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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
es handelt sich um einen Glauben, der die Zweifel beruhigt, das Gemüt beherrscht,
der das Gute finden lehrt, der ein klares und deutliches Sollen vorschreibt. Alle ältere
Moral wird so als das logische Resultat eines religiösen Glaubenssystems erfaßt; sie
fällt mit Sitte und Recht noch ganz oder teilweise zusammen. Man ist sich, wie wir
oben sahen, lange über den Gegensatz von Sünde, Ritualvorschrift, Sitte und Recht
nicht klar. Aber immer zielt die priesterliche Moral schon auf etwas anderes als Sitte
und Recht. Die äußeren Satzungen der Priester mögen noch auf Befestigung der gesell-
schaftlichen Verfassung gerichtet sein; die Spekulation über den Willen der Gottheit
führt zur Erörterung des inneren Seelenlebens der Menschen. Zumal die höheren
Religionssysteme erkennen mehr und mehr die Bedeutung der sittlichen Gesinnung für
das Leben und die Handlungen. Das zusammenhängende einheitliche Nachdenken über
die Ursachen, warum wir gut handeln sollen, über die sittlichen Gefühle, Urteile, Hand-
lungen erzeugt die Moral, d. h. einheitliche Lehrgebäude, welche das Gute begreifen,
darstellen und lehren wollen, welche aus einheitlichen Grundgedanken und Principien
die sittlichen Pflichten, Tugenden und Güter ableiten wollen. Die Moral, das Moral-
system ist so stets im Gegensatz zu Sitte und Recht ein theoretisches und praktisches
Ganzes; sie will Regeln und Gebote für alles Leben geben, aber sie formuliert sie nicht
fest und klar, wie Sitte und Recht. Und sie will nicht bloß das äußere Leben regu-
lieren, sondern auch das innere in die rechte Verfassung setzen. Sie will das Gute an
sich lehren, sie will überreden, überzeugen, sie will die sittlichen Kräfte schaffen, aus
denen Sitte und Recht selbst als abgeleitete Erscheinungen hervorsprießen.

So lange in einem socialen Körper Kirche und Staat zusammenfallen, eine ein-
heitliche Kirchenlehre alles innere und äußere Leben beherrscht, giebt es nur die eine
kirchliche Moral, die eventuell mit Zwang und Gewalt ihre Gebote durchsetzt, ihren
Glauben und ihre Lehrsätze jedem aufdringt. So ist es in den muhamedanischen Staaten
noch heute; wie es dort noch kein weltliches Recht neben dem Koran giebt, so giebt es
auch noch keine selbständige weltliche Moral. Das Christentum hat einen fertigen Staat
vorgefunden, ihn der Kirche zeitweise untergeordnet, ihn mit seinen Säften und An-
schauungen ganz erfüllt, aber die beiden Organisationen Staat und Kirche blieben doch
stets getrennt. Neben der kirchlichen erhielt sich die philosophische Tradition des Alter-
tums. Das Recht und die Sitte der germanischen Völker waren niemals bloß kirchlich;
ein weltliches Recht blieb neben dem kirchlichen bestehen. Eine philosophische Moral-
spekulation verknüpfte sich im Mittelalter mit der kirchlichen, machte sich aber mit der
Renaissance der Wissenschaften vom 16.--18. Jahrhundert an von ihr los. Die Kämpfe
innerhalb der Kirche erzeugten eine katholische, eine protestantische, eine Sektenmoral.
Neben ihnen bildeten sich seit dem 17. Jahrhundert die weltlichen philosophischen Moral-
systeme. Und so können wir heute sagen, jede Kirche habe heute ihre Moral, wie jede
philosophische Schule; wir können beifügen, die Moral jedes Volkes, jedes Standes habe
ihre eigenen Züge. Ein kräftiges, selbständiges Leben hat jedes Moralsystem in dem
Maße, als es eine Litteratur und Presse erzeugt, in Wissenschaft, Kunst und Schule
besonderen Ausdruck gewinnt, in Geistlichen, Philosophen, Dichtern und Schriftstellern
besondere Träger erhält.

Die selbständige Entwickelung der Moral gegenüber Sitte und Recht hat einerseits
in den verschiedenen persönlichen Trägern, in den verschiedenen Spitzen der betreffenden
Bewußtseinskreise, andererseits in verschiedener formaler Beschaffenheit, in den verschiedenen
Zwecken ihren Grund. Sitte und Recht sind Regeln des äußeren Lebens, die Moral
umfaßt äußeres und inneres Leben, alles menschliche Handeln und alle Gesinnung.
Sitte und Recht sind in bestimmten Geboten und Verboten fixiert; die Moral wendet
sich ohne feste Formeln und Sätze an die Wurzel des Handelns, sie will die Seele zum
richtigen Handeln fähig machen, das Gewissen schärfen. Ihr Höhepunkt ist die freie
Sittlichkeit, die ohne Bindung an schablonenhafte Regeln sicher ist, aus sich heraus
überall das Gute und Edle zu thun. Die Moral leuchtet als führende Fackel der Sitte
und dem Recht, die ihr gar oft nur zögernd folgen, voran; sie fordert Gesinnungen
und Thaten, denen oftmals nur die Sitte der Besten entspricht, die zu einem großen

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
es handelt ſich um einen Glauben, der die Zweifel beruhigt, das Gemüt beherrſcht,
der das Gute finden lehrt, der ein klares und deutliches Sollen vorſchreibt. Alle ältere
Moral wird ſo als das logiſche Reſultat eines religiöſen Glaubensſyſtems erfaßt; ſie
fällt mit Sitte und Recht noch ganz oder teilweiſe zuſammen. Man iſt ſich, wie wir
oben ſahen, lange über den Gegenſatz von Sünde, Ritualvorſchrift, Sitte und Recht
nicht klar. Aber immer zielt die prieſterliche Moral ſchon auf etwas anderes als Sitte
und Recht. Die äußeren Satzungen der Prieſter mögen noch auf Befeſtigung der geſell-
ſchaftlichen Verfaſſung gerichtet ſein; die Spekulation über den Willen der Gottheit
führt zur Erörterung des inneren Seelenlebens der Menſchen. Zumal die höheren
Religionsſyſteme erkennen mehr und mehr die Bedeutung der ſittlichen Geſinnung für
das Leben und die Handlungen. Das zuſammenhängende einheitliche Nachdenken über
die Urſachen, warum wir gut handeln ſollen, über die ſittlichen Gefühle, Urteile, Hand-
lungen erzeugt die Moral, d. h. einheitliche Lehrgebäude, welche das Gute begreifen,
darſtellen und lehren wollen, welche aus einheitlichen Grundgedanken und Principien
die ſittlichen Pflichten, Tugenden und Güter ableiten wollen. Die Moral, das Moral-
ſyſtem iſt ſo ſtets im Gegenſatz zu Sitte und Recht ein theoretiſches und praktiſches
Ganzes; ſie will Regeln und Gebote für alles Leben geben, aber ſie formuliert ſie nicht
feſt und klar, wie Sitte und Recht. Und ſie will nicht bloß das äußere Leben regu-
lieren, ſondern auch das innere in die rechte Verfaſſung ſetzen. Sie will das Gute an
ſich lehren, ſie will überreden, überzeugen, ſie will die ſittlichen Kräfte ſchaffen, aus
denen Sitte und Recht ſelbſt als abgeleitete Erſcheinungen hervorſprießen.

So lange in einem ſocialen Körper Kirche und Staat zuſammenfallen, eine ein-
heitliche Kirchenlehre alles innere und äußere Leben beherrſcht, giebt es nur die eine
kirchliche Moral, die eventuell mit Zwang und Gewalt ihre Gebote durchſetzt, ihren
Glauben und ihre Lehrſätze jedem aufdringt. So iſt es in den muhamedaniſchen Staaten
noch heute; wie es dort noch kein weltliches Recht neben dem Koran giebt, ſo giebt es
auch noch keine ſelbſtändige weltliche Moral. Das Chriſtentum hat einen fertigen Staat
vorgefunden, ihn der Kirche zeitweiſe untergeordnet, ihn mit ſeinen Säften und An-
ſchauungen ganz erfüllt, aber die beiden Organiſationen Staat und Kirche blieben doch
ſtets getrennt. Neben der kirchlichen erhielt ſich die philoſophiſche Tradition des Alter-
tums. Das Recht und die Sitte der germaniſchen Völker waren niemals bloß kirchlich;
ein weltliches Recht blieb neben dem kirchlichen beſtehen. Eine philoſophiſche Moral-
ſpekulation verknüpfte ſich im Mittelalter mit der kirchlichen, machte ſich aber mit der
Renaiſſance der Wiſſenſchaften vom 16.—18. Jahrhundert an von ihr los. Die Kämpfe
innerhalb der Kirche erzeugten eine katholiſche, eine proteſtantiſche, eine Sektenmoral.
Neben ihnen bildeten ſich ſeit dem 17. Jahrhundert die weltlichen philoſophiſchen Moral-
ſyſteme. Und ſo können wir heute ſagen, jede Kirche habe heute ihre Moral, wie jede
philoſophiſche Schule; wir können beifügen, die Moral jedes Volkes, jedes Standes habe
ihre eigenen Züge. Ein kräftiges, ſelbſtändiges Leben hat jedes Moralſyſtem in dem
Maße, als es eine Litteratur und Preſſe erzeugt, in Wiſſenſchaft, Kunſt und Schule
beſonderen Ausdruck gewinnt, in Geiſtlichen, Philoſophen, Dichtern und Schriftſtellern
beſondere Träger erhält.

Die ſelbſtändige Entwickelung der Moral gegenüber Sitte und Recht hat einerſeits
in den verſchiedenen perſönlichen Trägern, in den verſchiedenen Spitzen der betreffenden
Bewußtſeinskreiſe, andererſeits in verſchiedener formaler Beſchaffenheit, in den verſchiedenen
Zwecken ihren Grund. Sitte und Recht ſind Regeln des äußeren Lebens, die Moral
umfaßt äußeres und inneres Leben, alles menſchliche Handeln und alle Geſinnung.
Sitte und Recht ſind in beſtimmten Geboten und Verboten fixiert; die Moral wendet
ſich ohne feſte Formeln und Sätze an die Wurzel des Handelns, ſie will die Seele zum
richtigen Handeln fähig machen, das Gewiſſen ſchärfen. Ihr Höhepunkt iſt die freie
Sittlichkeit, die ohne Bindung an ſchablonenhafte Regeln ſicher iſt, aus ſich heraus
überall das Gute und Edle zu thun. Die Moral leuchtet als führende Fackel der Sitte
und dem Recht, die ihr gar oft nur zögernd folgen, voran; ſie fordert Geſinnungen
und Thaten, denen oftmals nur die Sitte der Beſten entſpricht, die zu einem großen

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[56/0072] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. es handelt ſich um einen Glauben, der die Zweifel beruhigt, das Gemüt beherrſcht, der das Gute finden lehrt, der ein klares und deutliches Sollen vorſchreibt. Alle ältere Moral wird ſo als das logiſche Reſultat eines religiöſen Glaubensſyſtems erfaßt; ſie fällt mit Sitte und Recht noch ganz oder teilweiſe zuſammen. Man iſt ſich, wie wir oben ſahen, lange über den Gegenſatz von Sünde, Ritualvorſchrift, Sitte und Recht nicht klar. Aber immer zielt die prieſterliche Moral ſchon auf etwas anderes als Sitte und Recht. Die äußeren Satzungen der Prieſter mögen noch auf Befeſtigung der geſell- ſchaftlichen Verfaſſung gerichtet ſein; die Spekulation über den Willen der Gottheit führt zur Erörterung des inneren Seelenlebens der Menſchen. Zumal die höheren Religionsſyſteme erkennen mehr und mehr die Bedeutung der ſittlichen Geſinnung für das Leben und die Handlungen. Das zuſammenhängende einheitliche Nachdenken über die Urſachen, warum wir gut handeln ſollen, über die ſittlichen Gefühle, Urteile, Hand- lungen erzeugt die Moral, d. h. einheitliche Lehrgebäude, welche das Gute begreifen, darſtellen und lehren wollen, welche aus einheitlichen Grundgedanken und Principien die ſittlichen Pflichten, Tugenden und Güter ableiten wollen. Die Moral, das Moral- ſyſtem iſt ſo ſtets im Gegenſatz zu Sitte und Recht ein theoretiſches und praktiſches Ganzes; ſie will Regeln und Gebote für alles Leben geben, aber ſie formuliert ſie nicht feſt und klar, wie Sitte und Recht. Und ſie will nicht bloß das äußere Leben regu- lieren, ſondern auch das innere in die rechte Verfaſſung ſetzen. Sie will das Gute an ſich lehren, ſie will überreden, überzeugen, ſie will die ſittlichen Kräfte ſchaffen, aus denen Sitte und Recht ſelbſt als abgeleitete Erſcheinungen hervorſprießen. So lange in einem ſocialen Körper Kirche und Staat zuſammenfallen, eine ein- heitliche Kirchenlehre alles innere und äußere Leben beherrſcht, giebt es nur die eine kirchliche Moral, die eventuell mit Zwang und Gewalt ihre Gebote durchſetzt, ihren Glauben und ihre Lehrſätze jedem aufdringt. So iſt es in den muhamedaniſchen Staaten noch heute; wie es dort noch kein weltliches Recht neben dem Koran giebt, ſo giebt es auch noch keine ſelbſtändige weltliche Moral. Das Chriſtentum hat einen fertigen Staat vorgefunden, ihn der Kirche zeitweiſe untergeordnet, ihn mit ſeinen Säften und An- ſchauungen ganz erfüllt, aber die beiden Organiſationen Staat und Kirche blieben doch ſtets getrennt. Neben der kirchlichen erhielt ſich die philoſophiſche Tradition des Alter- tums. Das Recht und die Sitte der germaniſchen Völker waren niemals bloß kirchlich; ein weltliches Recht blieb neben dem kirchlichen beſtehen. Eine philoſophiſche Moral- ſpekulation verknüpfte ſich im Mittelalter mit der kirchlichen, machte ſich aber mit der Renaiſſance der Wiſſenſchaften vom 16.—18. Jahrhundert an von ihr los. Die Kämpfe innerhalb der Kirche erzeugten eine katholiſche, eine proteſtantiſche, eine Sektenmoral. Neben ihnen bildeten ſich ſeit dem 17. Jahrhundert die weltlichen philoſophiſchen Moral- ſyſteme. Und ſo können wir heute ſagen, jede Kirche habe heute ihre Moral, wie jede philoſophiſche Schule; wir können beifügen, die Moral jedes Volkes, jedes Standes habe ihre eigenen Züge. Ein kräftiges, ſelbſtändiges Leben hat jedes Moralſyſtem in dem Maße, als es eine Litteratur und Preſſe erzeugt, in Wiſſenſchaft, Kunſt und Schule beſonderen Ausdruck gewinnt, in Geiſtlichen, Philoſophen, Dichtern und Schriftſtellern beſondere Träger erhält. Die ſelbſtändige Entwickelung der Moral gegenüber Sitte und Recht hat einerſeits in den verſchiedenen perſönlichen Trägern, in den verſchiedenen Spitzen der betreffenden Bewußtſeinskreiſe, andererſeits in verſchiedener formaler Beſchaffenheit, in den verſchiedenen Zwecken ihren Grund. Sitte und Recht ſind Regeln des äußeren Lebens, die Moral umfaßt äußeres und inneres Leben, alles menſchliche Handeln und alle Geſinnung. Sitte und Recht ſind in beſtimmten Geboten und Verboten fixiert; die Moral wendet ſich ohne feſte Formeln und Sätze an die Wurzel des Handelns, ſie will die Seele zum richtigen Handeln fähig machen, das Gewiſſen ſchärfen. Ihr Höhepunkt iſt die freie Sittlichkeit, die ohne Bindung an ſchablonenhafte Regeln ſicher iſt, aus ſich heraus überall das Gute und Edle zu thun. Die Moral leuchtet als führende Fackel der Sitte und dem Recht, die ihr gar oft nur zögernd folgen, voran; ſie fordert Geſinnungen und Thaten, denen oftmals nur die Sitte der Beſten entſpricht, die zu einem großen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/72>, abgerufen am 28.03.2024.