ihrer Verbreitung und Benutzung eine Kraft erhalten hätte, welche ſich zu der wortloſen Verſtändigung und Wechſelwirkung verhält, wie die heutigen ſtarken elektriſchen Induktionsſtröme zu den ſchwachen galva- niſchen Strömen. 2. Die pſychophyſiſchen Mittel menſchlicher Verſtändigung: Sprache und Schrift. Herder, Über den Urſprung der Sprache. 1772. — Jakob Grimm, Über den Urſprung der Sprache, Kleine Schriften 1, 1864. — Lazarus, Geiſt und Sprache, Leben der Seele. 2, 1857. — Steinthal, Der Urſprung der Sprache im Zuſammenhang mit den letzten Fragen alles Wiſſens. 1877. Steinthal, Die Entwickelung der Schrift. 1852. — Wuttke, Geſchichte der Schrift und des Schrifttums. 1872. — Faulmann, Illuſtrierte Geſchichte der Schrift. 1880. — Kirchhoff, Die Handſchriftenhändler des Mittelalters. 1853. — Wattenbach, Das Schriftweſen des Mittel- alters. 1871. — Treutlin, Geſchichte unſerer Zahlzeichen. 1875. Falkenſtein, Geſchichte der Buchdruckerei. 1840. — Kirchhoff, Beiträge zur Geſchichte des deutſchen Buchhandels. 1851—53. Archiv für Geſchichte des deutſchen Buchhandels. — Buchner, Beiträge zur Geſchichte des deutſchen Buchhandels. 1874. — Jul. Duboc, Geſchichte der engliſchen Preſſe. 1873. — Wuttke, Die deutſchen Zeitſchriften und die Entſtehung der öffentlichen Meinung. 1875. Karl v. Raumer, Geſchichte der Pädagogik ſeit dem Wiederaufblühen klaſſ. Studien bis auf unſere Zeit. 5. Aufl. 1877 ff. — Karl Schmidt, Geſchichte der Pädagogik. 3. Aufl. 1873—76. — Sander, Lexikon der Pädagogik. 1883. Edwards, Memoris of libraries. 1859. 2. Bde. — Derſ., Libraries and founders of libraries. 1865. 5. Die Sprache. Die Sprachbildung iſt Geſellſchaftsbildung, die Sprachlaute ſind Verſtändigungslaute. Man hat beobachtet, daß gewiſſe Tiere bis zu 10, 12, ja 20 verſchiedene Töne haben, deren jeder den Genoſſen eine andere Stimmung andeutet. Der gemeine Mann ſoll ſelbſt mitten in der heutigen, aufgeklärten Geſellſchaft nicht über 300 Worte gebrauchen, während der Gebildete es bis zu 100000 und mehr bringt. In dieſen Zahlen drückt ſich wenigſtens einigermaßen die ſteigende Fähigkeit zur Ver- geſellſchaftung aus. Die Entſtehung der Sprache iſt eine Seite an dem Vernünftigwerden des Menſchen. Die Anſchauungen und Vorſtellungen werden erſt in wenigen, dann in mehreren Lauten und Worten vergegenſtändlicht. Der Menſch will ſich dem Menſchen verſtändlich machen; wie wir ſchon ſahen, wirken Gebärden, Gefühle und Leidenſchaften anſteckend; was den einen erfüllt, klingt ſympathiſch beim anderen an. Das Fühlen, Vorſtellen und Denken kommt durch das Zuſammenſein mit anderen in Fluß, und ſo entſtehen durch die Geſellſchaft und durch die ſympathiſchen Gefühle die Verſtändigungslaute und mit ihr die fixierten Vorſtellungen und Begriffe, das Denken ſelbſt. Alle Erweiterung feſter Beobachtung, alle umfaſſende Klaſſifikation der Erſcheinungen, alle Anhäufung der Erfahrung, alle Entſtehung allgemeiner Urteile und das Weiterſchließen daraus hängt an der Ausbildung feſter Lautzeichen. Die Autorität des Vaters, des Häuptlings wirkt mit, das loſe, eben erſt entſtehende Band, das im verſtandenen Worte liegt, etwas feſter zu ziehen. Es entſteht mit der Sprache und dem Denken das geſellſchaftliche Bewußtſein. Freilich zunächſt nur in wenig feſter Form. Die Urſprachen umfaſſen kleine Gruppen von Menſchen. Je niedriger die Kultur, deſto zahlreichere verſchiedene Sprachen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/26
Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/26>, abgerufen am 28.03.2024.