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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
und der Welt auf uns eine noch so große Rolle spielen, verstanden haben wir das
Sittliche nur, wenn wir es als das notwendige Ergebnis unseres inneren Seelenlebens
begreifen.

Die körperliche Ausstattung des Menschen, seine Hand, sein Auge, seine feineren
Muskeln haben ihm ermöglicht, sein Triebleben zu anderen Ergebnissen, als das Tier
es vermag, zu verwerten. Durch feinere Wahrnehmung und sehr viel zahlreichere Vor-
stellungen lenkt er seine Thätigkeit auf höhere Ziele; schon indem er sich Nahrung und
Kleidung mit weiterem Blick, mit Schonung, mit Selbstbeherrschung bereitet, lernt er
Besonnenheit, d. h. er hemmt, auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, momentane Triebe, er
beherrscht Gefühle, die im Augenblick hinderlich wären. Er lernt so durch die Arbeit
sich selbst beherrschen, er läßt reflektorische Bewegungen nicht zum Ausbruch kommen;
er sammelt seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Vorstellungsreihen, die er zusammenwirken
läßt, und erreicht so mit relativ einfachen Mitteln außerordentlich viel. Auf derselben
Leiter steigt der Mensch so zum Werkzeug, zur Arbeit wie zur Sittlichkeit empor. Alles
sittliche Handeln ist zweckmäßiges Handeln. Aber sobald neben die niederen sinnlichen
die höheren und socialen Ziele getreten sind, so begreifen wir mehr und mehr nur das
Handeln im Sinne der letzteren unter dem Sittlichen und setzen das zweckmäßige Handeln
auf dem ersteren Gebiete als das Nützliche dem Sittlichen entgegen. Die Zweckmäßigkeit
der Natur erhebt sich so im nützlichen und sittlichen Handeln auf seine höheren Stufen.
Indem der Mensch die niedrigen Zwecke den höheren unterordnet, die Wohlfahrt in jenem
höheren Sinne anstrebt, die auf das Ganze gerichtet ist, handelt er gut.

Wie gelingt ihm aber die Unterscheidung von gut und böse, wenn er vor der
Wahl steht, wenn er in jedem Momente von verschiedenen Möglichkeiten die richtige, von
verschiedenen Zwecken den guten wählen soll? Die Erkenntnis, die Weisheit, sagt
Sokrates muß ihm den Weg weisen. Und gewiß giebt es keinen sittlichen Fortschritt,
keine Möglichkeit, das Gute zu wählen, ohne zunehmende Erkenntnis der Zusammen-
hänge, der Kausalverbindungen, der Zwecke und der ihnen dienenden Mittel, ohne Vor-
stellung von den Folgen des guten Handelns in der Zukunft. Aber die Erkenntnis
giebt nicht an sich die Kraft der richtigen Entscheidung, des guten Handelns. Das
höhere Gefühl, das den Wert des Guten und des Besseren findet, mit impulsiver Kraft
dafür entscheidet, giebt den Ausschlag. Die Freude, unter den möglichen Handlungen
nicht die schlechte, sondern die gute zu thun, hebt uns über Zweifel und Versuchung
hinweg, sie durchglüht und elektrisiert uns, sie befestigt die Kraft, in ähnlichen Fällen
wieder gut zu handeln. Aber dieses Gefühl erwächst und stärkt sich erst im Zusammen-
hang mit unserer Beobachtung der Handlungen dritter Personen.

Es wird, je weniger unser sittliches Gefühl und Urteil noch entwickelt ist, uns
viel leichter, beim Anblick der Handlungen dritter zu sagen, das ist gut, das ist böse.
Der Mensch fällt bei der Beobachtung der Fehltritte eines anderen viel sicherer als bei
seinen eigenen das Urteil: du thust Unrecht, verdienst Strafe. Wir haben bei solchem
Anblick von der mißbilligten Handlung keinen augenblicklichen Vorteil, wie in dem Fall,
in welchem wir selbst der Versuchung ausgesetzt sind. Wir haben von der gebilligten
Handlung die reine Freude des Mitempfindens, von der gemißbilligten die volle Unlust
der Entrüstung. Auf diesem Mitklingen und Anklingen der Thaten und der Motive
dritter in unserer eigenen Brust, auf diesen sympathischen, zu Freude und Vergeltung
anregenden Gefühlen beruht wesentlich die Ausbildung der sittlichen Gefühle, des sitt-
lichen Urteils und der Fähigkeit, sittlich zu handeln. Je energischer und je regelmäßiger
wir die Handlungen anderer der sittlichen Beurteilung unterwerfen, desto mehr wird
sich uns durch die notwendige Einheit alles Denkens die Frage aufdrängen: sollen wir
nicht denselben Maßstab, wie auf andere, auf uns anwenden? Wir werden uns daran
erinnern, daß andere uns so messen werden, wie wir sie. Wir werden selbst bei geheimen
Handlungen uns fragen, was die Welt, die Freunde, die Nachbarn dazu sagen würden.
Der Mensch lernt so im Spiegel der Mitmenschen sich selbst erst richtig beurteilen. Er
wendet notwendig die Reflexionen, mit denen er die Handlungen und Motive anderer
begleitet, auf sich an; dieselben Gefühle der Billigung und Mißbilligung stellen sich

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
und der Welt auf uns eine noch ſo große Rolle ſpielen, verſtanden haben wir das
Sittliche nur, wenn wir es als das notwendige Ergebnis unſeres inneren Seelenlebens
begreifen.

Die körperliche Ausſtattung des Menſchen, ſeine Hand, ſein Auge, ſeine feineren
Muskeln haben ihm ermöglicht, ſein Triebleben zu anderen Ergebniſſen, als das Tier
es vermag, zu verwerten. Durch feinere Wahrnehmung und ſehr viel zahlreichere Vor-
ſtellungen lenkt er ſeine Thätigkeit auf höhere Ziele; ſchon indem er ſich Nahrung und
Kleidung mit weiterem Blick, mit Schonung, mit Selbſtbeherrſchung bereitet, lernt er
Beſonnenheit, d. h. er hemmt, auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet, momentane Triebe, er
beherrſcht Gefühle, die im Augenblick hinderlich wären. Er lernt ſo durch die Arbeit
ſich ſelbſt beherrſchen, er läßt reflektoriſche Bewegungen nicht zum Ausbruch kommen;
er ſammelt ſeine Aufmerkſamkeit auf beſtimmte Vorſtellungsreihen, die er zuſammenwirken
läßt, und erreicht ſo mit relativ einfachen Mitteln außerordentlich viel. Auf derſelben
Leiter ſteigt der Menſch ſo zum Werkzeug, zur Arbeit wie zur Sittlichkeit empor. Alles
ſittliche Handeln iſt zweckmäßiges Handeln. Aber ſobald neben die niederen ſinnlichen
die höheren und ſocialen Ziele getreten ſind, ſo begreifen wir mehr und mehr nur das
Handeln im Sinne der letzteren unter dem Sittlichen und ſetzen das zweckmäßige Handeln
auf dem erſteren Gebiete als das Nützliche dem Sittlichen entgegen. Die Zweckmäßigkeit
der Natur erhebt ſich ſo im nützlichen und ſittlichen Handeln auf ſeine höheren Stufen.
Indem der Menſch die niedrigen Zwecke den höheren unterordnet, die Wohlfahrt in jenem
höheren Sinne anſtrebt, die auf das Ganze gerichtet iſt, handelt er gut.

Wie gelingt ihm aber die Unterſcheidung von gut und böſe, wenn er vor der
Wahl ſteht, wenn er in jedem Momente von verſchiedenen Möglichkeiten die richtige, von
verſchiedenen Zwecken den guten wählen ſoll? Die Erkenntnis, die Weisheit, ſagt
Sokrates muß ihm den Weg weiſen. Und gewiß giebt es keinen ſittlichen Fortſchritt,
keine Möglichkeit, das Gute zu wählen, ohne zunehmende Erkenntnis der Zuſammen-
hänge, der Kauſalverbindungen, der Zwecke und der ihnen dienenden Mittel, ohne Vor-
ſtellung von den Folgen des guten Handelns in der Zukunft. Aber die Erkenntnis
giebt nicht an ſich die Kraft der richtigen Entſcheidung, des guten Handelns. Das
höhere Gefühl, das den Wert des Guten und des Beſſeren findet, mit impulſiver Kraft
dafür entſcheidet, giebt den Ausſchlag. Die Freude, unter den möglichen Handlungen
nicht die ſchlechte, ſondern die gute zu thun, hebt uns über Zweifel und Verſuchung
hinweg, ſie durchglüht und elektriſiert uns, ſie befeſtigt die Kraft, in ähnlichen Fällen
wieder gut zu handeln. Aber dieſes Gefühl erwächſt und ſtärkt ſich erſt im Zuſammen-
hang mit unſerer Beobachtung der Handlungen dritter Perſonen.

Es wird, je weniger unſer ſittliches Gefühl und Urteil noch entwickelt iſt, uns
viel leichter, beim Anblick der Handlungen dritter zu ſagen, das iſt gut, das iſt böſe.
Der Menſch fällt bei der Beobachtung der Fehltritte eines anderen viel ſicherer als bei
ſeinen eigenen das Urteil: du thuſt Unrecht, verdienſt Strafe. Wir haben bei ſolchem
Anblick von der mißbilligten Handlung keinen augenblicklichen Vorteil, wie in dem Fall,
in welchem wir ſelbſt der Verſuchung ausgeſetzt ſind. Wir haben von der gebilligten
Handlung die reine Freude des Mitempfindens, von der gemißbilligten die volle Unluſt
der Entrüſtung. Auf dieſem Mitklingen und Anklingen der Thaten und der Motive
dritter in unſerer eigenen Bruſt, auf dieſen ſympathiſchen, zu Freude und Vergeltung
anregenden Gefühlen beruht weſentlich die Ausbildung der ſittlichen Gefühle, des ſitt-
lichen Urteils und der Fähigkeit, ſittlich zu handeln. Je energiſcher und je regelmäßiger
wir die Handlungen anderer der ſittlichen Beurteilung unterwerfen, deſto mehr wird
ſich uns durch die notwendige Einheit alles Denkens die Frage aufdrängen: ſollen wir
nicht denſelben Maßſtab, wie auf andere, auf uns anwenden? Wir werden uns daran
erinnern, daß andere uns ſo meſſen werden, wie wir ſie. Wir werden ſelbſt bei geheimen
Handlungen uns fragen, was die Welt, die Freunde, die Nachbarn dazu ſagen würden.
Der Menſch lernt ſo im Spiegel der Mitmenſchen ſich ſelbſt erſt richtig beurteilen. Er
wendet notwendig die Reflexionen, mit denen er die Handlungen und Motive anderer
begleitet, auf ſich an; dieſelben Gefühle der Billigung und Mißbilligung ſtellen ſich

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[42/0058] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. und der Welt auf uns eine noch ſo große Rolle ſpielen, verſtanden haben wir das Sittliche nur, wenn wir es als das notwendige Ergebnis unſeres inneren Seelenlebens begreifen. Die körperliche Ausſtattung des Menſchen, ſeine Hand, ſein Auge, ſeine feineren Muskeln haben ihm ermöglicht, ſein Triebleben zu anderen Ergebniſſen, als das Tier es vermag, zu verwerten. Durch feinere Wahrnehmung und ſehr viel zahlreichere Vor- ſtellungen lenkt er ſeine Thätigkeit auf höhere Ziele; ſchon indem er ſich Nahrung und Kleidung mit weiterem Blick, mit Schonung, mit Selbſtbeherrſchung bereitet, lernt er Beſonnenheit, d. h. er hemmt, auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet, momentane Triebe, er beherrſcht Gefühle, die im Augenblick hinderlich wären. Er lernt ſo durch die Arbeit ſich ſelbſt beherrſchen, er läßt reflektoriſche Bewegungen nicht zum Ausbruch kommen; er ſammelt ſeine Aufmerkſamkeit auf beſtimmte Vorſtellungsreihen, die er zuſammenwirken läßt, und erreicht ſo mit relativ einfachen Mitteln außerordentlich viel. Auf derſelben Leiter ſteigt der Menſch ſo zum Werkzeug, zur Arbeit wie zur Sittlichkeit empor. Alles ſittliche Handeln iſt zweckmäßiges Handeln. Aber ſobald neben die niederen ſinnlichen die höheren und ſocialen Ziele getreten ſind, ſo begreifen wir mehr und mehr nur das Handeln im Sinne der letzteren unter dem Sittlichen und ſetzen das zweckmäßige Handeln auf dem erſteren Gebiete als das Nützliche dem Sittlichen entgegen. Die Zweckmäßigkeit der Natur erhebt ſich ſo im nützlichen und ſittlichen Handeln auf ſeine höheren Stufen. Indem der Menſch die niedrigen Zwecke den höheren unterordnet, die Wohlfahrt in jenem höheren Sinne anſtrebt, die auf das Ganze gerichtet iſt, handelt er gut. Wie gelingt ihm aber die Unterſcheidung von gut und böſe, wenn er vor der Wahl ſteht, wenn er in jedem Momente von verſchiedenen Möglichkeiten die richtige, von verſchiedenen Zwecken den guten wählen ſoll? Die Erkenntnis, die Weisheit, ſagt Sokrates muß ihm den Weg weiſen. Und gewiß giebt es keinen ſittlichen Fortſchritt, keine Möglichkeit, das Gute zu wählen, ohne zunehmende Erkenntnis der Zuſammen- hänge, der Kauſalverbindungen, der Zwecke und der ihnen dienenden Mittel, ohne Vor- ſtellung von den Folgen des guten Handelns in der Zukunft. Aber die Erkenntnis giebt nicht an ſich die Kraft der richtigen Entſcheidung, des guten Handelns. Das höhere Gefühl, das den Wert des Guten und des Beſſeren findet, mit impulſiver Kraft dafür entſcheidet, giebt den Ausſchlag. Die Freude, unter den möglichen Handlungen nicht die ſchlechte, ſondern die gute zu thun, hebt uns über Zweifel und Verſuchung hinweg, ſie durchglüht und elektriſiert uns, ſie befeſtigt die Kraft, in ähnlichen Fällen wieder gut zu handeln. Aber dieſes Gefühl erwächſt und ſtärkt ſich erſt im Zuſammen- hang mit unſerer Beobachtung der Handlungen dritter Perſonen. Es wird, je weniger unſer ſittliches Gefühl und Urteil noch entwickelt iſt, uns viel leichter, beim Anblick der Handlungen dritter zu ſagen, das iſt gut, das iſt böſe. Der Menſch fällt bei der Beobachtung der Fehltritte eines anderen viel ſicherer als bei ſeinen eigenen das Urteil: du thuſt Unrecht, verdienſt Strafe. Wir haben bei ſolchem Anblick von der mißbilligten Handlung keinen augenblicklichen Vorteil, wie in dem Fall, in welchem wir ſelbſt der Verſuchung ausgeſetzt ſind. Wir haben von der gebilligten Handlung die reine Freude des Mitempfindens, von der gemißbilligten die volle Unluſt der Entrüſtung. Auf dieſem Mitklingen und Anklingen der Thaten und der Motive dritter in unſerer eigenen Bruſt, auf dieſen ſympathiſchen, zu Freude und Vergeltung anregenden Gefühlen beruht weſentlich die Ausbildung der ſittlichen Gefühle, des ſitt- lichen Urteils und der Fähigkeit, ſittlich zu handeln. Je energiſcher und je regelmäßiger wir die Handlungen anderer der ſittlichen Beurteilung unterwerfen, deſto mehr wird ſich uns durch die notwendige Einheit alles Denkens die Frage aufdrängen: ſollen wir nicht denſelben Maßſtab, wie auf andere, auf uns anwenden? Wir werden uns daran erinnern, daß andere uns ſo meſſen werden, wie wir ſie. Wir werden ſelbſt bei geheimen Handlungen uns fragen, was die Welt, die Freunde, die Nachbarn dazu ſagen würden. Der Menſch lernt ſo im Spiegel der Mitmenſchen ſich ſelbſt erſt richtig beurteilen. Er wendet notwendig die Reflexionen, mit denen er die Handlungen und Motive anderer begleitet, auf ſich an; dieſelben Gefühle der Billigung und Mißbilligung ſtellen ſich

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/58>, abgerufen am 18.04.2024.