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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.

Je beweglicher heute das Leben wird, mit je mehr Menschen heute jeder in Ver-
bindung kommt, je mehr jeder neben seinen Verwandten mit verschiedenen Fach- und
Gesinnungsgenossen verkehrt, desto notwendiger wird ein sicherer, nach außen geschlossener
engster Kreis der Liebe, des Vertrauens, des Behagens, wie ihn allein die Familie
giebt. Man frage die Reisenden, die 2--10 Jahre im Gasthofe lebten, nach was sie
sich am meisten sehnen. Wer jeden Hungrigen ins Wirtshaus, jede Gebärende ins
Gebärhaus, jedes Kind von seiner Geburt bis zu seiner Mannbarkeit in eine Reihe von
Erziehungshäusern schickt, verwandelt die Gesellschaft in eine Summe genußsüchtiger,
egoistischer Vagabunden, deren Nervenunruhe und Überreizung die Mehrzahl zu Kan-
didaten für die Irrenhäuser macht.

Von 45 Mill. Deutschen waren 1882 13,3 Mill. männliche und 4,2 Mill. weib-
liche erwerbsthätig, 8,1 Mill. männliche und 18,1 Mill. weibliche Personen lebten ohne
Erwerb oder als Dienstboten in Familie und mit der Familienwirtschaft beschäftigt;
über 2 Mill. der weiblich Erwerbsthätigen gehörten dem Alter unter 30 Jahren an,
also einer Gruppe, von welcher die meisten später in die Kategorie der nicht erwerbenden
Familienglieder übergehen. Was wäre nun nötig, wenn das socialistische Ideal sich
verwirklichte: Erziehungsanstalten für 15--16 Mill. Kinder und junge Leute, die heute
fast alle noch bei ihren Eltern wohnen; das würde Kosten von Milliarden machen, die
bezahlten Lohn- und Erziehungskräfte ins zehn- und mehrfache steigern, die ganze so
wichtige geistig-sittliche Wechselwirkung zwischen Eltern und Kindern aufheben. Für die
17,6 Mill. männlicher und weiblicher bisher Erwerbsthätiger und die 10 Mill. bisher
nicht erwerbsthätiger Erwachsener, also zusammen für etwa 27 Mill., wäre einerseits
bezahlte Lohnarbeit, andererseits Unterkommen in Hotels, zeitweise in Gebär-, Kranken-,
Invalidenhäusern nötig, soweit sie nicht als Beamte dauernd in Erziehungshäusern oder
sonstigen Anstalten leben müßten. Eine ungeheure Summe von heute unbezahlter
Arbeit in der Familie und gegenseitiger liebevoller Fürsorge, die jetzt spielend, von
Leuten, die sich kennen, sich richtig behandeln, geschieht, würde aufgehoben; alle Arbeit
würde in eine bezahlte, gebuchte, für Fremde mit Gleichgültigkeit verrichtete verwandelt.
Für einige Prozente der Kranken und Gebärenden wird es heute ein technischer Vorteil sein,
in eine Anstalt zu gehen; für die Mehrzahl ist die Pflege zu Hause die unendlich bessere
und billigere; sie ist zugleich die sittlich erziehende. Die Kosten des Unterhaltes in den
Hotels wären gewiß in einzelnen Beziehungen geringere, aber vielfach auch höhere als
heute in den Familien; die Reibung, die Händel wären viel erheblicher, ein großer Teil
der heutigen individuellen Freiheit wäre vernichtet; eine Disciplin wäre nötig, gegen
welche die einst in der patriarchalischen Familie vorhandene ein Kinderspiel wäre; die
Sparsamkeit würde eine viel kleinere; in all' den Hotels, Erziehungsanstalten etc. wirt-
schaftete ja jeder aus der allgemeinen Kasse; der mechanisch-gesellschaftliche Apparat, seine
Kontrollen, seine Kosten würden außerordentlich wachsen. Der optimistischen Hoffnung
der Socialisten also, eine solche Organisation sei billiger und besser, produziere viel
mehr, stehen die gegründetsten Bedenken entgegen. Was macht die Arbeit, die heute
noch in der Familie geschieht, billig und gut? Daß sie mit Liebe für Mann und Kind,
für das eigenste Interesse erfolgt, daß sie nicht bezahlt und gebucht wird, daß dabei
nicht gerechnet wird. Nun soll, was bisher diese Millionen Menschen in der Familie für
sich und die Ihrigen gethan haben, in Lohnarbeit für Fremde verwandelt werden! Die
Pflege des kranken Kindes durch die Mutter kann kein Krankenhaus der Welt ersetzen.
Nur weniges von dem, was die Millionen Familienglieder heute zu Hause thun, läßt
sich durch maschinellen Großbetrieb besser ausführen; es sind die tausend kleinen Dienste,
Besorgungen, Einwirkungen auf Kinder und Verwandte, die in dem Maße, wie sie auf
bezahlte Fremde übergehen, schlechter und teurer werden.

Außerdem aber: das durch Jahre dauernde Zusammensein von Mann und
Frau, von Eltern und Kindern ist die Vorbedingung für die Erzeugung starker Pflicht-
gefühle, heroischer Aufopferung, der wichtigsten sympathischen Gefühle überhaupt und
für die Überlieferung aller seit Jahrtausenden entstandenen sittlichen Errungenschaften.
Die Familie wird dabei in immer kompliziertere Verbindung mit Schulen und anderen

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.

Je beweglicher heute das Leben wird, mit je mehr Menſchen heute jeder in Ver-
bindung kommt, je mehr jeder neben ſeinen Verwandten mit verſchiedenen Fach- und
Geſinnungsgenoſſen verkehrt, deſto notwendiger wird ein ſicherer, nach außen geſchloſſener
engſter Kreis der Liebe, des Vertrauens, des Behagens, wie ihn allein die Familie
giebt. Man frage die Reiſenden, die 2—10 Jahre im Gaſthofe lebten, nach was ſie
ſich am meiſten ſehnen. Wer jeden Hungrigen ins Wirtshaus, jede Gebärende ins
Gebärhaus, jedes Kind von ſeiner Geburt bis zu ſeiner Mannbarkeit in eine Reihe von
Erziehungshäuſern ſchickt, verwandelt die Geſellſchaft in eine Summe genußſüchtiger,
egoiſtiſcher Vagabunden, deren Nervenunruhe und Überreizung die Mehrzahl zu Kan-
didaten für die Irrenhäuſer macht.

Von 45 Mill. Deutſchen waren 1882 13,3 Mill. männliche und 4,2 Mill. weib-
liche erwerbsthätig, 8,1 Mill. männliche und 18,1 Mill. weibliche Perſonen lebten ohne
Erwerb oder als Dienſtboten in Familie und mit der Familienwirtſchaft beſchäftigt;
über 2 Mill. der weiblich Erwerbsthätigen gehörten dem Alter unter 30 Jahren an,
alſo einer Gruppe, von welcher die meiſten ſpäter in die Kategorie der nicht erwerbenden
Familienglieder übergehen. Was wäre nun nötig, wenn das ſocialiſtiſche Ideal ſich
verwirklichte: Erziehungsanſtalten für 15—16 Mill. Kinder und junge Leute, die heute
faſt alle noch bei ihren Eltern wohnen; das würde Koſten von Milliarden machen, die
bezahlten Lohn- und Erziehungskräfte ins zehn- und mehrfache ſteigern, die ganze ſo
wichtige geiſtig-ſittliche Wechſelwirkung zwiſchen Eltern und Kindern aufheben. Für die
17,6 Mill. männlicher und weiblicher bisher Erwerbsthätiger und die 10 Mill. bisher
nicht erwerbsthätiger Erwachſener, alſo zuſammen für etwa 27 Mill., wäre einerſeits
bezahlte Lohnarbeit, andererſeits Unterkommen in Hotels, zeitweiſe in Gebär-, Kranken-,
Invalidenhäuſern nötig, ſoweit ſie nicht als Beamte dauernd in Erziehungshäuſern oder
ſonſtigen Anſtalten leben müßten. Eine ungeheure Summe von heute unbezahlter
Arbeit in der Familie und gegenſeitiger liebevoller Fürſorge, die jetzt ſpielend, von
Leuten, die ſich kennen, ſich richtig behandeln, geſchieht, würde aufgehoben; alle Arbeit
würde in eine bezahlte, gebuchte, für Fremde mit Gleichgültigkeit verrichtete verwandelt.
Für einige Prozente der Kranken und Gebärenden wird es heute ein techniſcher Vorteil ſein,
in eine Anſtalt zu gehen; für die Mehrzahl iſt die Pflege zu Hauſe die unendlich beſſere
und billigere; ſie iſt zugleich die ſittlich erziehende. Die Koſten des Unterhaltes in den
Hotels wären gewiß in einzelnen Beziehungen geringere, aber vielfach auch höhere als
heute in den Familien; die Reibung, die Händel wären viel erheblicher, ein großer Teil
der heutigen individuellen Freiheit wäre vernichtet; eine Disciplin wäre nötig, gegen
welche die einſt in der patriarchaliſchen Familie vorhandene ein Kinderſpiel wäre; die
Sparſamkeit würde eine viel kleinere; in all’ den Hotels, Erziehungsanſtalten ꝛc. wirt-
ſchaftete ja jeder aus der allgemeinen Kaſſe; der mechaniſch-geſellſchaftliche Apparat, ſeine
Kontrollen, ſeine Koſten würden außerordentlich wachſen. Der optimiſtiſchen Hoffnung
der Socialiſten alſo, eine ſolche Organiſation ſei billiger und beſſer, produziere viel
mehr, ſtehen die gegründetſten Bedenken entgegen. Was macht die Arbeit, die heute
noch in der Familie geſchieht, billig und gut? Daß ſie mit Liebe für Mann und Kind,
für das eigenſte Intereſſe erfolgt, daß ſie nicht bezahlt und gebucht wird, daß dabei
nicht gerechnet wird. Nun ſoll, was bisher dieſe Millionen Menſchen in der Familie für
ſich und die Ihrigen gethan haben, in Lohnarbeit für Fremde verwandelt werden! Die
Pflege des kranken Kindes durch die Mutter kann kein Krankenhaus der Welt erſetzen.
Nur weniges von dem, was die Millionen Familienglieder heute zu Hauſe thun, läßt
ſich durch maſchinellen Großbetrieb beſſer ausführen; es ſind die tauſend kleinen Dienſte,
Beſorgungen, Einwirkungen auf Kinder und Verwandte, die in dem Maße, wie ſie auf
bezahlte Fremde übergehen, ſchlechter und teurer werden.

Außerdem aber: das durch Jahre dauernde Zuſammenſein von Mann und
Frau, von Eltern und Kindern iſt die Vorbedingung für die Erzeugung ſtarker Pflicht-
gefühle, heroiſcher Aufopferung, der wichtigſten ſympathiſchen Gefühle überhaupt und
für die Überlieferung aller ſeit Jahrtauſenden entſtandenen ſittlichen Errungenſchaften.
Die Familie wird dabei in immer kompliziertere Verbindung mit Schulen und anderen

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[252/0268] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Je beweglicher heute das Leben wird, mit je mehr Menſchen heute jeder in Ver- bindung kommt, je mehr jeder neben ſeinen Verwandten mit verſchiedenen Fach- und Geſinnungsgenoſſen verkehrt, deſto notwendiger wird ein ſicherer, nach außen geſchloſſener engſter Kreis der Liebe, des Vertrauens, des Behagens, wie ihn allein die Familie giebt. Man frage die Reiſenden, die 2—10 Jahre im Gaſthofe lebten, nach was ſie ſich am meiſten ſehnen. Wer jeden Hungrigen ins Wirtshaus, jede Gebärende ins Gebärhaus, jedes Kind von ſeiner Geburt bis zu ſeiner Mannbarkeit in eine Reihe von Erziehungshäuſern ſchickt, verwandelt die Geſellſchaft in eine Summe genußſüchtiger, egoiſtiſcher Vagabunden, deren Nervenunruhe und Überreizung die Mehrzahl zu Kan- didaten für die Irrenhäuſer macht. Von 45 Mill. Deutſchen waren 1882 13,3 Mill. männliche und 4,2 Mill. weib- liche erwerbsthätig, 8,1 Mill. männliche und 18,1 Mill. weibliche Perſonen lebten ohne Erwerb oder als Dienſtboten in Familie und mit der Familienwirtſchaft beſchäftigt; über 2 Mill. der weiblich Erwerbsthätigen gehörten dem Alter unter 30 Jahren an, alſo einer Gruppe, von welcher die meiſten ſpäter in die Kategorie der nicht erwerbenden Familienglieder übergehen. Was wäre nun nötig, wenn das ſocialiſtiſche Ideal ſich verwirklichte: Erziehungsanſtalten für 15—16 Mill. Kinder und junge Leute, die heute faſt alle noch bei ihren Eltern wohnen; das würde Koſten von Milliarden machen, die bezahlten Lohn- und Erziehungskräfte ins zehn- und mehrfache ſteigern, die ganze ſo wichtige geiſtig-ſittliche Wechſelwirkung zwiſchen Eltern und Kindern aufheben. Für die 17,6 Mill. männlicher und weiblicher bisher Erwerbsthätiger und die 10 Mill. bisher nicht erwerbsthätiger Erwachſener, alſo zuſammen für etwa 27 Mill., wäre einerſeits bezahlte Lohnarbeit, andererſeits Unterkommen in Hotels, zeitweiſe in Gebär-, Kranken-, Invalidenhäuſern nötig, ſoweit ſie nicht als Beamte dauernd in Erziehungshäuſern oder ſonſtigen Anſtalten leben müßten. Eine ungeheure Summe von heute unbezahlter Arbeit in der Familie und gegenſeitiger liebevoller Fürſorge, die jetzt ſpielend, von Leuten, die ſich kennen, ſich richtig behandeln, geſchieht, würde aufgehoben; alle Arbeit würde in eine bezahlte, gebuchte, für Fremde mit Gleichgültigkeit verrichtete verwandelt. Für einige Prozente der Kranken und Gebärenden wird es heute ein techniſcher Vorteil ſein, in eine Anſtalt zu gehen; für die Mehrzahl iſt die Pflege zu Hauſe die unendlich beſſere und billigere; ſie iſt zugleich die ſittlich erziehende. Die Koſten des Unterhaltes in den Hotels wären gewiß in einzelnen Beziehungen geringere, aber vielfach auch höhere als heute in den Familien; die Reibung, die Händel wären viel erheblicher, ein großer Teil der heutigen individuellen Freiheit wäre vernichtet; eine Disciplin wäre nötig, gegen welche die einſt in der patriarchaliſchen Familie vorhandene ein Kinderſpiel wäre; die Sparſamkeit würde eine viel kleinere; in all’ den Hotels, Erziehungsanſtalten ꝛc. wirt- ſchaftete ja jeder aus der allgemeinen Kaſſe; der mechaniſch-geſellſchaftliche Apparat, ſeine Kontrollen, ſeine Koſten würden außerordentlich wachſen. Der optimiſtiſchen Hoffnung der Socialiſten alſo, eine ſolche Organiſation ſei billiger und beſſer, produziere viel mehr, ſtehen die gegründetſten Bedenken entgegen. Was macht die Arbeit, die heute noch in der Familie geſchieht, billig und gut? Daß ſie mit Liebe für Mann und Kind, für das eigenſte Intereſſe erfolgt, daß ſie nicht bezahlt und gebucht wird, daß dabei nicht gerechnet wird. Nun ſoll, was bisher dieſe Millionen Menſchen in der Familie für ſich und die Ihrigen gethan haben, in Lohnarbeit für Fremde verwandelt werden! Die Pflege des kranken Kindes durch die Mutter kann kein Krankenhaus der Welt erſetzen. Nur weniges von dem, was die Millionen Familienglieder heute zu Hauſe thun, läßt ſich durch maſchinellen Großbetrieb beſſer ausführen; es ſind die tauſend kleinen Dienſte, Beſorgungen, Einwirkungen auf Kinder und Verwandte, die in dem Maße, wie ſie auf bezahlte Fremde übergehen, ſchlechter und teurer werden. Außerdem aber: das durch Jahre dauernde Zuſammenſein von Mann und Frau, von Eltern und Kindern iſt die Vorbedingung für die Erzeugung ſtarker Pflicht- gefühle, heroiſcher Aufopferung, der wichtigſten ſympathiſchen Gefühle überhaupt und für die Überlieferung aller ſeit Jahrtauſenden entſtandenen ſittlichen Errungenſchaften. Die Familie wird dabei in immer kompliziertere Verbindung mit Schulen und anderen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/268>, abgerufen am 19.04.2024.