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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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ist das einheitliche der Beziehung aller dieser Vorgänge auf das Ich.
Wie in einem einheitlichen Brennpunkte sammeln und konzentrieren
sich die seelischen Ereignisse in ihm, verbinden sich zu einem Ganzen;
alles einzelne ordnet sich diesem Ganzen unter. Wie es das unabweis-
liche praktische Bedürfnis ist, alle praktischen Regeln unseres Han-
delns in Übereinstimmung zu bringen, um nicht in das peinliche Ge-
fühl des Widerspruchs mit uns selbst zu kommen, so entspringt aus
dem einheitlichen Selbstbewußtsein jener theoretische unwidersteh-
liche Einheitsdrang ,der alles Beobachtete und Erlebte auf gewisse
oberste Vorstellungen zurückführen, es als Teile einem Ganzen ein-
fügen will. Unser Denken und unser Gewissen fühlt sich erst be-
ruhigt, wenn es einen solchen einheitlichen Punkt gefunden, der
theoretisch-praktischer Natur zugleich ist, der eine Vorstellung von der
Welt und ihrem Wesen und von den Zielen unseres Daseins gibt. Aus
dem einheitlichen Selbstbewußtsein folgt, daß jeder Mensch nach einer
einheitlichen Weltanschauung strebt, die durch die mit ihr gegebenen
Werturteile ein Lebensideal enthält.

Dies geschieht in älterer Zeit ausschließlich in der Form kosmogo-
nischer Vorstellungen, mit denen der Glaube an Geister und Götter
verknüpft ist, d. h. in der Form des religiösen Glaubens, der einheit-
lich das menschliche Dasein und die Natur begreiflich macht und alle
Regeln des Handelns als Gebote der Götter auffaßt. Die Vielheit der
Götter strebt wieder nach Einheit, zuletzt entsteht der Glaube an ein
oberstes allmächtiges und allwissendes Wesen, das als Ursache der Welt
wie als Inbegriff alles Guten und Idealen gedacht wird. Selbst die
äußeren Regeln des praktischen Handelns werden als Gebote Gottes auf-
gefaßt oder als Abteilungen aus seinen Geboten erklärt. Die religiösen
und kirchlichen Ordnungen dieser älteren Zeiten sind zugleich die
wichtigsten Instrumente der sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Organisation. In den relativ kleinen Gemeinwesen konnte es nur eine
einheitliche Religion geben, die alle Lebensgebiete beherrschte und
durchdrang.

Die religiöse Lehre erklärt alles und lenkt alles; sie ist ein erster Ver-
such rationaler Erklärung des Seienden und praktischer Lenkung alles
Geschehenden. Sie enthält kein Wissen und Erkennen im späteren
Sinne; aber sie gibt dem Menschen ein einheitliches Begreifen der
Dinge, einen Glauben, der das naive Nachdenken beruhigt, das Ge-
müt beherrscht, der das Gute finden lehrt, der ein klares und deut-
liches Sollen vorschreibt. Er ruht auf dunkeln Bildern der Welt, aber
mehr und mehr schon auf einer klaren Erfassung der Menschenseele,
ihrer Kräfte und Triebe. Denn diese innere Erfahrung ist der älteste
und sicherste Bestand menschlicher Erkenntnis4.

ist das einheitliche der Beziehung aller dieser Vorgänge auf das Ich.
Wie in einem einheitlichen Brennpunkte sammeln und konzentrieren
sich die seelischen Ereignisse in ihm, verbinden sich zu einem Ganzen;
alles einzelne ordnet sich diesem Ganzen unter. Wie es das unabweis-
liche praktische Bedürfnis ist, alle praktischen Regeln unseres Han-
delns in Übereinstimmung zu bringen, um nicht in das peinliche Ge-
fühl des Widerspruchs mit uns selbst zu kommen, so entspringt aus
dem einheitlichen Selbstbewußtsein jener theoretische unwidersteh-
liche Einheitsdrang ‚der alles Beobachtete und Erlebte auf gewisse
oberste Vorstellungen zurückführen, es als Teile einem Ganzen ein-
fügen will. Unser Denken und unser Gewissen fühlt sich erst be-
ruhigt, wenn es einen solchen einheitlichen Punkt gefunden, der
theoretisch-praktischer Natur zugleich ist, der eine Vorstellung von der
Welt und ihrem Wesen und von den Zielen unseres Daseins gibt. Aus
dem einheitlichen Selbstbewußtsein folgt, daß jeder Mensch nach einer
einheitlichen Weltanschauung strebt, die durch die mit ihr gegebenen
Werturteile ein Lebensideal enthält.

Dies geschieht in älterer Zeit ausschließlich in der Form kosmogo-
nischer Vorstellungen, mit denen der Glaube an Geister und Götter
verknüpft ist, d. h. in der Form des religiösen Glaubens, der einheit-
lich das menschliche Dasein und die Natur begreiflich macht und alle
Regeln des Handelns als Gebote der Götter auffaßt. Die Vielheit der
Götter strebt wieder nach Einheit, zuletzt entsteht der Glaube an ein
oberstes allmächtiges und allwissendes Wesen, das als Ursache der Welt
wie als Inbegriff alles Guten und Idealen gedacht wird. Selbst die
äußeren Regeln des praktischen Handelns werden als Gebote Gottes auf-
gefaßt oder als Abteilungen aus seinen Geboten erklärt. Die religiösen
und kirchlichen Ordnungen dieser älteren Zeiten sind zugleich die
wichtigsten Instrumente der sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Organisation. In den relativ kleinen Gemeinwesen konnte es nur eine
einheitliche Religion geben, die alle Lebensgebiete beherrschte und
durchdrang.

Die religiöse Lehre erklärt alles und lenkt alles; sie ist ein erster Ver-
such rationaler Erklärung des Seienden und praktischer Lenkung alles
Geschehenden. Sie enthält kein Wissen und Erkennen im späteren
Sinne; aber sie gibt dem Menschen ein einheitliches Begreifen der
Dinge, einen Glauben, der das naive Nachdenken beruhigt, das Ge-
müt beherrscht, der das Gute finden lehrt, der ein klares und deut-
liches Sollen vorschreibt. Er ruht auf dunkeln Bildern der Welt, aber
mehr und mehr schon auf einer klaren Erfassung der Menschenseele,
ihrer Kräfte und Triebe. Denn diese innere Erfahrung ist der älteste
und sicherste Bestand menschlicher Erkenntnis4.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/25>, abgerufen am 28.03.2024.