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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Gesellschaftlicher, staatlicher und religiöser Zwang.
wie bei den Semiten, auf Lohn und Heimsuchung am dritten und vierten Gliede des
eigenen Geschlechts; bald, mit dem Erwachen des Unsterblichkeitsgedankens, auf eine
Vergeltung in einem anderen Leben. Das irdische Leben schrumpfte zu einer Vorbereitung
für ein jenseitiges zusammen; alle Freuden dieser Welt erschienen nun vergänglich und
nichtssagend gegen die Hoffnung einer ewigen Seligkeit, die als Lohn guter Thaten und
Gesinnungen erwartet wurde. Damit entstand eine sociale Zucht und eine sociale Kraft,
eine Fähigkeit der Unterordnung unter, der Hingabe an gesellschaftliche und ideale
Zwecke, welche die betreffenden Völker allen anderen überlegen machte, ihnen die herrschende,
führende Rolle übertrug. Die höchste Ausbildung des religiösen Lebens erfolgte unter
der Führung von historischen Idealgestalten, die durch ihr Beispiel und ihre Lehre nicht
bloß gute Handlungen, sondern gute Gesinnung verlangten. Die Furcht vor der Hölle
und die Hoffnung auf den Himmel verwandelten sich in die edelsten Affekte, in die Liebe
zu Gott, in die Hingabe an das Ideale. Die sittliche Gesinnung wurde zur Hauptsache
vor dem Herrn, der die Herzen und die Nieren prüft. Es genügte jetzt nicht mehr, um
der bloßen Belohnung willen äußerlich gut zu handeln; man kann nicht aus verwerflichen
Motiven gut, edel, christlich gesinnt sein.

Die großen ethischen Religionssysteme, hauptsächlich das christliche, sind es so,
welche die äußere Zwangskontrolle und die rohere innere Kontrolle, die auf Lohn und
Strafe rechnet, mehr und mehr in jene höhere innere Kontrolle umwandeln, die mit
der vorherrschenden Vorstellung eines sittlichen Lebensideals all' unser Thun beleuchtet
und reguliert. Das Gute wird nunmehr als die wahre und innere Natur des Menschen
erklärt und befolgt, es wird um seiner selbst willen geliebt, weil es allein dauernde,
ungetrübte, über alles menschliche Leid erhebende Befriedigung, das höchste Glück, die
reinste und dauerndste Lust gewährt. Aber auch wo die innere Umwandlung nicht so
weit geht, erheben die geläuterten religiösen Vorstellungen der ethischen Kulturreligionen
alles Empfinden und Handeln der Menschen auf eine andere Stufe. Die Selbstsucht
wird gezähmt, das Mitleid und alle sympathischen Gefühle werden ausgebildet. Die
Wahrheit, daß der einzelne nicht für sich selbst lebt, daß er mit seinem Thun und Lassen
großen geistigen Gemeinschaften angehört, daß er mit den endlichen Zwecken, die er
verfolgt, unendlichen Zwecken dient, diese Wahrheit predigt die Religion jedem, selbst
dem einfachsten Gemüt; sie verknüpft für die große Menge aller Menschen auf diese
Weise das alltägliche Treiben des beschränktesten Gesichtskreises mit den höchsten geistigen
Interessen. Durch die Religion bildet sich jenes abstrakte Pflichtgefühl aus, das als
kräftig wirkender Impuls überall den niedrigen Trieben entgegentritt. Es entsteht durch
sie jene allgemeine sittliche Lebenshaltung, welche nicht bloß die große Mehrzahl in den
Bahnen der Anständigkeit und Rechtschaffenheit, sondern auch einen erheblichen, und
gerade den führenden Teil der Völker in den Bahnen einer bewußten und beabsichtigten
Sittlichkeit festhält.

Zu jener unbedingten sittlichen Freiheit des Willens allerdings, für welchen die
Imperative des Zwanges ganz gleichgültig geworden sind, für welchen die Vorstellungen
von einer Vergeltung nach dem Tode wegfallen können, ohne zu sittlichen Gefahren zu
führen, haben zu allen Zeiten und auch heute nur wenige der edelsten und besten Menschen
sich erhoben. Und wenn dem so ist, so dürfte es klar sein, daß die Auflösung und
Verblassung unserer religiösen Vorstellungen in breiten Schichten der Gesellschaft nicht
bloß eine sittliche, sondern auch eine gesellschaftliche und politische Bedeutung haben.

Bis ins vorige Jahrhundert hat es kein großes Kulturvolk gegeben, in dem nicht
das ganze äußere und innere Leben von der einheitlichen Herrschaft eines ethischen
Religionssystems getragen war. Seine Autorität und seine Regeln beherrschten Staat,
Volkswirtschaft, Klassenbildung, Recht, Familie, Tauschverkehr, Geselligkeit gleichmäßig.
Jetzt machen wir nicht bloß Versuche, in demselben Staate verschiedene, allerdings meist
verwandte, in ihren Grundlehren übereinstimmende und darum wohl neben einander
zu duldende Religionssysteme zuzulassen. Nein, in breiten Schichten erst der höheren
Gesellschaft, teilweise aber auch schon der unteren Klassen ist das religiöse Empfinden
zurückgetreten oder verschwunden; weltliche Ideale und naturwissenschaftliche Betrachtungen

Geſellſchaftlicher, ſtaatlicher und religiöſer Zwang.
wie bei den Semiten, auf Lohn und Heimſuchung am dritten und vierten Gliede des
eigenen Geſchlechts; bald, mit dem Erwachen des Unſterblichkeitsgedankens, auf eine
Vergeltung in einem anderen Leben. Das irdiſche Leben ſchrumpfte zu einer Vorbereitung
für ein jenſeitiges zuſammen; alle Freuden dieſer Welt erſchienen nun vergänglich und
nichtsſagend gegen die Hoffnung einer ewigen Seligkeit, die als Lohn guter Thaten und
Geſinnungen erwartet wurde. Damit entſtand eine ſociale Zucht und eine ſociale Kraft,
eine Fähigkeit der Unterordnung unter, der Hingabe an geſellſchaftliche und ideale
Zwecke, welche die betreffenden Völker allen anderen überlegen machte, ihnen die herrſchende,
führende Rolle übertrug. Die höchſte Ausbildung des religiöſen Lebens erfolgte unter
der Führung von hiſtoriſchen Idealgeſtalten, die durch ihr Beiſpiel und ihre Lehre nicht
bloß gute Handlungen, ſondern gute Geſinnung verlangten. Die Furcht vor der Hölle
und die Hoffnung auf den Himmel verwandelten ſich in die edelſten Affekte, in die Liebe
zu Gott, in die Hingabe an das Ideale. Die ſittliche Geſinnung wurde zur Hauptſache
vor dem Herrn, der die Herzen und die Nieren prüft. Es genügte jetzt nicht mehr, um
der bloßen Belohnung willen äußerlich gut zu handeln; man kann nicht aus verwerflichen
Motiven gut, edel, chriſtlich geſinnt ſein.

Die großen ethiſchen Religionsſyſteme, hauptſächlich das chriſtliche, ſind es ſo,
welche die äußere Zwangskontrolle und die rohere innere Kontrolle, die auf Lohn und
Strafe rechnet, mehr und mehr in jene höhere innere Kontrolle umwandeln, die mit
der vorherrſchenden Vorſtellung eines ſittlichen Lebensideals all’ unſer Thun beleuchtet
und reguliert. Das Gute wird nunmehr als die wahre und innere Natur des Menſchen
erklärt und befolgt, es wird um ſeiner ſelbſt willen geliebt, weil es allein dauernde,
ungetrübte, über alles menſchliche Leid erhebende Befriedigung, das höchſte Glück, die
reinſte und dauerndſte Luſt gewährt. Aber auch wo die innere Umwandlung nicht ſo
weit geht, erheben die geläuterten religiöſen Vorſtellungen der ethiſchen Kulturreligionen
alles Empfinden und Handeln der Menſchen auf eine andere Stufe. Die Selbſtſucht
wird gezähmt, das Mitleid und alle ſympathiſchen Gefühle werden ausgebildet. Die
Wahrheit, daß der einzelne nicht für ſich ſelbſt lebt, daß er mit ſeinem Thun und Laſſen
großen geiſtigen Gemeinſchaften angehört, daß er mit den endlichen Zwecken, die er
verfolgt, unendlichen Zwecken dient, dieſe Wahrheit predigt die Religion jedem, ſelbſt
dem einfachſten Gemüt; ſie verknüpft für die große Menge aller Menſchen auf dieſe
Weiſe das alltägliche Treiben des beſchränkteſten Geſichtskreiſes mit den höchſten geiſtigen
Intereſſen. Durch die Religion bildet ſich jenes abſtrakte Pflichtgefühl aus, das als
kräftig wirkender Impuls überall den niedrigen Trieben entgegentritt. Es entſteht durch
ſie jene allgemeine ſittliche Lebenshaltung, welche nicht bloß die große Mehrzahl in den
Bahnen der Anſtändigkeit und Rechtſchaffenheit, ſondern auch einen erheblichen, und
gerade den führenden Teil der Völker in den Bahnen einer bewußten und beabſichtigten
Sittlichkeit feſthält.

Zu jener unbedingten ſittlichen Freiheit des Willens allerdings, für welchen die
Imperative des Zwanges ganz gleichgültig geworden ſind, für welchen die Vorſtellungen
von einer Vergeltung nach dem Tode wegfallen können, ohne zu ſittlichen Gefahren zu
führen, haben zu allen Zeiten und auch heute nur wenige der edelſten und beſten Menſchen
ſich erhoben. Und wenn dem ſo iſt, ſo dürfte es klar ſein, daß die Auflöſung und
Verblaſſung unſerer religiöſen Vorſtellungen in breiten Schichten der Geſellſchaft nicht
bloß eine ſittliche, ſondern auch eine geſellſchaftliche und politiſche Bedeutung haben.

Bis ins vorige Jahrhundert hat es kein großes Kulturvolk gegeben, in dem nicht
das ganze äußere und innere Leben von der einheitlichen Herrſchaft eines ethiſchen
Religionsſyſtems getragen war. Seine Autorität und ſeine Regeln beherrſchten Staat,
Volkswirtſchaft, Klaſſenbildung, Recht, Familie, Tauſchverkehr, Geſelligkeit gleichmäßig.
Jetzt machen wir nicht bloß Verſuche, in demſelben Staate verſchiedene, allerdings meiſt
verwandte, in ihren Grundlehren übereinſtimmende und darum wohl neben einander
zu duldende Religionsſyſteme zuzulaſſen. Nein, in breiten Schichten erſt der höheren
Geſellſchaft, teilweiſe aber auch ſchon der unteren Klaſſen iſt das religiöſe Empfinden
zurückgetreten oder verſchwunden; weltliche Ideale und naturwiſſenſchaftliche Betrachtungen

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[47/0063] Geſellſchaftlicher, ſtaatlicher und religiöſer Zwang. wie bei den Semiten, auf Lohn und Heimſuchung am dritten und vierten Gliede des eigenen Geſchlechts; bald, mit dem Erwachen des Unſterblichkeitsgedankens, auf eine Vergeltung in einem anderen Leben. Das irdiſche Leben ſchrumpfte zu einer Vorbereitung für ein jenſeitiges zuſammen; alle Freuden dieſer Welt erſchienen nun vergänglich und nichtsſagend gegen die Hoffnung einer ewigen Seligkeit, die als Lohn guter Thaten und Geſinnungen erwartet wurde. Damit entſtand eine ſociale Zucht und eine ſociale Kraft, eine Fähigkeit der Unterordnung unter, der Hingabe an geſellſchaftliche und ideale Zwecke, welche die betreffenden Völker allen anderen überlegen machte, ihnen die herrſchende, führende Rolle übertrug. Die höchſte Ausbildung des religiöſen Lebens erfolgte unter der Führung von hiſtoriſchen Idealgeſtalten, die durch ihr Beiſpiel und ihre Lehre nicht bloß gute Handlungen, ſondern gute Geſinnung verlangten. Die Furcht vor der Hölle und die Hoffnung auf den Himmel verwandelten ſich in die edelſten Affekte, in die Liebe zu Gott, in die Hingabe an das Ideale. Die ſittliche Geſinnung wurde zur Hauptſache vor dem Herrn, der die Herzen und die Nieren prüft. Es genügte jetzt nicht mehr, um der bloßen Belohnung willen äußerlich gut zu handeln; man kann nicht aus verwerflichen Motiven gut, edel, chriſtlich geſinnt ſein. Die großen ethiſchen Religionsſyſteme, hauptſächlich das chriſtliche, ſind es ſo, welche die äußere Zwangskontrolle und die rohere innere Kontrolle, die auf Lohn und Strafe rechnet, mehr und mehr in jene höhere innere Kontrolle umwandeln, die mit der vorherrſchenden Vorſtellung eines ſittlichen Lebensideals all’ unſer Thun beleuchtet und reguliert. Das Gute wird nunmehr als die wahre und innere Natur des Menſchen erklärt und befolgt, es wird um ſeiner ſelbſt willen geliebt, weil es allein dauernde, ungetrübte, über alles menſchliche Leid erhebende Befriedigung, das höchſte Glück, die reinſte und dauerndſte Luſt gewährt. Aber auch wo die innere Umwandlung nicht ſo weit geht, erheben die geläuterten religiöſen Vorſtellungen der ethiſchen Kulturreligionen alles Empfinden und Handeln der Menſchen auf eine andere Stufe. Die Selbſtſucht wird gezähmt, das Mitleid und alle ſympathiſchen Gefühle werden ausgebildet. Die Wahrheit, daß der einzelne nicht für ſich ſelbſt lebt, daß er mit ſeinem Thun und Laſſen großen geiſtigen Gemeinſchaften angehört, daß er mit den endlichen Zwecken, die er verfolgt, unendlichen Zwecken dient, dieſe Wahrheit predigt die Religion jedem, ſelbſt dem einfachſten Gemüt; ſie verknüpft für die große Menge aller Menſchen auf dieſe Weiſe das alltägliche Treiben des beſchränkteſten Geſichtskreiſes mit den höchſten geiſtigen Intereſſen. Durch die Religion bildet ſich jenes abſtrakte Pflichtgefühl aus, das als kräftig wirkender Impuls überall den niedrigen Trieben entgegentritt. Es entſteht durch ſie jene allgemeine ſittliche Lebenshaltung, welche nicht bloß die große Mehrzahl in den Bahnen der Anſtändigkeit und Rechtſchaffenheit, ſondern auch einen erheblichen, und gerade den führenden Teil der Völker in den Bahnen einer bewußten und beabſichtigten Sittlichkeit feſthält. Zu jener unbedingten ſittlichen Freiheit des Willens allerdings, für welchen die Imperative des Zwanges ganz gleichgültig geworden ſind, für welchen die Vorſtellungen von einer Vergeltung nach dem Tode wegfallen können, ohne zu ſittlichen Gefahren zu führen, haben zu allen Zeiten und auch heute nur wenige der edelſten und beſten Menſchen ſich erhoben. Und wenn dem ſo iſt, ſo dürfte es klar ſein, daß die Auflöſung und Verblaſſung unſerer religiöſen Vorſtellungen in breiten Schichten der Geſellſchaft nicht bloß eine ſittliche, ſondern auch eine geſellſchaftliche und politiſche Bedeutung haben. Bis ins vorige Jahrhundert hat es kein großes Kulturvolk gegeben, in dem nicht das ganze äußere und innere Leben von der einheitlichen Herrſchaft eines ethiſchen Religionsſyſtems getragen war. Seine Autorität und ſeine Regeln beherrſchten Staat, Volkswirtſchaft, Klaſſenbildung, Recht, Familie, Tauſchverkehr, Geſelligkeit gleichmäßig. Jetzt machen wir nicht bloß Verſuche, in demſelben Staate verſchiedene, allerdings meiſt verwandte, in ihren Grundlehren übereinſtimmende und darum wohl neben einander zu duldende Religionsſyſteme zuzulaſſen. Nein, in breiten Schichten erſt der höheren Geſellſchaft, teilweiſe aber auch ſchon der unteren Klaſſen iſt das religiöſe Empfinden zurückgetreten oder verſchwunden; weltliche Ideale und naturwiſſenſchaftliche Betrachtungen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/63>, abgerufen am 19.04.2024.