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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Bildung und Wirkung einheitlicher Bewußtseinskreise.
nur die jeweilig stärksten erheben sich aus diesem psychischen Untergrunde und treten
zeitweilig über die Schwelle des Bewußtseins. So, hat man gesagt, besitzt auch jede
menschliche Gemeinschaft eine Bewußtseinsschwelle. Nur einzelnes, das Bedeutendere
erhebt sich über diese gemeinsame Schwelle und verbindet nun die betreffenden Individuen.
Mancherlei, was in den einzelnen vorgeht, strebt nach Erhebung über die gemeinsame
Schwelle. Aber nur das Erhebliche vermag, in dem Wettkampf der um die Schwelle
sich drängenden Vorstellungen, meist nach langem Ringen und Streben, emporzukommen,
nur das Bedeutsame und Große kann sich dauernd da erhalten.

Aus dem Kampfe und der Reibung der Geister gehen so die Bewußtseinskreise
und geistigen Kollektivkräfte stets neu hervor. Es kann keinen solchen Kreis geben ohne
Autoritäten, ohne einen mehr aktiven, führenden und bestimmenden Teil und einen mehr
passiv aufnehmenden, folgenden und geleiteten. Nirgends ist die demokratische Fiktion
von der Gleichheit aller unwahrer als in diesem freiesten Spiel geistiger Accomodation.
Wenn nichts anderes, bestimmt in stabilen Verhältnissen das Alter die geistige Autorität:
die über 40--50 Jahre alten Männer mit ihren nicht mehr schwankenden befestigten
Überzeugungen beherrschen die Frauen und die jüngeren Männer. So haben schon
hiedurch in der Regel die geistigen Kollektivkräfte ein gewisses befestigtes, nicht allzu
schwankendes Dasein. Aber stets sind sie auch durch den Wechsel der Generationen,
durch das Empordringen jüngerer Kräfte und neuer Ideen, einer Umbildung und
Regeneration unterworfen. Auf der Wechselwirkung zwischen den Alten und den Jungen,
zwischen absterbenden und neu sich bildenden Bewußtseinskreisen, zwischen führenden
Geistern und geführten Massen beruht alles geschichtliche Leben, alle Änderung der
Sitten, sowie der rechtlichen und volkswirtschaftlichen Institutionen. Nur wenn man
sich über dieses nie ruhende Spiel der geistigen Massenbewegungen klar ist, begreift
man, wie die großen Ideen langsam emporkommen, dann aber für Jahre, oft für
Jahrhunderte und Jahrtausende die Herrschaft behaupten, wie die scheinbar vielköpfigen
Mengen von Tausenden und Millionen Menschen nicht das Schauspiel eines krausen
Chaos' und Wirrwarrs aufführen, sondern als Glieder großer geistiger Einheiten zu
Tausenden geschart in einheitlichen klar zu überblickenden Richtungen sich bewegen.

In jedem socialen Körper wird man die vorhandenen Elemente zu solchen
Kollektivkräften geschart nicht unschwer erkennen können. Sie erscheinen als Mittel-
ursachen zwischen den Individuen und den großen Einrichtungen der Gesellschaft, wie
Staat, Kirche und Volkswirtschaft. Nur ein Teil dieser Kräfte krystallisiert sich in festen
Institutionen, ein anderer behauptet ein gleichsam formloses Dasein, dokumentiert sich
aber doch in Erscheinungen, wie die sociale Klassenbildung, die geselligen Kreise, die
politischen und andere Parteien, die Schulrichtungen in Kunst und Wissenschaft, die
Beziehungen des Marktes, der Kundschaft, der Klientel. Ein jeder einheitliche Be-
wußtseinskreis wird sich in übereinstimmenden Werturteilen äußern, die leicht zu fest-
stehenden Wertmaßstäben sich verdichten und so längere Zeit das Urteil auf dem Markte,
in der Politik, in der Gesellschaft beherrschen. Dieser Art ist vor allem neben dem
wirtschaftlichen das sociale Werturteil bestimmter Kreise, das sich in der Ehre ausdrückt.
Die Ehre ist objektiv das sociale Geschätztwerden durch größere oder kleinere gesellschaft-
liche Kreise; sie äußert sich subjektiv in dem Bedürfnis des einzelnen, geschätzt sein zu
wollen; die Ehre wird so zu einer der stärksten massenpsychologischen Kräfte.

Natürlich unterscheiden sich diejenigen geistigen Kollektivkräfte, die nur einen losen,
unorganisierten Massenzusammenhang darstellen, von denen, welche aus sich heraus eine
organisierte Spitze, eine korporative Verfassung erzeugt haben und durch diese Ein-
richtungen nun Stärkung und Nahrung erhalten. Aber andererseits darf man auch
nicht übersehen, daß die freiesten und losesten gesellschaftlichen Massenerscheinungen und
die festesten Einrichtungen des Rechtes und des Staates zu ihrer letzten Voraussetzung
dieselben geistigen Massenprozesse haben. Die freieste Sekte und die katholische Kirche,
die freieste Republik und der centralisierteste Despotismus, die Volkswirtschaft mit
freiestem Tauschverkehr und die mit socialistischer Leitung und Verteilung, -- sie setzen
alle gleichmäßig geistige Kollektivkräfte, einheitliche Bewußtseinskreise, führende Autoritäten,

Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 2

Die Bildung und Wirkung einheitlicher Bewußtſeinskreiſe.
nur die jeweilig ſtärkſten erheben ſich aus dieſem pſychiſchen Untergrunde und treten
zeitweilig über die Schwelle des Bewußtſeins. So, hat man geſagt, beſitzt auch jede
menſchliche Gemeinſchaft eine Bewußtſeinsſchwelle. Nur einzelnes, das Bedeutendere
erhebt ſich über dieſe gemeinſame Schwelle und verbindet nun die betreffenden Individuen.
Mancherlei, was in den einzelnen vorgeht, ſtrebt nach Erhebung über die gemeinſame
Schwelle. Aber nur das Erhebliche vermag, in dem Wettkampf der um die Schwelle
ſich drängenden Vorſtellungen, meiſt nach langem Ringen und Streben, emporzukommen,
nur das Bedeutſame und Große kann ſich dauernd da erhalten.

Aus dem Kampfe und der Reibung der Geiſter gehen ſo die Bewußtſeinskreiſe
und geiſtigen Kollektivkräfte ſtets neu hervor. Es kann keinen ſolchen Kreis geben ohne
Autoritäten, ohne einen mehr aktiven, führenden und beſtimmenden Teil und einen mehr
paſſiv aufnehmenden, folgenden und geleiteten. Nirgends iſt die demokratiſche Fiktion
von der Gleichheit aller unwahrer als in dieſem freieſten Spiel geiſtiger Accomodation.
Wenn nichts anderes, beſtimmt in ſtabilen Verhältniſſen das Alter die geiſtige Autorität:
die über 40—50 Jahre alten Männer mit ihren nicht mehr ſchwankenden befeſtigten
Überzeugungen beherrſchen die Frauen und die jüngeren Männer. So haben ſchon
hiedurch in der Regel die geiſtigen Kollektivkräfte ein gewiſſes befeſtigtes, nicht allzu
ſchwankendes Daſein. Aber ſtets ſind ſie auch durch den Wechſel der Generationen,
durch das Empordringen jüngerer Kräfte und neuer Ideen, einer Umbildung und
Regeneration unterworfen. Auf der Wechſelwirkung zwiſchen den Alten und den Jungen,
zwiſchen abſterbenden und neu ſich bildenden Bewußtſeinskreiſen, zwiſchen führenden
Geiſtern und geführten Maſſen beruht alles geſchichtliche Leben, alle Änderung der
Sitten, ſowie der rechtlichen und volkswirtſchaftlichen Inſtitutionen. Nur wenn man
ſich über dieſes nie ruhende Spiel der geiſtigen Maſſenbewegungen klar iſt, begreift
man, wie die großen Ideen langſam emporkommen, dann aber für Jahre, oft für
Jahrhunderte und Jahrtauſende die Herrſchaft behaupten, wie die ſcheinbar vielköpfigen
Mengen von Tauſenden und Millionen Menſchen nicht das Schauſpiel eines krauſen
Chaos’ und Wirrwarrs aufführen, ſondern als Glieder großer geiſtiger Einheiten zu
Tauſenden geſchart in einheitlichen klar zu überblickenden Richtungen ſich bewegen.

In jedem ſocialen Körper wird man die vorhandenen Elemente zu ſolchen
Kollektivkräften geſchart nicht unſchwer erkennen können. Sie erſcheinen als Mittel-
urſachen zwiſchen den Individuen und den großen Einrichtungen der Geſellſchaft, wie
Staat, Kirche und Volkswirtſchaft. Nur ein Teil dieſer Kräfte kryſtalliſiert ſich in feſten
Inſtitutionen, ein anderer behauptet ein gleichſam formloſes Daſein, dokumentiert ſich
aber doch in Erſcheinungen, wie die ſociale Klaſſenbildung, die geſelligen Kreiſe, die
politiſchen und andere Parteien, die Schulrichtungen in Kunſt und Wiſſenſchaft, die
Beziehungen des Marktes, der Kundſchaft, der Klientel. Ein jeder einheitliche Be-
wußtſeinskreis wird ſich in übereinſtimmenden Werturteilen äußern, die leicht zu feſt-
ſtehenden Wertmaßſtäben ſich verdichten und ſo längere Zeit das Urteil auf dem Markte,
in der Politik, in der Geſellſchaft beherrſchen. Dieſer Art iſt vor allem neben dem
wirtſchaftlichen das ſociale Werturteil beſtimmter Kreiſe, das ſich in der Ehre ausdrückt.
Die Ehre iſt objektiv das ſociale Geſchätztwerden durch größere oder kleinere geſellſchaft-
liche Kreiſe; ſie äußert ſich ſubjektiv in dem Bedürfnis des einzelnen, geſchätzt ſein zu
wollen; die Ehre wird ſo zu einer der ſtärkſten maſſenpſychologiſchen Kräfte.

Natürlich unterſcheiden ſich diejenigen geiſtigen Kollektivkräfte, die nur einen loſen,
unorganiſierten Maſſenzuſammenhang darſtellen, von denen, welche aus ſich heraus eine
organiſierte Spitze, eine korporative Verfaſſung erzeugt haben und durch dieſe Ein-
richtungen nun Stärkung und Nahrung erhalten. Aber andererſeits darf man auch
nicht überſehen, daß die freieſten und loſeſten geſellſchaftlichen Maſſenerſcheinungen und
die feſteſten Einrichtungen des Rechtes und des Staates zu ihrer letzten Vorausſetzung
dieſelben geiſtigen Maſſenprozeſſe haben. Die freieſte Sekte und die katholiſche Kirche,
die freieſte Republik und der centraliſierteſte Despotismus, die Volkswirtſchaft mit
freieſtem Tauſchverkehr und die mit ſocialiſtiſcher Leitung und Verteilung, — ſie ſetzen
alle gleichmäßig geiſtige Kollektivkräfte, einheitliche Bewußtſeinskreiſe, führende Autoritäten,

Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 2
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[17/0033] Die Bildung und Wirkung einheitlicher Bewußtſeinskreiſe. nur die jeweilig ſtärkſten erheben ſich aus dieſem pſychiſchen Untergrunde und treten zeitweilig über die Schwelle des Bewußtſeins. So, hat man geſagt, beſitzt auch jede menſchliche Gemeinſchaft eine Bewußtſeinsſchwelle. Nur einzelnes, das Bedeutendere erhebt ſich über dieſe gemeinſame Schwelle und verbindet nun die betreffenden Individuen. Mancherlei, was in den einzelnen vorgeht, ſtrebt nach Erhebung über die gemeinſame Schwelle. Aber nur das Erhebliche vermag, in dem Wettkampf der um die Schwelle ſich drängenden Vorſtellungen, meiſt nach langem Ringen und Streben, emporzukommen, nur das Bedeutſame und Große kann ſich dauernd da erhalten. Aus dem Kampfe und der Reibung der Geiſter gehen ſo die Bewußtſeinskreiſe und geiſtigen Kollektivkräfte ſtets neu hervor. Es kann keinen ſolchen Kreis geben ohne Autoritäten, ohne einen mehr aktiven, führenden und beſtimmenden Teil und einen mehr paſſiv aufnehmenden, folgenden und geleiteten. Nirgends iſt die demokratiſche Fiktion von der Gleichheit aller unwahrer als in dieſem freieſten Spiel geiſtiger Accomodation. Wenn nichts anderes, beſtimmt in ſtabilen Verhältniſſen das Alter die geiſtige Autorität: die über 40—50 Jahre alten Männer mit ihren nicht mehr ſchwankenden befeſtigten Überzeugungen beherrſchen die Frauen und die jüngeren Männer. So haben ſchon hiedurch in der Regel die geiſtigen Kollektivkräfte ein gewiſſes befeſtigtes, nicht allzu ſchwankendes Daſein. Aber ſtets ſind ſie auch durch den Wechſel der Generationen, durch das Empordringen jüngerer Kräfte und neuer Ideen, einer Umbildung und Regeneration unterworfen. Auf der Wechſelwirkung zwiſchen den Alten und den Jungen, zwiſchen abſterbenden und neu ſich bildenden Bewußtſeinskreiſen, zwiſchen führenden Geiſtern und geführten Maſſen beruht alles geſchichtliche Leben, alle Änderung der Sitten, ſowie der rechtlichen und volkswirtſchaftlichen Inſtitutionen. Nur wenn man ſich über dieſes nie ruhende Spiel der geiſtigen Maſſenbewegungen klar iſt, begreift man, wie die großen Ideen langſam emporkommen, dann aber für Jahre, oft für Jahrhunderte und Jahrtauſende die Herrſchaft behaupten, wie die ſcheinbar vielköpfigen Mengen von Tauſenden und Millionen Menſchen nicht das Schauſpiel eines krauſen Chaos’ und Wirrwarrs aufführen, ſondern als Glieder großer geiſtiger Einheiten zu Tauſenden geſchart in einheitlichen klar zu überblickenden Richtungen ſich bewegen. In jedem ſocialen Körper wird man die vorhandenen Elemente zu ſolchen Kollektivkräften geſchart nicht unſchwer erkennen können. Sie erſcheinen als Mittel- urſachen zwiſchen den Individuen und den großen Einrichtungen der Geſellſchaft, wie Staat, Kirche und Volkswirtſchaft. Nur ein Teil dieſer Kräfte kryſtalliſiert ſich in feſten Inſtitutionen, ein anderer behauptet ein gleichſam formloſes Daſein, dokumentiert ſich aber doch in Erſcheinungen, wie die ſociale Klaſſenbildung, die geſelligen Kreiſe, die politiſchen und andere Parteien, die Schulrichtungen in Kunſt und Wiſſenſchaft, die Beziehungen des Marktes, der Kundſchaft, der Klientel. Ein jeder einheitliche Be- wußtſeinskreis wird ſich in übereinſtimmenden Werturteilen äußern, die leicht zu feſt- ſtehenden Wertmaßſtäben ſich verdichten und ſo längere Zeit das Urteil auf dem Markte, in der Politik, in der Geſellſchaft beherrſchen. Dieſer Art iſt vor allem neben dem wirtſchaftlichen das ſociale Werturteil beſtimmter Kreiſe, das ſich in der Ehre ausdrückt. Die Ehre iſt objektiv das ſociale Geſchätztwerden durch größere oder kleinere geſellſchaft- liche Kreiſe; ſie äußert ſich ſubjektiv in dem Bedürfnis des einzelnen, geſchätzt ſein zu wollen; die Ehre wird ſo zu einer der ſtärkſten maſſenpſychologiſchen Kräfte. Natürlich unterſcheiden ſich diejenigen geiſtigen Kollektivkräfte, die nur einen loſen, unorganiſierten Maſſenzuſammenhang darſtellen, von denen, welche aus ſich heraus eine organiſierte Spitze, eine korporative Verfaſſung erzeugt haben und durch dieſe Ein- richtungen nun Stärkung und Nahrung erhalten. Aber andererſeits darf man auch nicht überſehen, daß die freieſten und loſeſten geſellſchaftlichen Maſſenerſcheinungen und die feſteſten Einrichtungen des Rechtes und des Staates zu ihrer letzten Vorausſetzung dieſelben geiſtigen Maſſenprozeſſe haben. Die freieſte Sekte und die katholiſche Kirche, die freieſte Republik und der centraliſierteſte Despotismus, die Volkswirtſchaft mit freieſtem Tauſchverkehr und die mit ſocialiſtiſcher Leitung und Verteilung, — ſie ſetzen alle gleichmäßig geiſtige Kollektivkräfte, einheitliche Bewußtſeinskreiſe, führende Autoritäten, Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 2

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/33>, abgerufen am 28.03.2024.