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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Antike Philosophie und Christentum.
von Kräften, das von der göttlichen Centralkraft, der Vernunft, bewegt wird. Auch im
Menschen lebt das göttliche Gesetz, die naturgesetzliche Vernunft, die ihn zur Gemeinschaft
führt, die das menschliche Handeln und die Gesellschaft regiert. Im Anfange bestand
ein goldenes Zeitalter, das währte, so lange das reine Naturgesetz herrschte; aber auch
später ist das Naturrecht neben den falschen positiven Gesetzen vorhanden; die menschlichen
Satzungen müssen nur wieder in Übereinstimmung mit dem Naturgesetz gebracht werden:
das wird der Fall sein, wenn alle Leidenschaften von der Vernunft gezähmt sind,
wenn alle Menschen einen Staat ausmachen, in dem die Einzelstaaten enthalten sind,
wie die Häuser in einer Stadt. Mag ein stoischer Kaiser, wie Mark Aurel, den mensch-
lichen Trieb nach Gemeinschaft und das Vernünftige der Staatseinrichtungen betont
haben, mögen die von der Stoa beherrschten römischen Juristen für das Verständnis
einer festgefügten herrschaftlichen Staatsordnung energisch gewirkt haben, das welt-
bürgerlich-quietistisch-brüderliche, gesellschaftliche Ideal der entsagenden, den Selbstmord
verherrlichenden Stoiker blieb jene Weltgemeinschaft Zenos "ohne Ehe, ohne Familie,
ohne Tempel, ohne Gerichtshöfe, ohne Gymnasien, ohne Münze", d. h. ein unrealisier-
barer Traum, aus dem keine praktische Kraft des Schaffens und keine lebenskräftige
Theorie erwachsen konnte.

36. Das Christentum. Der Neuplatonismus rückte die sinnliche Welt noch
eine Stufe tiefer als die Stoa; er sah im Körper das Gefängnis der Seele, im Tode
die Befreiung von Sünde und Zeitlichkeit. Die christliche Erlösungslehre liegt in der-
selben Richtung. Die Wiedervereinigung mit Gott, die Erlösung von Sünde und Welt
ist das Ziel, das alles irdische Thun als eine kurze Vorbereitungszeit fürs Jenseits
erscheinen läßt; je mehr der Mensch den irdischen Genüssen und Gütern entsagt, desto
besser hat er seine Tage benützt. Stoa, Neuplatonismus und Christentum sind Stufen
derselben Leiter, sind die notwendigen Endergebnisse eines geistig-sittlichen Prozesses, der
aus dem Zusammenbruch der antiken Kultur zum Höhepunkt des religiös-sittlichen
Lebens der Menschheit führt. Nur aus der Stimmung der Verzweiflung an Welt und
irdischem Dasein heraus konnte jene christliche Sehnsucht nach Gott und Erlösung ent-
stehen, welche eine Anspannung der sittlichen Kräfte und sympathischen Gefühle ohne
Gleichen für Jahrtausende und damit für die ganze Zukunft eine neue moralische und
gesellschaftliche Welt erzeugte.

Freilich war es nur in den langen Jahrhunderten des Niederganges der alten wirt-
schaftlichen Kultur und der vorherrschenden Naturalwirtschaft des älteren Mittelalters
möglich, daß Weltflucht fast noch mehr als brüderliche Liebe, Ertötung der Sinne und
beschaulicher Quietismus als höchste Ideale galten, daß man Arbeit und Eigentum
wesentlich als Fluch der Sünde betrachtete, daß man den Gelderwerb überwiegend als
Wucher brandmarkte, ein Almosengeben um jeden Preis, ohne Überlegung des Erfolges,
empfehlen konnte. Es ist heute leicht, die Überspanntheit und Unausführbarkeit vieler
praktischer Forderungen des mittelalterlich-asketischen Christentums nachzuweisen; noch
leichter zu zeigen, daß ein irdischer Gottesstaat im Sinne Augustins auch der Welt-
herrschaft und dem Millionenreichtume der römischen Kirche durchzuführen unmöglich war.
Die vollständige Weltflucht und die Indifferenz gegen alles Irdische artete in trägen
Quietismus, in falsches Urteil über Arbeit und Besitz, in Zerstörung der Gesundheit, die
Überspannung der Brüderlichkeit in kommunistische Lehren, in Verurteilung aller höheren
Wirtschaftsformen und Auflösung der Gesellschaft aus. Aber ebenso sicher ist, daß diese
Einseitigkeiten notwendige Begleiterscheinungen jenes moralischen Idealismus waren, der
wie ein Sauerteig die Völker des Abendlandes ergriff und emporhob. Es entstand mit
dieser christlichen Hingabe an Gott, mit diesen Hoffnungen auf Unsterblichkeit und ewige
Seligkeit ein Gottvertrauen und eine Selbstbeherrschung, die bis zum moralischen
Heroismus ging; eine Seelenreinheit und Selbstlosigkeit, ein sich Opfern für ideale Zwecke
wurde möglich, wie man es früher nicht gekannt. Die Idee der brüderlichen Liebe,
der Nächsten- und Menschenliebe begann alle Lebensverhältnisse zu durchdringen und
erzeugte eine Erweichung des harten Eigentumsbegriffes, einen Sieg der gesellschaftlichen
und Gattungsinteressen über die egoistischen Individual-, Klassen- und Nationalinteressen,

Antike Philoſophie und Chriſtentum.
von Kräften, das von der göttlichen Centralkraft, der Vernunft, bewegt wird. Auch im
Menſchen lebt das göttliche Geſetz, die naturgeſetzliche Vernunft, die ihn zur Gemeinſchaft
führt, die das menſchliche Handeln und die Geſellſchaft regiert. Im Anfange beſtand
ein goldenes Zeitalter, das währte, ſo lange das reine Naturgeſetz herrſchte; aber auch
ſpäter iſt das Naturrecht neben den falſchen poſitiven Geſetzen vorhanden; die menſchlichen
Satzungen müſſen nur wieder in Übereinſtimmung mit dem Naturgeſetz gebracht werden:
das wird der Fall ſein, wenn alle Leidenſchaften von der Vernunft gezähmt ſind,
wenn alle Menſchen einen Staat ausmachen, in dem die Einzelſtaaten enthalten ſind,
wie die Häuſer in einer Stadt. Mag ein ſtoiſcher Kaiſer, wie Mark Aurel, den menſch-
lichen Trieb nach Gemeinſchaft und das Vernünftige der Staatseinrichtungen betont
haben, mögen die von der Stoa beherrſchten römiſchen Juriſten für das Verſtändnis
einer feſtgefügten herrſchaftlichen Staatsordnung energiſch gewirkt haben, das welt-
bürgerlich-quietiſtiſch-brüderliche, geſellſchaftliche Ideal der entſagenden, den Selbſtmord
verherrlichenden Stoiker blieb jene Weltgemeinſchaft Zenos „ohne Ehe, ohne Familie,
ohne Tempel, ohne Gerichtshöfe, ohne Gymnaſien, ohne Münze“, d. h. ein unrealiſier-
barer Traum, aus dem keine praktiſche Kraft des Schaffens und keine lebenskräftige
Theorie erwachſen konnte.

36. Das Chriſtentum. Der Neuplatonismus rückte die ſinnliche Welt noch
eine Stufe tiefer als die Stoa; er ſah im Körper das Gefängnis der Seele, im Tode
die Befreiung von Sünde und Zeitlichkeit. Die chriſtliche Erlöſungslehre liegt in der-
ſelben Richtung. Die Wiedervereinigung mit Gott, die Erlöſung von Sünde und Welt
iſt das Ziel, das alles irdiſche Thun als eine kurze Vorbereitungszeit fürs Jenſeits
erſcheinen läßt; je mehr der Menſch den irdiſchen Genüſſen und Gütern entſagt, deſto
beſſer hat er ſeine Tage benützt. Stoa, Neuplatonismus und Chriſtentum ſind Stufen
derſelben Leiter, ſind die notwendigen Endergebniſſe eines geiſtig-ſittlichen Prozeſſes, der
aus dem Zuſammenbruch der antiken Kultur zum Höhepunkt des religiös-ſittlichen
Lebens der Menſchheit führt. Nur aus der Stimmung der Verzweiflung an Welt und
irdiſchem Daſein heraus konnte jene chriſtliche Sehnſucht nach Gott und Erlöſung ent-
ſtehen, welche eine Anſpannung der ſittlichen Kräfte und ſympathiſchen Gefühle ohne
Gleichen für Jahrtauſende und damit für die ganze Zukunft eine neue moraliſche und
geſellſchaftliche Welt erzeugte.

Freilich war es nur in den langen Jahrhunderten des Niederganges der alten wirt-
ſchaftlichen Kultur und der vorherrſchenden Naturalwirtſchaft des älteren Mittelalters
möglich, daß Weltflucht faſt noch mehr als brüderliche Liebe, Ertötung der Sinne und
beſchaulicher Quietismus als höchſte Ideale galten, daß man Arbeit und Eigentum
weſentlich als Fluch der Sünde betrachtete, daß man den Gelderwerb überwiegend als
Wucher brandmarkte, ein Almoſengeben um jeden Preis, ohne Überlegung des Erfolges,
empfehlen konnte. Es iſt heute leicht, die Überſpanntheit und Unausführbarkeit vieler
praktiſcher Forderungen des mittelalterlich-asketiſchen Chriſtentums nachzuweiſen; noch
leichter zu zeigen, daß ein irdiſcher Gottesſtaat im Sinne Auguſtins auch der Welt-
herrſchaft und dem Millionenreichtume der römiſchen Kirche durchzuführen unmöglich war.
Die vollſtändige Weltflucht und die Indifferenz gegen alles Irdiſche artete in trägen
Quietismus, in falſches Urteil über Arbeit und Beſitz, in Zerſtörung der Geſundheit, die
Überſpannung der Brüderlichkeit in kommuniſtiſche Lehren, in Verurteilung aller höheren
Wirtſchaftsformen und Auflöſung der Geſellſchaft aus. Aber ebenſo ſicher iſt, daß dieſe
Einſeitigkeiten notwendige Begleiterſcheinungen jenes moraliſchen Idealismus waren, der
wie ein Sauerteig die Völker des Abendlandes ergriff und emporhob. Es entſtand mit
dieſer chriſtlichen Hingabe an Gott, mit dieſen Hoffnungen auf Unſterblichkeit und ewige
Seligkeit ein Gottvertrauen und eine Selbſtbeherrſchung, die bis zum moraliſchen
Heroismus ging; eine Seelenreinheit und Selbſtloſigkeit, ein ſich Opfern für ideale Zwecke
wurde möglich, wie man es früher nicht gekannt. Die Idee der brüderlichen Liebe,
der Nächſten- und Menſchenliebe begann alle Lebensverhältniſſe zu durchdringen und
erzeugte eine Erweichung des harten Eigentumsbegriffes, einen Sieg der geſellſchaftlichen
und Gattungsintereſſen über die egoiſtiſchen Individual-, Klaſſen- und Nationalintereſſen,

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[79/0095] Antike Philoſophie und Chriſtentum. von Kräften, das von der göttlichen Centralkraft, der Vernunft, bewegt wird. Auch im Menſchen lebt das göttliche Geſetz, die naturgeſetzliche Vernunft, die ihn zur Gemeinſchaft führt, die das menſchliche Handeln und die Geſellſchaft regiert. Im Anfange beſtand ein goldenes Zeitalter, das währte, ſo lange das reine Naturgeſetz herrſchte; aber auch ſpäter iſt das Naturrecht neben den falſchen poſitiven Geſetzen vorhanden; die menſchlichen Satzungen müſſen nur wieder in Übereinſtimmung mit dem Naturgeſetz gebracht werden: das wird der Fall ſein, wenn alle Leidenſchaften von der Vernunft gezähmt ſind, wenn alle Menſchen einen Staat ausmachen, in dem die Einzelſtaaten enthalten ſind, wie die Häuſer in einer Stadt. Mag ein ſtoiſcher Kaiſer, wie Mark Aurel, den menſch- lichen Trieb nach Gemeinſchaft und das Vernünftige der Staatseinrichtungen betont haben, mögen die von der Stoa beherrſchten römiſchen Juriſten für das Verſtändnis einer feſtgefügten herrſchaftlichen Staatsordnung energiſch gewirkt haben, das welt- bürgerlich-quietiſtiſch-brüderliche, geſellſchaftliche Ideal der entſagenden, den Selbſtmord verherrlichenden Stoiker blieb jene Weltgemeinſchaft Zenos „ohne Ehe, ohne Familie, ohne Tempel, ohne Gerichtshöfe, ohne Gymnaſien, ohne Münze“, d. h. ein unrealiſier- barer Traum, aus dem keine praktiſche Kraft des Schaffens und keine lebenskräftige Theorie erwachſen konnte. 36. Das Chriſtentum. Der Neuplatonismus rückte die ſinnliche Welt noch eine Stufe tiefer als die Stoa; er ſah im Körper das Gefängnis der Seele, im Tode die Befreiung von Sünde und Zeitlichkeit. Die chriſtliche Erlöſungslehre liegt in der- ſelben Richtung. Die Wiedervereinigung mit Gott, die Erlöſung von Sünde und Welt iſt das Ziel, das alles irdiſche Thun als eine kurze Vorbereitungszeit fürs Jenſeits erſcheinen läßt; je mehr der Menſch den irdiſchen Genüſſen und Gütern entſagt, deſto beſſer hat er ſeine Tage benützt. Stoa, Neuplatonismus und Chriſtentum ſind Stufen derſelben Leiter, ſind die notwendigen Endergebniſſe eines geiſtig-ſittlichen Prozeſſes, der aus dem Zuſammenbruch der antiken Kultur zum Höhepunkt des religiös-ſittlichen Lebens der Menſchheit führt. Nur aus der Stimmung der Verzweiflung an Welt und irdiſchem Daſein heraus konnte jene chriſtliche Sehnſucht nach Gott und Erlöſung ent- ſtehen, welche eine Anſpannung der ſittlichen Kräfte und ſympathiſchen Gefühle ohne Gleichen für Jahrtauſende und damit für die ganze Zukunft eine neue moraliſche und geſellſchaftliche Welt erzeugte. Freilich war es nur in den langen Jahrhunderten des Niederganges der alten wirt- ſchaftlichen Kultur und der vorherrſchenden Naturalwirtſchaft des älteren Mittelalters möglich, daß Weltflucht faſt noch mehr als brüderliche Liebe, Ertötung der Sinne und beſchaulicher Quietismus als höchſte Ideale galten, daß man Arbeit und Eigentum weſentlich als Fluch der Sünde betrachtete, daß man den Gelderwerb überwiegend als Wucher brandmarkte, ein Almoſengeben um jeden Preis, ohne Überlegung des Erfolges, empfehlen konnte. Es iſt heute leicht, die Überſpanntheit und Unausführbarkeit vieler praktiſcher Forderungen des mittelalterlich-asketiſchen Chriſtentums nachzuweiſen; noch leichter zu zeigen, daß ein irdiſcher Gottesſtaat im Sinne Auguſtins auch der Welt- herrſchaft und dem Millionenreichtume der römiſchen Kirche durchzuführen unmöglich war. Die vollſtändige Weltflucht und die Indifferenz gegen alles Irdiſche artete in trägen Quietismus, in falſches Urteil über Arbeit und Beſitz, in Zerſtörung der Geſundheit, die Überſpannung der Brüderlichkeit in kommuniſtiſche Lehren, in Verurteilung aller höheren Wirtſchaftsformen und Auflöſung der Geſellſchaft aus. Aber ebenſo ſicher iſt, daß dieſe Einſeitigkeiten notwendige Begleiterſcheinungen jenes moraliſchen Idealismus waren, der wie ein Sauerteig die Völker des Abendlandes ergriff und emporhob. Es entſtand mit dieſer chriſtlichen Hingabe an Gott, mit dieſen Hoffnungen auf Unſterblichkeit und ewige Seligkeit ein Gottvertrauen und eine Selbſtbeherrſchung, die bis zum moraliſchen Heroismus ging; eine Seelenreinheit und Selbſtloſigkeit, ein ſich Opfern für ideale Zwecke wurde möglich, wie man es früher nicht gekannt. Die Idee der brüderlichen Liebe, der Nächſten- und Menſchenliebe begann alle Lebensverhältniſſe zu durchdringen und erzeugte eine Erweichung des harten Eigentumsbegriffes, einen Sieg der geſellſchaftlichen und Gattungsintereſſen über die egoiſtiſchen Individual-, Klaſſen- und Nationalintereſſen,

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/95>, abgerufen am 28.03.2024.