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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Warum treibt sich das Volk so und schreit? Es will sich ernähren,
Kinder zeugen und die nähren, so gut es vermag.
Merke dir, Reisender, das und thue zu Hause desgleichen --
Weiter bringt es kein Mensch, stell' er sich wie er auch will.

Der Selbsterhaltungstrieb umfaßt nicht bloß das Essen und Trinken; wir führen
auf ihn alle menschliche Thätigkeit zurück, die auf Erhaltung des eigenen Ich direkt
gerichtet ist; der Mann, der sich gegen seine Feinde oder wilde Tiere verteidigt, der sich
gegen Kälte oder Gefahren schützt, wird ebenso von ihm geleitet wie der, welcher Waffen
und Werkzeuge zu künftigem Thun bereitet. Aus dem Selbsterhaltungstrieb entwickeln
sich bei höherer, komplizierterer Kultur alle möglichen Anstrengungen, die indirekt das
Individuum erhalten und fördern wollen; aller Kampf mit der Natur, alle Anstrengung
und Arbeit hängt mit demselben zusammen, sofern sie das eigene Ich im Auge haben;
auch List und Betrug, Gewaltthat und Diebstahl, Raub und Mord entspringt aus ihm,
wie der heftige, rücksichtslose Konkurrenzkampf der Gegenwart. Damit ist aber schon
gesagt, daß der Trieb kein einfacher sei, mit höherer Kultur immer kompliziertere Ge-
biete, indirekte Ziele umfasse und in seiner Bethätigung sich bei den meisten Menschen
nur in den Schranken der Sitte und des Rechtes äußere. Die Ziele, die ihm gesteckt
sind, wechseln ebenso wie die Kraft und Nachhaltigkeit, mit der er auftritt. Er äußert
sich beim Wilden als Veranlassung zur Jagd und Fischfang, beim Ackerbauer zur Pflug-
führung und Ernte. Faulheit und Arbeitsscheu, gedankenlose Verschwendung sind hier mit
diesem Triebe verbunden, dort Sparsamkeit und Fleiß. Erst eine durch die Jahrtausende
fortgesetzte Zucht und die Institute der socialen Ordnung haben ihn zu dem gemacht,
was wir heute als Selbsterhaltungstrieb in der civilisierten Gesellschaft bezeichnen. Von
der Sorge für die eigene Brut und Familie ist er heute schwer zu trennen. Vermöge
jenes Princips der Association der Vorstellungen, welches zuerst Hartley in die psycho-
logischen Untersuchungen des Sittlichen eingeführt hat, vereinigen sich die Vorstellungen
der Menschen nach beiden Richtungen mehr oder weniger stets. Nur bei gänzlich
schlechten, verwahrlosten Menschen oder im Moment der Todesgefahr hat der Selbst-
erhaltungstrieb nur das eigene Ich im Auge.

Auch der Geschlechtstrieb ist -- zumal in der civilisierten Gesellschaft --
kein einfaches Phänomen, keine blinde Triebkraft mehr. Gewiß tritt er auch heute noch
mit einer gewissen elementaren Kraft auf, er kann einzelne im Moment blind beherrschen,
er ist für die meisten erwachsenen, noch nicht gealterten Menschen einer der wichtigsten
Faktoren ihres Trieblebens; aber der sittliche und sociale Erziehungsprozeß hat ihn bei
der Mehrzahl der Menschen gemildert, geformt, mit Schranken umgeben, ihn mit allen
möglichen anderen Zielen in Verbindung gebracht. Er tritt vor allem als Trieb auf,
eine Familie zu gründen; er verbindet sich so unauflöslich mit all' den Hoffnungen auf
Glück und Behagen, welche die Ehe und die Familie bietet. Aus und mit den Lust-
empfindungen der Begattung sind so seit Millionen Jahren sympathische Erregungen,
Güte, Leutseligkeit, Aufopferungsfähigkeit erwachsen, die Freude vor allem an dem Dasein
der Kinder und Enkel, der Gattin und der Verwandten, ja das ganze Stammesgefühl.
Und wenn der Satz wahr ist, daß für die große Masse der Menschen noch heute nach
so vielen Jahrtausenden der Geschichte der natürliche Zusammenhang des Blutes immer
noch der weitaus wichtigste, wo nicht der einzige Hebel milderer Sinnesart im Gegensatz
zum rohen Ich sei (Cohn), daß erst langsam und nach und nach die Familiengefühle
auf weitere Kreise sich ausdehnen, so ist damit zugegeben, daß auf dem natürlichen
Boden des Geschlechtstriebes höhere und reinere gesellige Triebe erwachsen sind, welche,
einmal fest gewurzelt und zu selbständigem Streben nach bestimmten Zielen ausgebildet,
sich dem Geschlechtstrieb als etwas Eigenartiges und Höheres gegenüberstellen.

15. Der Thätigkeitstrieb ist teilweise verwandt mit dem Selbsterhaltungs-
trieb, aber doch wieder von ihm wesentlich verschieden. Er geht zunächst hervor aus
einem der allgemeinsten menschlichen Gefühle, dem Kraftgefühl der Nerven und Muskeln,
die ihre überschüssige Energie irgendwie verbrauchen müssen. Alle physiognomische und
mimische Bewegung hängt damit zusammen, wie die Sprache, welche nach ihrer anima-

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Warum treibt ſich das Volk ſo und ſchreit? Es will ſich ernähren,
Kinder zeugen und die nähren, ſo gut es vermag.
Merke dir, Reiſender, das und thue zu Hauſe desgleichen —
Weiter bringt es kein Menſch, ſtell’ er ſich wie er auch will.

Der Selbſterhaltungstrieb umfaßt nicht bloß das Eſſen und Trinken; wir führen
auf ihn alle menſchliche Thätigkeit zurück, die auf Erhaltung des eigenen Ich direkt
gerichtet iſt; der Mann, der ſich gegen ſeine Feinde oder wilde Tiere verteidigt, der ſich
gegen Kälte oder Gefahren ſchützt, wird ebenſo von ihm geleitet wie der, welcher Waffen
und Werkzeuge zu künftigem Thun bereitet. Aus dem Selbſterhaltungstrieb entwickeln
ſich bei höherer, komplizierterer Kultur alle möglichen Anſtrengungen, die indirekt das
Individuum erhalten und fördern wollen; aller Kampf mit der Natur, alle Anſtrengung
und Arbeit hängt mit demſelben zuſammen, ſofern ſie das eigene Ich im Auge haben;
auch Liſt und Betrug, Gewaltthat und Diebſtahl, Raub und Mord entſpringt aus ihm,
wie der heftige, rückſichtsloſe Konkurrenzkampf der Gegenwart. Damit iſt aber ſchon
geſagt, daß der Trieb kein einfacher ſei, mit höherer Kultur immer kompliziertere Ge-
biete, indirekte Ziele umfaſſe und in ſeiner Bethätigung ſich bei den meiſten Menſchen
nur in den Schranken der Sitte und des Rechtes äußere. Die Ziele, die ihm geſteckt
ſind, wechſeln ebenſo wie die Kraft und Nachhaltigkeit, mit der er auftritt. Er äußert
ſich beim Wilden als Veranlaſſung zur Jagd und Fiſchfang, beim Ackerbauer zur Pflug-
führung und Ernte. Faulheit und Arbeitsſcheu, gedankenloſe Verſchwendung ſind hier mit
dieſem Triebe verbunden, dort Sparſamkeit und Fleiß. Erſt eine durch die Jahrtauſende
fortgeſetzte Zucht und die Inſtitute der ſocialen Ordnung haben ihn zu dem gemacht,
was wir heute als Selbſterhaltungstrieb in der civiliſierten Geſellſchaft bezeichnen. Von
der Sorge für die eigene Brut und Familie iſt er heute ſchwer zu trennen. Vermöge
jenes Princips der Aſſociation der Vorſtellungen, welches zuerſt Hartley in die pſycho-
logiſchen Unterſuchungen des Sittlichen eingeführt hat, vereinigen ſich die Vorſtellungen
der Menſchen nach beiden Richtungen mehr oder weniger ſtets. Nur bei gänzlich
ſchlechten, verwahrloſten Menſchen oder im Moment der Todesgefahr hat der Selbſt-
erhaltungstrieb nur das eigene Ich im Auge.

Auch der Geſchlechtstrieb iſt — zumal in der civiliſierten Geſellſchaft —
kein einfaches Phänomen, keine blinde Triebkraft mehr. Gewiß tritt er auch heute noch
mit einer gewiſſen elementaren Kraft auf, er kann einzelne im Moment blind beherrſchen,
er iſt für die meiſten erwachſenen, noch nicht gealterten Menſchen einer der wichtigſten
Faktoren ihres Trieblebens; aber der ſittliche und ſociale Erziehungsprozeß hat ihn bei
der Mehrzahl der Menſchen gemildert, geformt, mit Schranken umgeben, ihn mit allen
möglichen anderen Zielen in Verbindung gebracht. Er tritt vor allem als Trieb auf,
eine Familie zu gründen; er verbindet ſich ſo unauflöslich mit all’ den Hoffnungen auf
Glück und Behagen, welche die Ehe und die Familie bietet. Aus und mit den Luſt-
empfindungen der Begattung ſind ſo ſeit Millionen Jahren ſympathiſche Erregungen,
Güte, Leutſeligkeit, Aufopferungsfähigkeit erwachſen, die Freude vor allem an dem Daſein
der Kinder und Enkel, der Gattin und der Verwandten, ja das ganze Stammesgefühl.
Und wenn der Satz wahr iſt, daß für die große Maſſe der Menſchen noch heute nach
ſo vielen Jahrtauſenden der Geſchichte der natürliche Zuſammenhang des Blutes immer
noch der weitaus wichtigſte, wo nicht der einzige Hebel milderer Sinnesart im Gegenſatz
zum rohen Ich ſei (Cohn), daß erſt langſam und nach und nach die Familiengefühle
auf weitere Kreiſe ſich ausdehnen, ſo iſt damit zugegeben, daß auf dem natürlichen
Boden des Geſchlechtstriebes höhere und reinere geſellige Triebe erwachſen ſind, welche,
einmal feſt gewurzelt und zu ſelbſtändigem Streben nach beſtimmten Zielen ausgebildet,
ſich dem Geſchlechtstrieb als etwas Eigenartiges und Höheres gegenüberſtellen.

15. Der Thätigkeitstrieb iſt teilweiſe verwandt mit dem Selbſterhaltungs-
trieb, aber doch wieder von ihm weſentlich verſchieden. Er geht zunächſt hervor aus
einem der allgemeinſten menſchlichen Gefühle, dem Kraftgefühl der Nerven und Muskeln,
die ihre überſchüſſige Energie irgendwie verbrauchen müſſen. Alle phyſiognomiſche und
mimiſche Bewegung hängt damit zuſammen, wie die Sprache, welche nach ihrer anima-

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[28/0044] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Warum treibt ſich das Volk ſo und ſchreit? Es will ſich ernähren, Kinder zeugen und die nähren, ſo gut es vermag. Merke dir, Reiſender, das und thue zu Hauſe desgleichen — Weiter bringt es kein Menſch, ſtell’ er ſich wie er auch will. Der Selbſterhaltungstrieb umfaßt nicht bloß das Eſſen und Trinken; wir führen auf ihn alle menſchliche Thätigkeit zurück, die auf Erhaltung des eigenen Ich direkt gerichtet iſt; der Mann, der ſich gegen ſeine Feinde oder wilde Tiere verteidigt, der ſich gegen Kälte oder Gefahren ſchützt, wird ebenſo von ihm geleitet wie der, welcher Waffen und Werkzeuge zu künftigem Thun bereitet. Aus dem Selbſterhaltungstrieb entwickeln ſich bei höherer, komplizierterer Kultur alle möglichen Anſtrengungen, die indirekt das Individuum erhalten und fördern wollen; aller Kampf mit der Natur, alle Anſtrengung und Arbeit hängt mit demſelben zuſammen, ſofern ſie das eigene Ich im Auge haben; auch Liſt und Betrug, Gewaltthat und Diebſtahl, Raub und Mord entſpringt aus ihm, wie der heftige, rückſichtsloſe Konkurrenzkampf der Gegenwart. Damit iſt aber ſchon geſagt, daß der Trieb kein einfacher ſei, mit höherer Kultur immer kompliziertere Ge- biete, indirekte Ziele umfaſſe und in ſeiner Bethätigung ſich bei den meiſten Menſchen nur in den Schranken der Sitte und des Rechtes äußere. Die Ziele, die ihm geſteckt ſind, wechſeln ebenſo wie die Kraft und Nachhaltigkeit, mit der er auftritt. Er äußert ſich beim Wilden als Veranlaſſung zur Jagd und Fiſchfang, beim Ackerbauer zur Pflug- führung und Ernte. Faulheit und Arbeitsſcheu, gedankenloſe Verſchwendung ſind hier mit dieſem Triebe verbunden, dort Sparſamkeit und Fleiß. Erſt eine durch die Jahrtauſende fortgeſetzte Zucht und die Inſtitute der ſocialen Ordnung haben ihn zu dem gemacht, was wir heute als Selbſterhaltungstrieb in der civiliſierten Geſellſchaft bezeichnen. Von der Sorge für die eigene Brut und Familie iſt er heute ſchwer zu trennen. Vermöge jenes Princips der Aſſociation der Vorſtellungen, welches zuerſt Hartley in die pſycho- logiſchen Unterſuchungen des Sittlichen eingeführt hat, vereinigen ſich die Vorſtellungen der Menſchen nach beiden Richtungen mehr oder weniger ſtets. Nur bei gänzlich ſchlechten, verwahrloſten Menſchen oder im Moment der Todesgefahr hat der Selbſt- erhaltungstrieb nur das eigene Ich im Auge. Auch der Geſchlechtstrieb iſt — zumal in der civiliſierten Geſellſchaft — kein einfaches Phänomen, keine blinde Triebkraft mehr. Gewiß tritt er auch heute noch mit einer gewiſſen elementaren Kraft auf, er kann einzelne im Moment blind beherrſchen, er iſt für die meiſten erwachſenen, noch nicht gealterten Menſchen einer der wichtigſten Faktoren ihres Trieblebens; aber der ſittliche und ſociale Erziehungsprozeß hat ihn bei der Mehrzahl der Menſchen gemildert, geformt, mit Schranken umgeben, ihn mit allen möglichen anderen Zielen in Verbindung gebracht. Er tritt vor allem als Trieb auf, eine Familie zu gründen; er verbindet ſich ſo unauflöslich mit all’ den Hoffnungen auf Glück und Behagen, welche die Ehe und die Familie bietet. Aus und mit den Luſt- empfindungen der Begattung ſind ſo ſeit Millionen Jahren ſympathiſche Erregungen, Güte, Leutſeligkeit, Aufopferungsfähigkeit erwachſen, die Freude vor allem an dem Daſein der Kinder und Enkel, der Gattin und der Verwandten, ja das ganze Stammesgefühl. Und wenn der Satz wahr iſt, daß für die große Maſſe der Menſchen noch heute nach ſo vielen Jahrtauſenden der Geſchichte der natürliche Zuſammenhang des Blutes immer noch der weitaus wichtigſte, wo nicht der einzige Hebel milderer Sinnesart im Gegenſatz zum rohen Ich ſei (Cohn), daß erſt langſam und nach und nach die Familiengefühle auf weitere Kreiſe ſich ausdehnen, ſo iſt damit zugegeben, daß auf dem natürlichen Boden des Geſchlechtstriebes höhere und reinere geſellige Triebe erwachſen ſind, welche, einmal feſt gewurzelt und zu ſelbſtändigem Streben nach beſtimmten Zielen ausgebildet, ſich dem Geſchlechtstrieb als etwas Eigenartiges und Höheres gegenüberſtellen. 15. Der Thätigkeitstrieb iſt teilweiſe verwandt mit dem Selbſterhaltungs- trieb, aber doch wieder von ihm weſentlich verſchieden. Er geht zunächſt hervor aus einem der allgemeinſten menſchlichen Gefühle, dem Kraftgefühl der Nerven und Muskeln, die ihre überſchüſſige Energie irgendwie verbrauchen müſſen. Alle phyſiognomiſche und mimiſche Bewegung hängt damit zuſammen, wie die Sprache, welche nach ihrer anima-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/44>, abgerufen am 19.04.2024.