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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
will nicht als schlechter Kämpfer und Jäger verachtet sein. Die Frauen, die Greife,
die Sklaven widmen sich wirtschaftlicher Thätigkeit für andere teils aus Sympathie für
die Ihrigen, teils aus Furcht vor Mißhandlung, nicht aus Erwerbstrieb. Der natür-
liche Trieb jedes rohen Menschen, die eigenen Interessen denen anderer vorzuziehen,
zeigt sich auf dieser Kulturstufe, soweit er nicht durch gesellschaftliche Einrichtungen
unterdrückt ist, eher noch in dem Streben nach größeren und besseren Portionen der
Nahrung und des Trankes, nach schöneren Schmuckgegenständen, nach dem Ehrenplatz bei
Festen, als in dem nach einem angehäuften Gütervorrat.

Erst mit dem Herdenbesitz, dem Besitz mehrerer Weiber und Sklaven, noch mehr
später mit dem Handel und dem Edelmetallbesitz, mit dem Leihgeschäft entsteht eine
intensivere Richtung der menschlichen Selbstsucht auf Besitzanhäufung. Der Vornehme
rühmt sich seiner Rinder und seiner Goldringe; ein gewaltiges Kämpfen und Ringen
um die in den Truhen anzusammelnden Metallschätze beginnt; die Poesie der Germanen
ist nach ihrer Berührung mit der südeuropäischen Kultur jahrhundertelang erfüllt von
dem Schatze der Nibelungen. Mord und Gewalt, blutige That und verräterische List
wird gepriesen und geehrt, wenn sie nur Schätze bringt. Erst sehr langsam geht der
gewaltthätige Kampf, den der gesteigerte Besitz unter den einzelnen wie unter den
Stämmen anfangs erzeugt, in das über, was dann innerhalb einer gefesteten Rechts-
ordnung und unerbittlich strenger Religionssatzungen und Sittenregeln eine beruhigtere
Zeit als erlaubtes Streben nach Geld und Gut anerkennt. So entsteht der Erwerbs-
trieb bei den Kulturvölkern; er geht Hand in Hand mit der Ausbildung des Selbst-
gefühls und des Selbstbewußtseins, mit der Entstehung der modernen Individualität.
Die Selbsterhaltung und Selbstbehauptung, früher viel mehr auf anderes gerichtet,
konzentriert sich jetzt bei vielen Menschen auf Erwerb, Gewinn, Vermögensbesitz. Das
Emporsteigen über andere, die Thätigkeit für die Familie und die Zukunft, der Ehrgeiz
und die Freude an der Macht, der Lebensgenuß und der Kunstsinn, -- alle diese Ziele
fordern nun Vermögenserwerb.

Die Ausbildung des Erwerbstriebes ist eines der wichtigsten Mittel, welche die
Menschen nach und nach der Barbarei, der Faulheit, dem Leben in den Tag hinein
entziehen. Indem der Sinn sich mehr darauf richtet, statt augenblicklichen Suchens von
Genüssen, statt Essens und Spielens, überhaupt wirtschaftliche Mittel zu sammeln,
wird das Leben zerlegt in die zwei großen einander stetig ablösenden Teile: Arbeit und
Genuß. Die erste Erziehung zum Fleiß mag durch den Stock erfolgen, die dauernde,
intensive, innerlich umwandelnde erfolgt durch den Gewinn, welchen erst der Raub und
die Gewalt, später aber der Fleiß und die Anstrengung bringt. Mit der Richtung des
Willens auf erlaubten, rechtlichen Gewinn ist die Unterdrückung der augenblicklichen
Lust, die Überwindung des Unbehagens der Arbeit gegeben; es ist der Anfang des sitt-
lichen Lebens, den Moment unter die Herrschaft künftigen Gewinns, künftiger Lust zu
stellen. Der Erwerbstrieb wird so zur Schule der Arbeit, der Anstrengung, er erhebt das
Individuum auf eine ganz andere Stufe des Daseins, des Denkens, des Sich-Be-
herrschens; er giebt durch seine Erfolge dem Individuum erst die wahre Selbständigkeit
und Unabhängigkeit, die Würde und die Freiheit, zeitweise Höherem zu leben. Alle
Kulturvölker haben so einen Erwerbstrieb, der dem Wilden, dem Barbaren fehlt. Der
Indianer, welchen ein Rechts- und Ehrgefühl, ein Mut im Ertragen, ein Selbstgefühl
auszeichnet, das jeden Europäer beschämt, teilt mit jedem Hungrigen sein Mahl, und
verachtet nicht bloß den Besitz überhaupt, sondern noch mehr die europäische Unruhe
und Sorge um den Besitz: jeder Europäer kommt ihm geizig und habsüchtig vor. Wie
könnt ihr, fragt er, so große feste Häuser bauen, da das Menschenleben doch so
kurz ist? Die vollendete Ausbildung aber erhält der Erwerbstrieb erst da, wo die wirt-
schaftliche Eigenproduktion zurücktritt hinter die für den Markt, wo die Mehrzahl der
Menschen aus einem komplizierten Tauschmechanismus den größeren Teil ihres Einkommens
empfangen und wo die Beeinflussung dieser Einkommensverteilung durch den Stärkeren,
Klügeren, Fleißigeren diesem leicht größere Anteile bringt. Es ist zugleich die Zeit,
in welcher viele der alten, kleinen socialen Gemeinschaften mit ihrer Gemütlichkeit, ihrer

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
will nicht als ſchlechter Kämpfer und Jäger verachtet ſein. Die Frauen, die Greife,
die Sklaven widmen ſich wirtſchaftlicher Thätigkeit für andere teils aus Sympathie für
die Ihrigen, teils aus Furcht vor Mißhandlung, nicht aus Erwerbstrieb. Der natür-
liche Trieb jedes rohen Menſchen, die eigenen Intereſſen denen anderer vorzuziehen,
zeigt ſich auf dieſer Kulturſtufe, ſoweit er nicht durch geſellſchaftliche Einrichtungen
unterdrückt iſt, eher noch in dem Streben nach größeren und beſſeren Portionen der
Nahrung und des Trankes, nach ſchöneren Schmuckgegenſtänden, nach dem Ehrenplatz bei
Feſten, als in dem nach einem angehäuften Gütervorrat.

Erſt mit dem Herdenbeſitz, dem Beſitz mehrerer Weiber und Sklaven, noch mehr
ſpäter mit dem Handel und dem Edelmetallbeſitz, mit dem Leihgeſchäft entſteht eine
intenſivere Richtung der menſchlichen Selbſtſucht auf Beſitzanhäufung. Der Vornehme
rühmt ſich ſeiner Rinder und ſeiner Goldringe; ein gewaltiges Kämpfen und Ringen
um die in den Truhen anzuſammelnden Metallſchätze beginnt; die Poeſie der Germanen
iſt nach ihrer Berührung mit der ſüdeuropäiſchen Kultur jahrhundertelang erfüllt von
dem Schatze der Nibelungen. Mord und Gewalt, blutige That und verräteriſche Liſt
wird geprieſen und geehrt, wenn ſie nur Schätze bringt. Erſt ſehr langſam geht der
gewaltthätige Kampf, den der geſteigerte Beſitz unter den einzelnen wie unter den
Stämmen anfangs erzeugt, in das über, was dann innerhalb einer gefeſteten Rechts-
ordnung und unerbittlich ſtrenger Religionsſatzungen und Sittenregeln eine beruhigtere
Zeit als erlaubtes Streben nach Geld und Gut anerkennt. So entſteht der Erwerbs-
trieb bei den Kulturvölkern; er geht Hand in Hand mit der Ausbildung des Selbſt-
gefühls und des Selbſtbewußtſeins, mit der Entſtehung der modernen Individualität.
Die Selbſterhaltung und Selbſtbehauptung, früher viel mehr auf anderes gerichtet,
konzentriert ſich jetzt bei vielen Menſchen auf Erwerb, Gewinn, Vermögensbeſitz. Das
Emporſteigen über andere, die Thätigkeit für die Familie und die Zukunft, der Ehrgeiz
und die Freude an der Macht, der Lebensgenuß und der Kunſtſinn, — alle dieſe Ziele
fordern nun Vermögenserwerb.

Die Ausbildung des Erwerbstriebes iſt eines der wichtigſten Mittel, welche die
Menſchen nach und nach der Barbarei, der Faulheit, dem Leben in den Tag hinein
entziehen. Indem der Sinn ſich mehr darauf richtet, ſtatt augenblicklichen Suchens von
Genüſſen, ſtatt Eſſens und Spielens, überhaupt wirtſchaftliche Mittel zu ſammeln,
wird das Leben zerlegt in die zwei großen einander ſtetig ablöſenden Teile: Arbeit und
Genuß. Die erſte Erziehung zum Fleiß mag durch den Stock erfolgen, die dauernde,
intenſive, innerlich umwandelnde erfolgt durch den Gewinn, welchen erſt der Raub und
die Gewalt, ſpäter aber der Fleiß und die Anſtrengung bringt. Mit der Richtung des
Willens auf erlaubten, rechtlichen Gewinn iſt die Unterdrückung der augenblicklichen
Luſt, die Überwindung des Unbehagens der Arbeit gegeben; es iſt der Anfang des ſitt-
lichen Lebens, den Moment unter die Herrſchaft künftigen Gewinns, künftiger Luſt zu
ſtellen. Der Erwerbstrieb wird ſo zur Schule der Arbeit, der Anſtrengung, er erhebt das
Individuum auf eine ganz andere Stufe des Daſeins, des Denkens, des Sich-Be-
herrſchens; er giebt durch ſeine Erfolge dem Individuum erſt die wahre Selbſtändigkeit
und Unabhängigkeit, die Würde und die Freiheit, zeitweiſe Höherem zu leben. Alle
Kulturvölker haben ſo einen Erwerbstrieb, der dem Wilden, dem Barbaren fehlt. Der
Indianer, welchen ein Rechts- und Ehrgefühl, ein Mut im Ertragen, ein Selbſtgefühl
auszeichnet, das jeden Europäer beſchämt, teilt mit jedem Hungrigen ſein Mahl, und
verachtet nicht bloß den Beſitz überhaupt, ſondern noch mehr die europäiſche Unruhe
und Sorge um den Beſitz: jeder Europäer kommt ihm geizig und habſüchtig vor. Wie
könnt ihr, fragt er, ſo große feſte Häuſer bauen, da das Menſchenleben doch ſo
kurz iſt? Die vollendete Ausbildung aber erhält der Erwerbstrieb erſt da, wo die wirt-
ſchaftliche Eigenproduktion zurücktritt hinter die für den Markt, wo die Mehrzahl der
Menſchen aus einem komplizierten Tauſchmechanismus den größeren Teil ihres Einkommens
empfangen und wo die Beeinfluſſung dieſer Einkommensverteilung durch den Stärkeren,
Klügeren, Fleißigeren dieſem leicht größere Anteile bringt. Es iſt zugleich die Zeit,
in welcher viele der alten, kleinen ſocialen Gemeinſchaften mit ihrer Gemütlichkeit, ihrer

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[34/0050] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. will nicht als ſchlechter Kämpfer und Jäger verachtet ſein. Die Frauen, die Greife, die Sklaven widmen ſich wirtſchaftlicher Thätigkeit für andere teils aus Sympathie für die Ihrigen, teils aus Furcht vor Mißhandlung, nicht aus Erwerbstrieb. Der natür- liche Trieb jedes rohen Menſchen, die eigenen Intereſſen denen anderer vorzuziehen, zeigt ſich auf dieſer Kulturſtufe, ſoweit er nicht durch geſellſchaftliche Einrichtungen unterdrückt iſt, eher noch in dem Streben nach größeren und beſſeren Portionen der Nahrung und des Trankes, nach ſchöneren Schmuckgegenſtänden, nach dem Ehrenplatz bei Feſten, als in dem nach einem angehäuften Gütervorrat. Erſt mit dem Herdenbeſitz, dem Beſitz mehrerer Weiber und Sklaven, noch mehr ſpäter mit dem Handel und dem Edelmetallbeſitz, mit dem Leihgeſchäft entſteht eine intenſivere Richtung der menſchlichen Selbſtſucht auf Beſitzanhäufung. Der Vornehme rühmt ſich ſeiner Rinder und ſeiner Goldringe; ein gewaltiges Kämpfen und Ringen um die in den Truhen anzuſammelnden Metallſchätze beginnt; die Poeſie der Germanen iſt nach ihrer Berührung mit der ſüdeuropäiſchen Kultur jahrhundertelang erfüllt von dem Schatze der Nibelungen. Mord und Gewalt, blutige That und verräteriſche Liſt wird geprieſen und geehrt, wenn ſie nur Schätze bringt. Erſt ſehr langſam geht der gewaltthätige Kampf, den der geſteigerte Beſitz unter den einzelnen wie unter den Stämmen anfangs erzeugt, in das über, was dann innerhalb einer gefeſteten Rechts- ordnung und unerbittlich ſtrenger Religionsſatzungen und Sittenregeln eine beruhigtere Zeit als erlaubtes Streben nach Geld und Gut anerkennt. So entſteht der Erwerbs- trieb bei den Kulturvölkern; er geht Hand in Hand mit der Ausbildung des Selbſt- gefühls und des Selbſtbewußtſeins, mit der Entſtehung der modernen Individualität. Die Selbſterhaltung und Selbſtbehauptung, früher viel mehr auf anderes gerichtet, konzentriert ſich jetzt bei vielen Menſchen auf Erwerb, Gewinn, Vermögensbeſitz. Das Emporſteigen über andere, die Thätigkeit für die Familie und die Zukunft, der Ehrgeiz und die Freude an der Macht, der Lebensgenuß und der Kunſtſinn, — alle dieſe Ziele fordern nun Vermögenserwerb. Die Ausbildung des Erwerbstriebes iſt eines der wichtigſten Mittel, welche die Menſchen nach und nach der Barbarei, der Faulheit, dem Leben in den Tag hinein entziehen. Indem der Sinn ſich mehr darauf richtet, ſtatt augenblicklichen Suchens von Genüſſen, ſtatt Eſſens und Spielens, überhaupt wirtſchaftliche Mittel zu ſammeln, wird das Leben zerlegt in die zwei großen einander ſtetig ablöſenden Teile: Arbeit und Genuß. Die erſte Erziehung zum Fleiß mag durch den Stock erfolgen, die dauernde, intenſive, innerlich umwandelnde erfolgt durch den Gewinn, welchen erſt der Raub und die Gewalt, ſpäter aber der Fleiß und die Anſtrengung bringt. Mit der Richtung des Willens auf erlaubten, rechtlichen Gewinn iſt die Unterdrückung der augenblicklichen Luſt, die Überwindung des Unbehagens der Arbeit gegeben; es iſt der Anfang des ſitt- lichen Lebens, den Moment unter die Herrſchaft künftigen Gewinns, künftiger Luſt zu ſtellen. Der Erwerbstrieb wird ſo zur Schule der Arbeit, der Anſtrengung, er erhebt das Individuum auf eine ganz andere Stufe des Daſeins, des Denkens, des Sich-Be- herrſchens; er giebt durch ſeine Erfolge dem Individuum erſt die wahre Selbſtändigkeit und Unabhängigkeit, die Würde und die Freiheit, zeitweiſe Höherem zu leben. Alle Kulturvölker haben ſo einen Erwerbstrieb, der dem Wilden, dem Barbaren fehlt. Der Indianer, welchen ein Rechts- und Ehrgefühl, ein Mut im Ertragen, ein Selbſtgefühl auszeichnet, das jeden Europäer beſchämt, teilt mit jedem Hungrigen ſein Mahl, und verachtet nicht bloß den Beſitz überhaupt, ſondern noch mehr die europäiſche Unruhe und Sorge um den Beſitz: jeder Europäer kommt ihm geizig und habſüchtig vor. Wie könnt ihr, fragt er, ſo große feſte Häuſer bauen, da das Menſchenleben doch ſo kurz iſt? Die vollendete Ausbildung aber erhält der Erwerbstrieb erſt da, wo die wirt- ſchaftliche Eigenproduktion zurücktritt hinter die für den Markt, wo die Mehrzahl der Menſchen aus einem komplizierten Tauſchmechanismus den größeren Teil ihres Einkommens empfangen und wo die Beeinfluſſung dieſer Einkommensverteilung durch den Stärkeren, Klügeren, Fleißigeren dieſem leicht größere Anteile bringt. Es iſt zugleich die Zeit, in welcher viele der alten, kleinen ſocialen Gemeinſchaften mit ihrer Gemütlichkeit, ihrer

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/50>, abgerufen am 23.04.2024.