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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Ordnung der Gefühle. Die Bedürfnisse.
schaftlichen Einrichtungen reichen die Mittel dar, die historisch, ethnographisch und
individuell verschieden gearteten Gefühlsreize immer wieder abzustumpfen. Als Bedürfnis
bezeichnen wir jede mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Dringlichkeit auftretende
gewohnheitsmäßige, aus unserem Seelen- und Körperleben entspringende Notwendigkeit,
durch irgend eine Berührung mit der Außenwelt unsere Unlust zu bannen, unsere Lust
zu mehren. Die materiellen oder ideellen Objekte, die wir benützen, ge- oder verbrauchen,
die Verhältnisse, die ein bestimmtes Verhalten oder Thun ermöglichen, nennen wir
ebenfalls Bedürfnis. Der Wein, der Mittagsschlaf, das Rauchen, der Opernbesuch sind
mir oder anderen Bedürfnis, heißt so viel, wie ich bedarf ihrer, um einem Unbehagen
auszuweichen. Der ganze Umkreis menschlicher Gefühle, der niedrigen wie der höheren,
erzeugt so Bedürfnisse. Der Mensch hat sinnliche, ästhetische, intellektuelle, moralische
Bedürfnisse. Aber mit Vorliebe gebraucht unsere Sprache das Wort für die Notwendig-
keit, durch den wirtschaftlichen Apparat von Gütern und Diensten den niedrigen wie den
höheren Gefühlen die gewohnte Funktion zu verschaffen. Die Bedürfnisbefriedigung, hat
man darum gesagt, ist das Ziel aller Wirtschaft; die Bedürfnisse hat man als den
Ausgangspunkt alles wirtschaftlichen Handelns und aller wirtschaftlichen Produktion
hingestellt, was ganz richtig ist, wenn man das Wort Bedürfnis in diesem engeren
Sinne nimmt. Denn im weiteren Sinne ist Bedürfnisbefriedigung der Zweck alles
menschlichen Handelns, nicht bloß des wirtschaftlichen, denn zu allem Handeln geben
Lust- und Unlustgefühle und die Erinnerung an sie den Anstoß.

Man hat in der bisherigen Nationalökonomie die Bedürfnisse in leibliche und
geistige, in Natur-, Anstands- und Luxusbedürfnisse, in Existenz- und Kulturbedürfnisse,
in individuelle und Gemein- oder Kollektivbedürfnisse eingeteilt. Man hat ihre Erörte-
rung in der Regel an die Spitze aller theoretischen Betrachtung gestellt, oft auch bei
der Erörterung der Nachfrage, der Haushaltungsbudgets, der Konsumtion, der socialen
Fragen das Wesentliche über sie gesagt.

Es will mir scheinen, daß mit der bloßen Einteilung der Bedürfnisse in einige
Kategorien nicht viel gewonnen gewesen sei; die Scheidung von individuellen und
Gemeinbedürfnissen, wie sie Sax und A. Wagner vornahmen, hatte den theoretischen
Zweck, gleichsam ein Fundament der wirtschaftlichen Gemeinde- und Staatsthätigkeit zu
schaffen. Aber es ist für sie doch wenig gewonnen und bewiesen, wenn man der Armee
oder dem Eisenbahnbau die Etikette des Gemeinbedürfnisses aufklebt; es handelt sich
doch um den Nachweis, daß die Tausende und Millionen das Bedürfnis des militärischen
Schutzes und des Verkehrs erst individuell fühlen, daß dann hieraus eine Kollektivströmung
erwachse, und die rechten Staatsorgane hiefür vorhanden seien, welche die Sache in die Hand
nehmen, die Widerstrebenden überzeugen oder zwingen, daß so große historisch-politische
Prozesse gewisse wirtschaftliche Funktionen in die Hand öffentlicher Organe legen. Am meisten
scheint mir die Lehre von den Bedürfnissen durch die historische Untersuchung des Luxus,
wie sie Roscher und Baudrillart anstellen, und ähnliche kulturgeschichtliche Untersuchungen
gefördert worden zu sein, während die Versuche von Bentham, Jevons und anderen,
von mathematisch-mechanischem Standpunkte aus die Lust- und Schmerzgefühle einer
Messung zu unterwerfen, die Bedürfnisse zu begründen auf ein Rechenexempel des Maxi-
mums an Lust und des Minimums an Unlust, uns wohl in einzelnen Punkten, so weit
sie auf empirisch-historischer Grundlage, auf Beobachtung des praktischen Seelenlebens
beruhen, gefördert, aber doch überwiegend zu Gemeinplätzen geführt haben. Nur für
die Wertlehre haben sich die Unterscheidungen von Jevons und der österreichischen Schule
teilweise als fruchtbar erwiesen, weil es sich nicht sowohl um die Bemessung der Gefühle
und Bedürfnisse, als um die Bemessung der Brauchbarkeit der Güter nach verschiedenen
Gesichtspunkten hin in diesen Untersuchungen handelte. Wir kommen bei der Wertlehre
und der Nachfrage darauf zurück.

Da wir auch auf andere specielle Ergebnisse der Bedürfnisentwickelung besser im
Zusammenhang der einzelnen volkswirtschaftlichen Fragen eingehen, so handelt es sich
hier nur um ein allgemeines Wort der Erklärung der Bedürfnisse; wir müssen ver-
suchen, sie als psychologische, individuelle und Massenerscheinung, als wirtschaftliche

Die Ordnung der Gefühle. Die Bedürfniſſe.
ſchaftlichen Einrichtungen reichen die Mittel dar, die hiſtoriſch, ethnographiſch und
individuell verſchieden gearteten Gefühlsreize immer wieder abzuſtumpfen. Als Bedürfnis
bezeichnen wir jede mit einer gewiſſen Regelmäßigkeit und Dringlichkeit auftretende
gewohnheitsmäßige, aus unſerem Seelen- und Körperleben entſpringende Notwendigkeit,
durch irgend eine Berührung mit der Außenwelt unſere Unluſt zu bannen, unſere Luſt
zu mehren. Die materiellen oder ideellen Objekte, die wir benützen, ge- oder verbrauchen,
die Verhältniſſe, die ein beſtimmtes Verhalten oder Thun ermöglichen, nennen wir
ebenfalls Bedürfnis. Der Wein, der Mittagsſchlaf, das Rauchen, der Opernbeſuch ſind
mir oder anderen Bedürfnis, heißt ſo viel, wie ich bedarf ihrer, um einem Unbehagen
auszuweichen. Der ganze Umkreis menſchlicher Gefühle, der niedrigen wie der höheren,
erzeugt ſo Bedürfniſſe. Der Menſch hat ſinnliche, äſthetiſche, intellektuelle, moraliſche
Bedürfniſſe. Aber mit Vorliebe gebraucht unſere Sprache das Wort für die Notwendig-
keit, durch den wirtſchaftlichen Apparat von Gütern und Dienſten den niedrigen wie den
höheren Gefühlen die gewohnte Funktion zu verſchaffen. Die Bedürfnisbefriedigung, hat
man darum geſagt, iſt das Ziel aller Wirtſchaft; die Bedürfniſſe hat man als den
Ausgangspunkt alles wirtſchaftlichen Handelns und aller wirtſchaftlichen Produktion
hingeſtellt, was ganz richtig iſt, wenn man das Wort Bedürfnis in dieſem engeren
Sinne nimmt. Denn im weiteren Sinne iſt Bedürfnisbefriedigung der Zweck alles
menſchlichen Handelns, nicht bloß des wirtſchaftlichen, denn zu allem Handeln geben
Luſt- und Unluſtgefühle und die Erinnerung an ſie den Anſtoß.

Man hat in der bisherigen Nationalökonomie die Bedürfniſſe in leibliche und
geiſtige, in Natur-, Anſtands- und Luxusbedürfniſſe, in Exiſtenz- und Kulturbedürfniſſe,
in individuelle und Gemein- oder Kollektivbedürfniſſe eingeteilt. Man hat ihre Erörte-
rung in der Regel an die Spitze aller theoretiſchen Betrachtung geſtellt, oft auch bei
der Erörterung der Nachfrage, der Haushaltungsbudgets, der Konſumtion, der ſocialen
Fragen das Weſentliche über ſie geſagt.

Es will mir ſcheinen, daß mit der bloßen Einteilung der Bedürfniſſe in einige
Kategorien nicht viel gewonnen geweſen ſei; die Scheidung von individuellen und
Gemeinbedürfniſſen, wie ſie Sax und A. Wagner vornahmen, hatte den theoretiſchen
Zweck, gleichſam ein Fundament der wirtſchaftlichen Gemeinde- und Staatsthätigkeit zu
ſchaffen. Aber es iſt für ſie doch wenig gewonnen und bewieſen, wenn man der Armee
oder dem Eiſenbahnbau die Etikette des Gemeinbedürfniſſes aufklebt; es handelt ſich
doch um den Nachweis, daß die Tauſende und Millionen das Bedürfnis des militäriſchen
Schutzes und des Verkehrs erſt individuell fühlen, daß dann hieraus eine Kollektivſtrömung
erwachſe, und die rechten Staatsorgane hiefür vorhanden ſeien, welche die Sache in die Hand
nehmen, die Widerſtrebenden überzeugen oder zwingen, daß ſo große hiſtoriſch-politiſche
Prozeſſe gewiſſe wirtſchaftliche Funktionen in die Hand öffentlicher Organe legen. Am meiſten
ſcheint mir die Lehre von den Bedürfniſſen durch die hiſtoriſche Unterſuchung des Luxus,
wie ſie Roſcher und Baudrillart anſtellen, und ähnliche kulturgeſchichtliche Unterſuchungen
gefördert worden zu ſein, während die Verſuche von Bentham, Jevons und anderen,
von mathematiſch-mechaniſchem Standpunkte aus die Luſt- und Schmerzgefühle einer
Meſſung zu unterwerfen, die Bedürfniſſe zu begründen auf ein Rechenexempel des Maxi-
mums an Luſt und des Minimums an Unluſt, uns wohl in einzelnen Punkten, ſo weit
ſie auf empiriſch-hiſtoriſcher Grundlage, auf Beobachtung des praktiſchen Seelenlebens
beruhen, gefördert, aber doch überwiegend zu Gemeinplätzen geführt haben. Nur für
die Wertlehre haben ſich die Unterſcheidungen von Jevons und der öſterreichiſchen Schule
teilweiſe als fruchtbar erwieſen, weil es ſich nicht ſowohl um die Bemeſſung der Gefühle
und Bedürfniſſe, als um die Bemeſſung der Brauchbarkeit der Güter nach verſchiedenen
Geſichtspunkten hin in dieſen Unterſuchungen handelte. Wir kommen bei der Wertlehre
und der Nachfrage darauf zurück.

Da wir auch auf andere ſpecielle Ergebniſſe der Bedürfnisentwickelung beſſer im
Zuſammenhang der einzelnen volkswirtſchaftlichen Fragen eingehen, ſo handelt es ſich
hier nur um ein allgemeines Wort der Erklärung der Bedürfniſſe; wir müſſen ver-
ſuchen, ſie als pſychologiſche, individuelle und Maſſenerſcheinung, als wirtſchaftliche

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[23/0039] Die Ordnung der Gefühle. Die Bedürfniſſe. ſchaftlichen Einrichtungen reichen die Mittel dar, die hiſtoriſch, ethnographiſch und individuell verſchieden gearteten Gefühlsreize immer wieder abzuſtumpfen. Als Bedürfnis bezeichnen wir jede mit einer gewiſſen Regelmäßigkeit und Dringlichkeit auftretende gewohnheitsmäßige, aus unſerem Seelen- und Körperleben entſpringende Notwendigkeit, durch irgend eine Berührung mit der Außenwelt unſere Unluſt zu bannen, unſere Luſt zu mehren. Die materiellen oder ideellen Objekte, die wir benützen, ge- oder verbrauchen, die Verhältniſſe, die ein beſtimmtes Verhalten oder Thun ermöglichen, nennen wir ebenfalls Bedürfnis. Der Wein, der Mittagsſchlaf, das Rauchen, der Opernbeſuch ſind mir oder anderen Bedürfnis, heißt ſo viel, wie ich bedarf ihrer, um einem Unbehagen auszuweichen. Der ganze Umkreis menſchlicher Gefühle, der niedrigen wie der höheren, erzeugt ſo Bedürfniſſe. Der Menſch hat ſinnliche, äſthetiſche, intellektuelle, moraliſche Bedürfniſſe. Aber mit Vorliebe gebraucht unſere Sprache das Wort für die Notwendig- keit, durch den wirtſchaftlichen Apparat von Gütern und Dienſten den niedrigen wie den höheren Gefühlen die gewohnte Funktion zu verſchaffen. Die Bedürfnisbefriedigung, hat man darum geſagt, iſt das Ziel aller Wirtſchaft; die Bedürfniſſe hat man als den Ausgangspunkt alles wirtſchaftlichen Handelns und aller wirtſchaftlichen Produktion hingeſtellt, was ganz richtig iſt, wenn man das Wort Bedürfnis in dieſem engeren Sinne nimmt. Denn im weiteren Sinne iſt Bedürfnisbefriedigung der Zweck alles menſchlichen Handelns, nicht bloß des wirtſchaftlichen, denn zu allem Handeln geben Luſt- und Unluſtgefühle und die Erinnerung an ſie den Anſtoß. Man hat in der bisherigen Nationalökonomie die Bedürfniſſe in leibliche und geiſtige, in Natur-, Anſtands- und Luxusbedürfniſſe, in Exiſtenz- und Kulturbedürfniſſe, in individuelle und Gemein- oder Kollektivbedürfniſſe eingeteilt. Man hat ihre Erörte- rung in der Regel an die Spitze aller theoretiſchen Betrachtung geſtellt, oft auch bei der Erörterung der Nachfrage, der Haushaltungsbudgets, der Konſumtion, der ſocialen Fragen das Weſentliche über ſie geſagt. Es will mir ſcheinen, daß mit der bloßen Einteilung der Bedürfniſſe in einige Kategorien nicht viel gewonnen geweſen ſei; die Scheidung von individuellen und Gemeinbedürfniſſen, wie ſie Sax und A. Wagner vornahmen, hatte den theoretiſchen Zweck, gleichſam ein Fundament der wirtſchaftlichen Gemeinde- und Staatsthätigkeit zu ſchaffen. Aber es iſt für ſie doch wenig gewonnen und bewieſen, wenn man der Armee oder dem Eiſenbahnbau die Etikette des Gemeinbedürfniſſes aufklebt; es handelt ſich doch um den Nachweis, daß die Tauſende und Millionen das Bedürfnis des militäriſchen Schutzes und des Verkehrs erſt individuell fühlen, daß dann hieraus eine Kollektivſtrömung erwachſe, und die rechten Staatsorgane hiefür vorhanden ſeien, welche die Sache in die Hand nehmen, die Widerſtrebenden überzeugen oder zwingen, daß ſo große hiſtoriſch-politiſche Prozeſſe gewiſſe wirtſchaftliche Funktionen in die Hand öffentlicher Organe legen. Am meiſten ſcheint mir die Lehre von den Bedürfniſſen durch die hiſtoriſche Unterſuchung des Luxus, wie ſie Roſcher und Baudrillart anſtellen, und ähnliche kulturgeſchichtliche Unterſuchungen gefördert worden zu ſein, während die Verſuche von Bentham, Jevons und anderen, von mathematiſch-mechaniſchem Standpunkte aus die Luſt- und Schmerzgefühle einer Meſſung zu unterwerfen, die Bedürfniſſe zu begründen auf ein Rechenexempel des Maxi- mums an Luſt und des Minimums an Unluſt, uns wohl in einzelnen Punkten, ſo weit ſie auf empiriſch-hiſtoriſcher Grundlage, auf Beobachtung des praktiſchen Seelenlebens beruhen, gefördert, aber doch überwiegend zu Gemeinplätzen geführt haben. Nur für die Wertlehre haben ſich die Unterſcheidungen von Jevons und der öſterreichiſchen Schule teilweiſe als fruchtbar erwieſen, weil es ſich nicht ſowohl um die Bemeſſung der Gefühle und Bedürfniſſe, als um die Bemeſſung der Brauchbarkeit der Güter nach verſchiedenen Geſichtspunkten hin in dieſen Unterſuchungen handelte. Wir kommen bei der Wertlehre und der Nachfrage darauf zurück. Da wir auch auf andere ſpecielle Ergebniſſe der Bedürfnisentwickelung beſſer im Zuſammenhang der einzelnen volkswirtſchaftlichen Fragen eingehen, ſo handelt es ſich hier nur um ein allgemeines Wort der Erklärung der Bedürfniſſe; wir müſſen ver- ſuchen, ſie als pſychologiſche, individuelle und Maſſenerſcheinung, als wirtſchaftliche

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/39>, abgerufen am 18.04.2024.