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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Öffentlichkeit und die geistigen Kollektivkräfte.

Und Hartenstein sagt: "Öffentlichkeit ist eigentlich nur ein verschiedener Ausdruck
für Gesellung. Der Grad der Öffentlichkeit, der in einer Gesellschaft herrscht, ist so
ziemlich der direkte Maßstab für den Grad ihrer innern Verbindung."

3. Die geistigen Bewußtseinskreise und Kollektivkräfte.
Herbart, Sämtliche Werke, Ausgabe 1851 (die Schriften fallen in die Zeit von 1806--41),
hauptsächlich 4: Bruchstücke der Statik des Staates, Bruchstücke der Mechanik des Staates; 9: Über
einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. --
Hartenstein, Grundbegriffe
der ethischen Wissenschaften. 1844. --
Lindner, Ideen zur Psychologie der Gesellschaft. 1871. --
Lazarus und Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsychologie, daraus hauptsächlich 1: Lazarus,
Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie; 2: ders., Über das Verhältnis des Einzelnen zur Ge-
samtheit; 3: ders., Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie; Rüdiger, Über Nationali-
tät etc. --
Bagehot, Der Ursprung der Nationen. Deutsch 1874. -- Gustav Rümelin, Über den
Begriff des Volkes. R. A. 1. --
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 1887. -- F. J. Neu-
mann
, Volk und Nation. 1888. --
Manche der neuesten sociologischen Schriften bewegen sich in
ähnlichen Wegen wie meine Ausführungen, ohne daß ich sie mehr im einzelnen benutzen konnte,
z. B. Novicow, Conscience et volonte sociales. 1897. --
Giddings, The principles of
sociology. 1896.

9. Das allgemeine Wesen derselben. Man könnte die Sprache und die
Schrift als die Bindemittel der Gesellschaft bezeichnen, weil durch sie die Gefühle und
Vorstellungen, die Triebe und Willenskräfte der einzelnen Menschen in Verbindung
und Übereinstimmung gebracht werden, und so die kollektiven geistigen Vorgänge und
die psychischen Massenerscheinungen entstehen. Nur mit einer Theorie dieser Art ge-
langen wir zu einer verständigen Vorstellung von dem, was man die geistigen Kollektiv-
kräfte nennen kann, und damit zu einer richtigen Auffassung der Wechselwirkung von
Individuum und Gesellschaft.

Natürlich entsteht jedes Gefühl, jede Vorstellung, jeder Willensakt im einzelnen
Menschen; seine Sinne, sein Gehirn, sein Geistesleben sind das Instrument, an das sie
geknüpft sind. Dieses Instrument hat sich im Laufe der Kultur sehr vervollkommnet;
es erreicht in einzelnen Individuen jene wunderbare Kraft und Wirksamkeit, die wir
mit dem Namen des Genius bezeichnen. Es war begreiflich, daß mit den großen
historischen Tendenzen, welche vor allem seit dem 15. Jahrhundert auf größere An-
erkennung der einzelnen Individualität hinarbeiteten, in der praktischen Behandlung
und wissenschaftlichen Betrachtung der einzelne Mensch für sich als das letzte und
höchste, als isolierte, selbständige Kraft erschien. Heute kommen wir von dieser Auf-
fassung zurück: wir mögen die Wirkung der großen Männer noch so sehr anerkennen,
sie erscheinen uns doch nicht mehr als isolierte Kräfte, die ganz allein von sich aus
Neues schaffen; wir sehen in ihnen nur führende Spitzen, in denen die Gefühle und
Willensimpulse bestimmter Kreise und Zeiten wie in einem Brennpunkt sich gesammelt
haben, und die von diesem Brennpunkt aus eine sehr verstärkte Wirkung ausüben. Wir
geben heute zu, daß, um das Seelenleben der Völker zu verstehen, wir immer wieder von
der Untersuchung des gewöhnlichen, individuellen Seelenlebens ausgehen müssen, wie wir
es in dem folgenden Abschnitte thun; aber wir betonen zugleich auch, daß das einzelne
Individuum ein Lämpchen oder eine Lampe sei, auf das Familie und Umgebung, Nation
und Kirche, Kultur und Wissenschaft das Öl gieße, welches die Leuchtkraft ganz oder
teilweise bestimme. Natürlich kann das Lämpchen an sich vollkommener oder schlechter
sein; aber das Wichtigere ist doch meist, in welcher Verbindung es stehe mit dem un-
geheuren Behältnis der überlieferten geistigen Arbeit. Wir sagen heute, mit dem nicht
gerade geschmackvollen Ausdruck, jeder Mensch sei beherrscht und bedingt von seinem
Milieu, d. h. von den ihn umgebenden Menschen und Bedingungen der Existenz, unter
welchen die geistigen Elemente die wichtigsten sind.

Wenn dem so ist, so werden die unter denselben Bedingungen lebenden, derselben
Rasse, demselben Volke, demselben Orte und damit denselben Ursachen und Einflüssen
unterliegenden Menschen, trotz vieler kleiner Abweichungen im einzelnen in den Grund-

Die Öffentlichkeit und die geiſtigen Kollektivkräfte.

Und Hartenſtein ſagt: „Öffentlichkeit iſt eigentlich nur ein verſchiedener Ausdruck
für Geſellung. Der Grad der Öffentlichkeit, der in einer Geſellſchaft herrſcht, iſt ſo
ziemlich der direkte Maßſtab für den Grad ihrer innern Verbindung.“

3. Die geiſtigen Bewußtſeinskreiſe und Kollektivkräfte.
Herbart, Sämtliche Werke, Ausgabe 1851 (die Schriften fallen in die Zeit von 1806—41),
hauptſächlich 4: Bruchſtücke der Statik des Staates, Bruchſtücke der Mechanik des Staates; 9: Über
einige Beziehungen zwiſchen Pſychologie und Staatswiſſenſchaft. —
Hartenſtein, Grundbegriffe
der ethiſchen Wiſſenſchaften. 1844. —
Lindner, Ideen zur Pſychologie der Geſellſchaft. 1871. —
Lazarus und Steinthal, Zeitſchrift für Völkerpſychologie, daraus hauptſächlich 1: Lazarus,
Einleitende Gedanken über Völkerpſychologie; 2: derſ., Über das Verhältnis des Einzelnen zur Ge-
ſamtheit; 3: derſ., Einige ſynthetiſche Gedanken zur Völkerpſychologie; Rüdiger, Über Nationali-
tät ꝛc. —
Bagehot, Der Urſprung der Nationen. Deutſch 1874. — Guſtav Rümelin, Über den
Begriff des Volkes. R. A. 1. —
Tönnies, Gemeinſchaft und Geſellſchaft. 1887. — F. J. Neu-
mann
, Volk und Nation. 1888. —
Manche der neueſten ſociologiſchen Schriften bewegen ſich in
ähnlichen Wegen wie meine Ausführungen, ohne daß ich ſie mehr im einzelnen benutzen konnte,
z. B. Novicow, Conscience et volonté sociales. 1897. —
Giddings, The principles of
sociology. 1896.

9. Das allgemeine Weſen derſelben. Man könnte die Sprache und die
Schrift als die Bindemittel der Geſellſchaft bezeichnen, weil durch ſie die Gefühle und
Vorſtellungen, die Triebe und Willenskräfte der einzelnen Menſchen in Verbindung
und Übereinſtimmung gebracht werden, und ſo die kollektiven geiſtigen Vorgänge und
die pſychiſchen Maſſenerſcheinungen entſtehen. Nur mit einer Theorie dieſer Art ge-
langen wir zu einer verſtändigen Vorſtellung von dem, was man die geiſtigen Kollektiv-
kräfte nennen kann, und damit zu einer richtigen Auffaſſung der Wechſelwirkung von
Individuum und Geſellſchaft.

Natürlich entſteht jedes Gefühl, jede Vorſtellung, jeder Willensakt im einzelnen
Menſchen; ſeine Sinne, ſein Gehirn, ſein Geiſtesleben ſind das Inſtrument, an das ſie
geknüpft ſind. Dieſes Inſtrument hat ſich im Laufe der Kultur ſehr vervollkommnet;
es erreicht in einzelnen Individuen jene wunderbare Kraft und Wirkſamkeit, die wir
mit dem Namen des Genius bezeichnen. Es war begreiflich, daß mit den großen
hiſtoriſchen Tendenzen, welche vor allem ſeit dem 15. Jahrhundert auf größere An-
erkennung der einzelnen Individualität hinarbeiteten, in der praktiſchen Behandlung
und wiſſenſchaftlichen Betrachtung der einzelne Menſch für ſich als das letzte und
höchſte, als iſolierte, ſelbſtändige Kraft erſchien. Heute kommen wir von dieſer Auf-
faſſung zurück: wir mögen die Wirkung der großen Männer noch ſo ſehr anerkennen,
ſie erſcheinen uns doch nicht mehr als iſolierte Kräfte, die ganz allein von ſich aus
Neues ſchaffen; wir ſehen in ihnen nur führende Spitzen, in denen die Gefühle und
Willensimpulſe beſtimmter Kreiſe und Zeiten wie in einem Brennpunkt ſich geſammelt
haben, und die von dieſem Brennpunkt aus eine ſehr verſtärkte Wirkung ausüben. Wir
geben heute zu, daß, um das Seelenleben der Völker zu verſtehen, wir immer wieder von
der Unterſuchung des gewöhnlichen, individuellen Seelenlebens ausgehen müſſen, wie wir
es in dem folgenden Abſchnitte thun; aber wir betonen zugleich auch, daß das einzelne
Individuum ein Lämpchen oder eine Lampe ſei, auf das Familie und Umgebung, Nation
und Kirche, Kultur und Wiſſenſchaft das Öl gieße, welches die Leuchtkraft ganz oder
teilweiſe beſtimme. Natürlich kann das Lämpchen an ſich vollkommener oder ſchlechter
ſein; aber das Wichtigere iſt doch meiſt, in welcher Verbindung es ſtehe mit dem un-
geheuren Behältnis der überlieferten geiſtigen Arbeit. Wir ſagen heute, mit dem nicht
gerade geſchmackvollen Ausdruck, jeder Menſch ſei beherrſcht und bedingt von ſeinem
Milieu, d. h. von den ihn umgebenden Menſchen und Bedingungen der Exiſtenz, unter
welchen die geiſtigen Elemente die wichtigſten ſind.

Wenn dem ſo iſt, ſo werden die unter denſelben Bedingungen lebenden, derſelben
Raſſe, demſelben Volke, demſelben Orte und damit denſelben Urſachen und Einflüſſen
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[15/0031] Die Öffentlichkeit und die geiſtigen Kollektivkräfte. Und Hartenſtein ſagt: „Öffentlichkeit iſt eigentlich nur ein verſchiedener Ausdruck für Geſellung. Der Grad der Öffentlichkeit, der in einer Geſellſchaft herrſcht, iſt ſo ziemlich der direkte Maßſtab für den Grad ihrer innern Verbindung.“ 3. Die geiſtigen Bewußtſeinskreiſe und Kollektivkräfte. Herbart, Sämtliche Werke, Ausgabe 1851 (die Schriften fallen in die Zeit von 1806—41), hauptſächlich 4: Bruchſtücke der Statik des Staates, Bruchſtücke der Mechanik des Staates; 9: Über einige Beziehungen zwiſchen Pſychologie und Staatswiſſenſchaft. — Hartenſtein, Grundbegriffe der ethiſchen Wiſſenſchaften. 1844. — Lindner, Ideen zur Pſychologie der Geſellſchaft. 1871. — Lazarus und Steinthal, Zeitſchrift für Völkerpſychologie, daraus hauptſächlich 1: Lazarus, Einleitende Gedanken über Völkerpſychologie; 2: derſ., Über das Verhältnis des Einzelnen zur Ge- ſamtheit; 3: derſ., Einige ſynthetiſche Gedanken zur Völkerpſychologie; Rüdiger, Über Nationali- tät ꝛc. — Bagehot, Der Urſprung der Nationen. Deutſch 1874. — Guſtav Rümelin, Über den Begriff des Volkes. R. A. 1. — Tönnies, Gemeinſchaft und Geſellſchaft. 1887. — F. J. Neu- mann, Volk und Nation. 1888. — Manche der neueſten ſociologiſchen Schriften bewegen ſich in ähnlichen Wegen wie meine Ausführungen, ohne daß ich ſie mehr im einzelnen benutzen konnte, z. B. Novicow, Conscience et volonté sociales. 1897. —Giddings, The principles of sociology. 1896. 9. Das allgemeine Weſen derſelben. Man könnte die Sprache und die Schrift als die Bindemittel der Geſellſchaft bezeichnen, weil durch ſie die Gefühle und Vorſtellungen, die Triebe und Willenskräfte der einzelnen Menſchen in Verbindung und Übereinſtimmung gebracht werden, und ſo die kollektiven geiſtigen Vorgänge und die pſychiſchen Maſſenerſcheinungen entſtehen. Nur mit einer Theorie dieſer Art ge- langen wir zu einer verſtändigen Vorſtellung von dem, was man die geiſtigen Kollektiv- kräfte nennen kann, und damit zu einer richtigen Auffaſſung der Wechſelwirkung von Individuum und Geſellſchaft. Natürlich entſteht jedes Gefühl, jede Vorſtellung, jeder Willensakt im einzelnen Menſchen; ſeine Sinne, ſein Gehirn, ſein Geiſtesleben ſind das Inſtrument, an das ſie geknüpft ſind. Dieſes Inſtrument hat ſich im Laufe der Kultur ſehr vervollkommnet; es erreicht in einzelnen Individuen jene wunderbare Kraft und Wirkſamkeit, die wir mit dem Namen des Genius bezeichnen. Es war begreiflich, daß mit den großen hiſtoriſchen Tendenzen, welche vor allem ſeit dem 15. Jahrhundert auf größere An- erkennung der einzelnen Individualität hinarbeiteten, in der praktiſchen Behandlung und wiſſenſchaftlichen Betrachtung der einzelne Menſch für ſich als das letzte und höchſte, als iſolierte, ſelbſtändige Kraft erſchien. Heute kommen wir von dieſer Auf- faſſung zurück: wir mögen die Wirkung der großen Männer noch ſo ſehr anerkennen, ſie erſcheinen uns doch nicht mehr als iſolierte Kräfte, die ganz allein von ſich aus Neues ſchaffen; wir ſehen in ihnen nur führende Spitzen, in denen die Gefühle und Willensimpulſe beſtimmter Kreiſe und Zeiten wie in einem Brennpunkt ſich geſammelt haben, und die von dieſem Brennpunkt aus eine ſehr verſtärkte Wirkung ausüben. Wir geben heute zu, daß, um das Seelenleben der Völker zu verſtehen, wir immer wieder von der Unterſuchung des gewöhnlichen, individuellen Seelenlebens ausgehen müſſen, wie wir es in dem folgenden Abſchnitte thun; aber wir betonen zugleich auch, daß das einzelne Individuum ein Lämpchen oder eine Lampe ſei, auf das Familie und Umgebung, Nation und Kirche, Kultur und Wiſſenſchaft das Öl gieße, welches die Leuchtkraft ganz oder teilweiſe beſtimme. Natürlich kann das Lämpchen an ſich vollkommener oder ſchlechter ſein; aber das Wichtigere iſt doch meiſt, in welcher Verbindung es ſtehe mit dem un- geheuren Behältnis der überlieferten geiſtigen Arbeit. Wir ſagen heute, mit dem nicht gerade geſchmackvollen Ausdruck, jeder Menſch ſei beherrſcht und bedingt von ſeinem Milieu, d. h. von den ihn umgebenden Menſchen und Bedingungen der Exiſtenz, unter welchen die geiſtigen Elemente die wichtigſten ſind. Wenn dem ſo iſt, ſo werden die unter denſelben Bedingungen lebenden, derſelben Raſſe, demſelben Volke, demſelben Orte und damit denſelben Urſachen und Einflüſſen unterliegenden Menſchen, trotz vieler kleiner Abweichungen im einzelnen in den Grund-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/31>, abgerufen am 28.03.2024.