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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Gefahr einer Auflösung der Familienwirtschaft.
Unterricht, Bildung, Erziehung und was alles sonst noch. Nicht bloß die erwachsenen
Töchter sind im Hause nicht mehr notwendig, selbst Frau und Kinder gehen viel mehr
als früher nach Arbeit außer dem Hause; sie thun es teils durch die Not, teils durch
den Selbständigkeitsdrang getrieben; die jungen Leute verdienen vom 12. oder 14. Jahre
an selbständig, sie wollen sich die elterliche Zucht nicht mehr gefallen lassen, wohnen
für sich in Schlafstellen, wollen für ihr Geld auch ihr Leben genießen. Wo die modernsten
Verhältnisse walten, da sind die Kinder am frühreifsten, da heiraten einzelne junge Leute,
ohne Vater und Mutter zu fragen, da sind die Familienbande am losesten. Die Schließung
der Ehe wird andererseits immer schwieriger; die Zahl der Ehelosen nimmt zu; die Zahl
der Jahre, welche vom Verlassen des Elternhauses bis zur eigenen Ehe verstreichen, wird
größer, schon weil Lehr-, Bildungs-, Reisezeit, das Herumsuchen nach einer Existenz es
so mit sich bringen; man gewöhnt sich an Freiheiten aller Art, an Genüsse, die in
der Familie nicht möglich sind, an außerehelichen Verkehr; das Familienleben erscheint
den so Gewöhnten oft nur noch als eine lästige Fessel, die man mindestens jederzeit
will wieder abstreifen können; man fordert unbedingte Scheidungsfreiheit und beruft sich
darauf, wie in allen Großstädten die Ehescheidungen zunehmen, wie in Nordamerika
heute teilweise jährlich schon auf 9--10 Eheschließungen eine Ehescheidung komme.

Indem man im Anschluß an die Theorien des 18. Jahrhunderts die Gleichheit
von Mann und Frau predigt, fordert man die ganz gleiche Erziehung beider Geschlechter,
die Zulassung der Frauen zu allen Berufen, betrachtet die Beseitigung gewisser Arbeits-
schranken für die Frauen, wie sie mit dem Zunftwesen fielen, nur als eine erste dürftige
Abschlagszahlung. Man erhofft die Beseitigung der Geld-, Konventions- und Ver-
sorgungsehen, wenn die Frauen alle Berufe erlernen und ergreifen dürfen; man hofft,
daß, wenn die Frau durch eigenen Erwerb auf sich selbst stehe, der stets kündbare Ehe-
bund erst ein wirklich freier werde, und den bisher schon so eingeschränkten Familien-
haushalt glaubt man als ein Rumpelstück aus der Vorväter kümmerlicher Zeit bald
vollends ganz über Bord werfen zu können.

Wenigstens der Socialismus träumt von einem Leben der durch die Ehe Ver-
bundenen in Hotels und Logierhäusern; alle gebärenden Frauen will er in öffentliche
Gebärhäuser, alle Kinder in Kinderbewahranstalten, die Halberwachsenen in Lehrwerkstätten,
Pensionate und öffentliche Schulen, die zugleich verpflegen, schicken; für alle Kranken
sollen die Krankenhäuser, für alle Alten die Invalidenhäuser sorgen. So brauchen die
arbeitenden Erwachsenen nichts als ein Wohn- und Schlafzimmer einerseits, Klubs,
Speisehäuser, öffentliche Vergnügungsorte, Bibliotheken, Theater, Arbeits- und Pro-
duktionsräume andererseits. Der Familienhaushalt ist angeblich verschwunden.

Daß einer oberflächlichen Betrachtung unserer heutigen technischen und socialen
Entwickelung derartige Ziele als die notwendigen und heilsamen Endergebnisse erscheinen
können, wer wollte es leugnen? Und wer wollte, wenn er die großen Veränderungen
früherer Epochen, den ungeheuren Wandel der heutigen Technik und das chaotische
Ringen unserer sittlichen Vorstellungen und socialen Einrichtungen betrachtet, sicher sagen,
Derartiges sei unmöglich? Aber bei ruhiger, näherer Betrachtung erscheinen uns doch
diese Ideale und Zukunftspläne als starke Übertreibungen, ja Verirrungen, als einseitig
logische Schlüsse aus partiellen Bewegungstendenzen, die historisch notwendig wieder
entgegengesetzten Strömungen weichen oder vielmehr mit anderen notwendigen Tendenzen
sich vertragen müssen.

Die Familie soll verschwinden zu Gunsten des Staates und des Individuums?
Glaubte man, als der Staat im 18. Jahrhunderte den alten Korporationen zu Leibe
ging, nicht dasselbe von der Gemeinde und allen Genossenschaften und Vereinen? II
n'y a que l'etat et l'individu,
dekretierte die französische Revolution, und heute sucht
überall eine entwickelte Gesetzgebung die Kreise, die Gemeinden, die Vereine, die Genossen-
schaften zu fördern. Die höhere Kultur schafft immer kompliziertere Formen und erhält
daneben doch an ihrer Stelle jede für bestimmte Zwecke als brauchbar gefundene typische
Lebensform. Sollte sie plötzlich die seit Jahrtausenden ausgebildete wichtigste, kräftigste,
noch heute für 99 % aller Menschen unentbehrliche ausstoßen?

Die Gefahr einer Auflöſung der Familienwirtſchaft.
Unterricht, Bildung, Erziehung und was alles ſonſt noch. Nicht bloß die erwachſenen
Töchter ſind im Hauſe nicht mehr notwendig, ſelbſt Frau und Kinder gehen viel mehr
als früher nach Arbeit außer dem Hauſe; ſie thun es teils durch die Not, teils durch
den Selbſtändigkeitsdrang getrieben; die jungen Leute verdienen vom 12. oder 14. Jahre
an ſelbſtändig, ſie wollen ſich die elterliche Zucht nicht mehr gefallen laſſen, wohnen
für ſich in Schlafſtellen, wollen für ihr Geld auch ihr Leben genießen. Wo die modernſten
Verhältniſſe walten, da ſind die Kinder am frühreifſten, da heiraten einzelne junge Leute,
ohne Vater und Mutter zu fragen, da ſind die Familienbande am loſeſten. Die Schließung
der Ehe wird andererſeits immer ſchwieriger; die Zahl der Eheloſen nimmt zu; die Zahl
der Jahre, welche vom Verlaſſen des Elternhauſes bis zur eigenen Ehe verſtreichen, wird
größer, ſchon weil Lehr-, Bildungs-, Reiſezeit, das Herumſuchen nach einer Exiſtenz es
ſo mit ſich bringen; man gewöhnt ſich an Freiheiten aller Art, an Genüſſe, die in
der Familie nicht möglich ſind, an außerehelichen Verkehr; das Familienleben erſcheint
den ſo Gewöhnten oft nur noch als eine läſtige Feſſel, die man mindeſtens jederzeit
will wieder abſtreifen können; man fordert unbedingte Scheidungsfreiheit und beruft ſich
darauf, wie in allen Großſtädten die Eheſcheidungen zunehmen, wie in Nordamerika
heute teilweiſe jährlich ſchon auf 9—10 Eheſchließungen eine Eheſcheidung komme.

Indem man im Anſchluß an die Theorien des 18. Jahrhunderts die Gleichheit
von Mann und Frau predigt, fordert man die ganz gleiche Erziehung beider Geſchlechter,
die Zulaſſung der Frauen zu allen Berufen, betrachtet die Beſeitigung gewiſſer Arbeits-
ſchranken für die Frauen, wie ſie mit dem Zunftweſen fielen, nur als eine erſte dürftige
Abſchlagszahlung. Man erhofft die Beſeitigung der Geld-, Konventions- und Ver-
ſorgungsehen, wenn die Frauen alle Berufe erlernen und ergreifen dürfen; man hofft,
daß, wenn die Frau durch eigenen Erwerb auf ſich ſelbſt ſtehe, der ſtets kündbare Ehe-
bund erſt ein wirklich freier werde, und den bisher ſchon ſo eingeſchränkten Familien-
haushalt glaubt man als ein Rumpelſtück aus der Vorväter kümmerlicher Zeit bald
vollends ganz über Bord werfen zu können.

Wenigſtens der Socialismus träumt von einem Leben der durch die Ehe Ver-
bundenen in Hotels und Logierhäuſern; alle gebärenden Frauen will er in öffentliche
Gebärhäuſer, alle Kinder in Kinderbewahranſtalten, die Halberwachſenen in Lehrwerkſtätten,
Penſionate und öffentliche Schulen, die zugleich verpflegen, ſchicken; für alle Kranken
ſollen die Krankenhäuſer, für alle Alten die Invalidenhäuſer ſorgen. So brauchen die
arbeitenden Erwachſenen nichts als ein Wohn- und Schlafzimmer einerſeits, Klubs,
Speiſehäuſer, öffentliche Vergnügungsorte, Bibliotheken, Theater, Arbeits- und Pro-
duktionsräume andererſeits. Der Familienhaushalt iſt angeblich verſchwunden.

Daß einer oberflächlichen Betrachtung unſerer heutigen techniſchen und ſocialen
Entwickelung derartige Ziele als die notwendigen und heilſamen Endergebniſſe erſcheinen
können, wer wollte es leugnen? Und wer wollte, wenn er die großen Veränderungen
früherer Epochen, den ungeheuren Wandel der heutigen Technik und das chaotiſche
Ringen unſerer ſittlichen Vorſtellungen und ſocialen Einrichtungen betrachtet, ſicher ſagen,
Derartiges ſei unmöglich? Aber bei ruhiger, näherer Betrachtung erſcheinen uns doch
dieſe Ideale und Zukunftspläne als ſtarke Übertreibungen, ja Verirrungen, als einſeitig
logiſche Schlüſſe aus partiellen Bewegungstendenzen, die hiſtoriſch notwendig wieder
entgegengeſetzten Strömungen weichen oder vielmehr mit anderen notwendigen Tendenzen
ſich vertragen müſſen.

Die Familie ſoll verſchwinden zu Gunſten des Staates und des Individuums?
Glaubte man, als der Staat im 18. Jahrhunderte den alten Korporationen zu Leibe
ging, nicht dasſelbe von der Gemeinde und allen Genoſſenſchaften und Vereinen? II
n’y a que l’état et l’individu,
dekretierte die franzöſiſche Revolution, und heute ſucht
überall eine entwickelte Geſetzgebung die Kreiſe, die Gemeinden, die Vereine, die Genoſſen-
ſchaften zu fördern. Die höhere Kultur ſchafft immer kompliziertere Formen und erhält
daneben doch an ihrer Stelle jede für beſtimmte Zwecke als brauchbar gefundene typiſche
Lebensform. Sollte ſie plötzlich die ſeit Jahrtauſenden ausgebildete wichtigſte, kräftigſte,
noch heute für 99 % aller Menſchen unentbehrliche ausſtoßen?

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[251/0267] Die Gefahr einer Auflöſung der Familienwirtſchaft. Unterricht, Bildung, Erziehung und was alles ſonſt noch. Nicht bloß die erwachſenen Töchter ſind im Hauſe nicht mehr notwendig, ſelbſt Frau und Kinder gehen viel mehr als früher nach Arbeit außer dem Hauſe; ſie thun es teils durch die Not, teils durch den Selbſtändigkeitsdrang getrieben; die jungen Leute verdienen vom 12. oder 14. Jahre an ſelbſtändig, ſie wollen ſich die elterliche Zucht nicht mehr gefallen laſſen, wohnen für ſich in Schlafſtellen, wollen für ihr Geld auch ihr Leben genießen. Wo die modernſten Verhältniſſe walten, da ſind die Kinder am frühreifſten, da heiraten einzelne junge Leute, ohne Vater und Mutter zu fragen, da ſind die Familienbande am loſeſten. Die Schließung der Ehe wird andererſeits immer ſchwieriger; die Zahl der Eheloſen nimmt zu; die Zahl der Jahre, welche vom Verlaſſen des Elternhauſes bis zur eigenen Ehe verſtreichen, wird größer, ſchon weil Lehr-, Bildungs-, Reiſezeit, das Herumſuchen nach einer Exiſtenz es ſo mit ſich bringen; man gewöhnt ſich an Freiheiten aller Art, an Genüſſe, die in der Familie nicht möglich ſind, an außerehelichen Verkehr; das Familienleben erſcheint den ſo Gewöhnten oft nur noch als eine läſtige Feſſel, die man mindeſtens jederzeit will wieder abſtreifen können; man fordert unbedingte Scheidungsfreiheit und beruft ſich darauf, wie in allen Großſtädten die Eheſcheidungen zunehmen, wie in Nordamerika heute teilweiſe jährlich ſchon auf 9—10 Eheſchließungen eine Eheſcheidung komme. Indem man im Anſchluß an die Theorien des 18. Jahrhunderts die Gleichheit von Mann und Frau predigt, fordert man die ganz gleiche Erziehung beider Geſchlechter, die Zulaſſung der Frauen zu allen Berufen, betrachtet die Beſeitigung gewiſſer Arbeits- ſchranken für die Frauen, wie ſie mit dem Zunftweſen fielen, nur als eine erſte dürftige Abſchlagszahlung. Man erhofft die Beſeitigung der Geld-, Konventions- und Ver- ſorgungsehen, wenn die Frauen alle Berufe erlernen und ergreifen dürfen; man hofft, daß, wenn die Frau durch eigenen Erwerb auf ſich ſelbſt ſtehe, der ſtets kündbare Ehe- bund erſt ein wirklich freier werde, und den bisher ſchon ſo eingeſchränkten Familien- haushalt glaubt man als ein Rumpelſtück aus der Vorväter kümmerlicher Zeit bald vollends ganz über Bord werfen zu können. Wenigſtens der Socialismus träumt von einem Leben der durch die Ehe Ver- bundenen in Hotels und Logierhäuſern; alle gebärenden Frauen will er in öffentliche Gebärhäuſer, alle Kinder in Kinderbewahranſtalten, die Halberwachſenen in Lehrwerkſtätten, Penſionate und öffentliche Schulen, die zugleich verpflegen, ſchicken; für alle Kranken ſollen die Krankenhäuſer, für alle Alten die Invalidenhäuſer ſorgen. So brauchen die arbeitenden Erwachſenen nichts als ein Wohn- und Schlafzimmer einerſeits, Klubs, Speiſehäuſer, öffentliche Vergnügungsorte, Bibliotheken, Theater, Arbeits- und Pro- duktionsräume andererſeits. Der Familienhaushalt iſt angeblich verſchwunden. Daß einer oberflächlichen Betrachtung unſerer heutigen techniſchen und ſocialen Entwickelung derartige Ziele als die notwendigen und heilſamen Endergebniſſe erſcheinen können, wer wollte es leugnen? Und wer wollte, wenn er die großen Veränderungen früherer Epochen, den ungeheuren Wandel der heutigen Technik und das chaotiſche Ringen unſerer ſittlichen Vorſtellungen und ſocialen Einrichtungen betrachtet, ſicher ſagen, Derartiges ſei unmöglich? Aber bei ruhiger, näherer Betrachtung erſcheinen uns doch dieſe Ideale und Zukunftspläne als ſtarke Übertreibungen, ja Verirrungen, als einſeitig logiſche Schlüſſe aus partiellen Bewegungstendenzen, die hiſtoriſch notwendig wieder entgegengeſetzten Strömungen weichen oder vielmehr mit anderen notwendigen Tendenzen ſich vertragen müſſen. Die Familie ſoll verſchwinden zu Gunſten des Staates und des Individuums? Glaubte man, als der Staat im 18. Jahrhunderte den alten Korporationen zu Leibe ging, nicht dasſelbe von der Gemeinde und allen Genoſſenſchaften und Vereinen? II n’y a que l’état et l’individu, dekretierte die franzöſiſche Revolution, und heute ſucht überall eine entwickelte Geſetzgebung die Kreiſe, die Gemeinden, die Vereine, die Genoſſen- ſchaften zu fördern. Die höhere Kultur ſchafft immer kompliziertere Formen und erhält daneben doch an ihrer Stelle jede für beſtimmte Zwecke als brauchbar gefundene typiſche Lebensform. Sollte ſie plötzlich die ſeit Jahrtauſenden ausgebildete wichtigſte, kräftigſte, noch heute für 99 % aller Menſchen unentbehrliche ausſtoßen?

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/267>, abgerufen am 28.03.2024.