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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
neue, das Ständetum beseitigende Rechtsordnung und die neue gesellschaftliche Ordnung
des Bildungs- und Erziehungswesens in der That ein ganz anderer Zustand der
Gesellschaftsordnung und Klassenbildung entstanden, der gegenüber der alten Erblichkeit
der Berufe und der ständischen Verfassung der Gesellschaft eine weltgeschichtliche Wendung
bedeutete; die Klassen schienen aller Schranken entledigt; die Wertschätzung des indivi-
duellen Verdienstes schien gekommen; die Härte der bestehenden Klassenordnung hatte
jedenfalls einen erheblichen Teil ihrer schlimmsten Spitzen verloren.

Und doch konnte das neue Recht natürlich weder die Eigenschaften der Menschen,
wie sie in den verschiedenen Klassen abgestuft nun einmal bestanden, noch die bestehenden
Besitzverhältnisse von Grund aus plötzlich ändern. Ja, die neue Wirtschaftsordnung gab
den Fähigen und Rücksichtslosen freiere Bahn des Erwerbes, nahm den Schwächeren
aus den mittleren und unteren Klassen, die zunächst weder die entsprechende Schul-
und technische Bildung, noch die Fähigkeit hatten, die neue formale Freiheit richtig zu
gebrauchen, viele Stützen und Hülfen, welche ihnen die alte Wirtschaftsordnung gegeben
hatte.

Auch wo diese Schattenseiten sich weniger zeigten, konnte der neue Rechtszustand
nicht ändern, daß die Mehrzahl der Kinder wenn nicht im Specialberuf, so doch in
der socialen Klasse der Eltern bleiben. Nur den fähigeren und besseren Kindern ist
heute das Ergreifen anderer Berufe und das Aufrücken möglich, meist auch nur in der
Weise, daß sie in der zweiten oder dritten Generation die höheren Sprossen der gesell-
schaftlichen Leiter erreichen, nicht bloß weil es sich um eine langsame körperliche und
geistige Umbildung handelt, sondern auch weil es meist nur den aufopferungsfähigsten
und vom Glück begünstigten Eltern gelingt, ihre Kinder besser zu erziehen, ihnen einen
etwas größeren Besitz als weiteres Mittel des Emporsteigens zu hinterlassen. Nicht die
socialen Klassen sind also beseitigt, sondern mehr nur ihre Abgeschlossenheit. Freilich
ist das schon sehr viel, bedeutet eine gänzlich veränderte Struktur der Gesellschaft; jede
ganz einseitige, mißbräuchliche Klassenherrschaft ist damit in der Regel beseitigt, zumal
wenn durch weitere Fortschritte im Schulwesen, durch weitere Erleichterungen des Empor-
steigens der Talente in allen Carrieren, durch höhere Wertschätzung der persönlichen
Eigenschaften und verminderte des Geldbeutels diese Tendenzen noch verstärkt werden,
die freie Berufswahl aller noch mehr zur Wahrheit gemacht wird.

Die socialen Klassen also bleiben; aber sie sind nicht mehr erblich, sie haben das
gegenseitige Connubium; es entsteht damit eine gewisse Blutsmischung durch alle Klassen
hindurch, wenn auch die Ehe innerhalb der Klassen das Vorherrschende bleibt. Die
Klassen können im heutigen Rechtsstaate weder mehr solche Vorrechte erhalten, noch so
zu exklusiven Korporationen und Ständen sich organisieren wie früher. Schon die
heutige Öffentlichkeit, die Presse, der Verkehr erlaubt den Klassen nicht mehr, so sich
in Ständegeist und Exklusivität einzuschließen wie früher. Jede halbwegs gute und
starke Regierung steht heute mit einem starken Beamten- und Rechtsapparate über den
Klassen. Sie und die gesunde öffentliche Meinung bringen in die bornierteste Klassen-
versammlung einige Lichtstrahlen der Gesamtinteressen hinein. Die Organisation der
öffentlichen Meinung hat eine Scham und ein Gewissen gegenüber den Klassenvorurteilen
und -mißbräuchen erzeugt, die in den Zeiten ohne Presse und Buchdruck fehlten.

Das vollständige Aufgehen des Menschen in der Klasse und im Klassenegoismus
war im Mittelalter möglich und vielfach psychologisch natürlich; heute ist das Gleiche
Menschen, die an der allgemeinen Bildung, am Staatsgefühle teilhaben, weit schwerer;
der obere Teil der Gesellschaft kommt mit andersartigen Klassenelementen mehr in Be-
rührung als früher; die meisten Gebildeten empfinden nur mit einem Bruchteile ihres
Wesens die Klassenzugehörigkeit. Sie sind zu individuelle, vielfach auch zu egoistische
Menschen, um sich ganz an die Klasse hinzugeben. Daß das nicht für alle Kreise,
besonders nicht für die unteren Klassen gelte, darauf komme ich gleich.

Auch die letzteren sind durch Schule, Presse, Vereinsleben etwas anders geworden,
haben viel gesehen und viel gelernt, haben ein besseres Leben, höhere Bedürfnisse, einen
lebendigen Wissensdrang erhalten. Daraus entspringen ihre Fähigkeiten, mehr zu leisten,

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
neue, das Ständetum beſeitigende Rechtsordnung und die neue geſellſchaftliche Ordnung
des Bildungs- und Erziehungsweſens in der That ein ganz anderer Zuſtand der
Geſellſchaftsordnung und Klaſſenbildung entſtanden, der gegenüber der alten Erblichkeit
der Berufe und der ſtändiſchen Verfaſſung der Geſellſchaft eine weltgeſchichtliche Wendung
bedeutete; die Klaſſen ſchienen aller Schranken entledigt; die Wertſchätzung des indivi-
duellen Verdienſtes ſchien gekommen; die Härte der beſtehenden Klaſſenordnung hatte
jedenfalls einen erheblichen Teil ihrer ſchlimmſten Spitzen verloren.

Und doch konnte das neue Recht natürlich weder die Eigenſchaften der Menſchen,
wie ſie in den verſchiedenen Klaſſen abgeſtuft nun einmal beſtanden, noch die beſtehenden
Beſitzverhältniſſe von Grund aus plötzlich ändern. Ja, die neue Wirtſchaftsordnung gab
den Fähigen und Rückſichtsloſen freiere Bahn des Erwerbes, nahm den Schwächeren
aus den mittleren und unteren Klaſſen, die zunächſt weder die entſprechende Schul-
und techniſche Bildung, noch die Fähigkeit hatten, die neue formale Freiheit richtig zu
gebrauchen, viele Stützen und Hülfen, welche ihnen die alte Wirtſchaftsordnung gegeben
hatte.

Auch wo dieſe Schattenſeiten ſich weniger zeigten, konnte der neue Rechtszuſtand
nicht ändern, daß die Mehrzahl der Kinder wenn nicht im Specialberuf, ſo doch in
der ſocialen Klaſſe der Eltern bleiben. Nur den fähigeren und beſſeren Kindern iſt
heute das Ergreifen anderer Berufe und das Aufrücken möglich, meiſt auch nur in der
Weiſe, daß ſie in der zweiten oder dritten Generation die höheren Sproſſen der geſell-
ſchaftlichen Leiter erreichen, nicht bloß weil es ſich um eine langſame körperliche und
geiſtige Umbildung handelt, ſondern auch weil es meiſt nur den aufopferungsfähigſten
und vom Glück begünſtigten Eltern gelingt, ihre Kinder beſſer zu erziehen, ihnen einen
etwas größeren Beſitz als weiteres Mittel des Emporſteigens zu hinterlaſſen. Nicht die
ſocialen Klaſſen ſind alſo beſeitigt, ſondern mehr nur ihre Abgeſchloſſenheit. Freilich
iſt das ſchon ſehr viel, bedeutet eine gänzlich veränderte Struktur der Geſellſchaft; jede
ganz einſeitige, mißbräuchliche Klaſſenherrſchaft iſt damit in der Regel beſeitigt, zumal
wenn durch weitere Fortſchritte im Schulweſen, durch weitere Erleichterungen des Empor-
ſteigens der Talente in allen Carrieren, durch höhere Wertſchätzung der perſönlichen
Eigenſchaften und verminderte des Geldbeutels dieſe Tendenzen noch verſtärkt werden,
die freie Berufswahl aller noch mehr zur Wahrheit gemacht wird.

Die ſocialen Klaſſen alſo bleiben; aber ſie ſind nicht mehr erblich, ſie haben das
gegenſeitige Connubium; es entſteht damit eine gewiſſe Blutsmiſchung durch alle Klaſſen
hindurch, wenn auch die Ehe innerhalb der Klaſſen das Vorherrſchende bleibt. Die
Klaſſen können im heutigen Rechtsſtaate weder mehr ſolche Vorrechte erhalten, noch ſo
zu exkluſiven Korporationen und Ständen ſich organiſieren wie früher. Schon die
heutige Öffentlichkeit, die Preſſe, der Verkehr erlaubt den Klaſſen nicht mehr, ſo ſich
in Ständegeiſt und Exkluſivität einzuſchließen wie früher. Jede halbwegs gute und
ſtarke Regierung ſteht heute mit einem ſtarken Beamten- und Rechtsapparate über den
Klaſſen. Sie und die geſunde öffentliche Meinung bringen in die bornierteſte Klaſſen-
verſammlung einige Lichtſtrahlen der Geſamtintereſſen hinein. Die Organiſation der
öffentlichen Meinung hat eine Scham und ein Gewiſſen gegenüber den Klaſſenvorurteilen
und -mißbräuchen erzeugt, die in den Zeiten ohne Preſſe und Buchdruck fehlten.

Das vollſtändige Aufgehen des Menſchen in der Klaſſe und im Klaſſenegoismus
war im Mittelalter möglich und vielfach pſychologiſch natürlich; heute iſt das Gleiche
Menſchen, die an der allgemeinen Bildung, am Staatsgefühle teilhaben, weit ſchwerer;
der obere Teil der Geſellſchaft kommt mit andersartigen Klaſſenelementen mehr in Be-
rührung als früher; die meiſten Gebildeten empfinden nur mit einem Bruchteile ihres
Weſens die Klaſſenzugehörigkeit. Sie ſind zu individuelle, vielfach auch zu egoiſtiſche
Menſchen, um ſich ganz an die Klaſſe hinzugeben. Daß das nicht für alle Kreiſe,
beſonders nicht für die unteren Klaſſen gelte, darauf komme ich gleich.

Auch die letzteren ſind durch Schule, Preſſe, Vereinsleben etwas anders geworden,
haben viel geſehen und viel gelernt, haben ein beſſeres Leben, höhere Bedürfniſſe, einen
lebendigen Wiſſensdrang erhalten. Daraus entſpringen ihre Fähigkeiten, mehr zu leiſten,

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[406/0422] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. neue, das Ständetum beſeitigende Rechtsordnung und die neue geſellſchaftliche Ordnung des Bildungs- und Erziehungsweſens in der That ein ganz anderer Zuſtand der Geſellſchaftsordnung und Klaſſenbildung entſtanden, der gegenüber der alten Erblichkeit der Berufe und der ſtändiſchen Verfaſſung der Geſellſchaft eine weltgeſchichtliche Wendung bedeutete; die Klaſſen ſchienen aller Schranken entledigt; die Wertſchätzung des indivi- duellen Verdienſtes ſchien gekommen; die Härte der beſtehenden Klaſſenordnung hatte jedenfalls einen erheblichen Teil ihrer ſchlimmſten Spitzen verloren. Und doch konnte das neue Recht natürlich weder die Eigenſchaften der Menſchen, wie ſie in den verſchiedenen Klaſſen abgeſtuft nun einmal beſtanden, noch die beſtehenden Beſitzverhältniſſe von Grund aus plötzlich ändern. Ja, die neue Wirtſchaftsordnung gab den Fähigen und Rückſichtsloſen freiere Bahn des Erwerbes, nahm den Schwächeren aus den mittleren und unteren Klaſſen, die zunächſt weder die entſprechende Schul- und techniſche Bildung, noch die Fähigkeit hatten, die neue formale Freiheit richtig zu gebrauchen, viele Stützen und Hülfen, welche ihnen die alte Wirtſchaftsordnung gegeben hatte. Auch wo dieſe Schattenſeiten ſich weniger zeigten, konnte der neue Rechtszuſtand nicht ändern, daß die Mehrzahl der Kinder wenn nicht im Specialberuf, ſo doch in der ſocialen Klaſſe der Eltern bleiben. Nur den fähigeren und beſſeren Kindern iſt heute das Ergreifen anderer Berufe und das Aufrücken möglich, meiſt auch nur in der Weiſe, daß ſie in der zweiten oder dritten Generation die höheren Sproſſen der geſell- ſchaftlichen Leiter erreichen, nicht bloß weil es ſich um eine langſame körperliche und geiſtige Umbildung handelt, ſondern auch weil es meiſt nur den aufopferungsfähigſten und vom Glück begünſtigten Eltern gelingt, ihre Kinder beſſer zu erziehen, ihnen einen etwas größeren Beſitz als weiteres Mittel des Emporſteigens zu hinterlaſſen. Nicht die ſocialen Klaſſen ſind alſo beſeitigt, ſondern mehr nur ihre Abgeſchloſſenheit. Freilich iſt das ſchon ſehr viel, bedeutet eine gänzlich veränderte Struktur der Geſellſchaft; jede ganz einſeitige, mißbräuchliche Klaſſenherrſchaft iſt damit in der Regel beſeitigt, zumal wenn durch weitere Fortſchritte im Schulweſen, durch weitere Erleichterungen des Empor- ſteigens der Talente in allen Carrieren, durch höhere Wertſchätzung der perſönlichen Eigenſchaften und verminderte des Geldbeutels dieſe Tendenzen noch verſtärkt werden, die freie Berufswahl aller noch mehr zur Wahrheit gemacht wird. Die ſocialen Klaſſen alſo bleiben; aber ſie ſind nicht mehr erblich, ſie haben das gegenſeitige Connubium; es entſteht damit eine gewiſſe Blutsmiſchung durch alle Klaſſen hindurch, wenn auch die Ehe innerhalb der Klaſſen das Vorherrſchende bleibt. Die Klaſſen können im heutigen Rechtsſtaate weder mehr ſolche Vorrechte erhalten, noch ſo zu exkluſiven Korporationen und Ständen ſich organiſieren wie früher. Schon die heutige Öffentlichkeit, die Preſſe, der Verkehr erlaubt den Klaſſen nicht mehr, ſo ſich in Ständegeiſt und Exkluſivität einzuſchließen wie früher. Jede halbwegs gute und ſtarke Regierung ſteht heute mit einem ſtarken Beamten- und Rechtsapparate über den Klaſſen. Sie und die geſunde öffentliche Meinung bringen in die bornierteſte Klaſſen- verſammlung einige Lichtſtrahlen der Geſamtintereſſen hinein. Die Organiſation der öffentlichen Meinung hat eine Scham und ein Gewiſſen gegenüber den Klaſſenvorurteilen und -mißbräuchen erzeugt, die in den Zeiten ohne Preſſe und Buchdruck fehlten. Das vollſtändige Aufgehen des Menſchen in der Klaſſe und im Klaſſenegoismus war im Mittelalter möglich und vielfach pſychologiſch natürlich; heute iſt das Gleiche Menſchen, die an der allgemeinen Bildung, am Staatsgefühle teilhaben, weit ſchwerer; der obere Teil der Geſellſchaft kommt mit andersartigen Klaſſenelementen mehr in Be- rührung als früher; die meiſten Gebildeten empfinden nur mit einem Bruchteile ihres Weſens die Klaſſenzugehörigkeit. Sie ſind zu individuelle, vielfach auch zu egoiſtiſche Menſchen, um ſich ganz an die Klaſſe hinzugeben. Daß das nicht für alle Kreiſe, beſonders nicht für die unteren Klaſſen gelte, darauf komme ich gleich. Auch die letzteren ſind durch Schule, Preſſe, Vereinsleben etwas anders geworden, haben viel geſehen und viel gelernt, haben ein beſſeres Leben, höhere Bedürfniſſe, einen lebendigen Wiſſensdrang erhalten. Daraus entſpringen ihre Fähigkeiten, mehr zu leiſten,

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/422>, abgerufen am 24.04.2024.