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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Alle Beobachtung isoliert aus dem Chaos der Erscheinungen einen ein-
zelnen Vorgang, um ihn für sich zu betrachten. Sie beruht stets auf
Abstraktion; sie analysiert einen Teilinhalt. Je kleiner er ist, je iso-
lierter er sich darstellt, desto leichter ist das Geschäft. Die Beobachtung
soll erschöpfend, vollständig, genau sein, alle wahrnehmbaren Bezie-
hungen des Gegenstandes eruieren, eine genaue Größen-, Zeit-, Raum-
bestimmung enthalten; sie will die Gleichheit und Ähnlichkeit, wie
die Verschiedenheit gegenüber den verwandten oder entgegengesetzten
Erscheinungen feststellen. Die relative Einfachheit der elementaren
Naturvorgänge erleichtert auf dem Gebiete der Naturwissenschaften die
Beobachtung sehr; es kommt dazu, daß der Naturforscher es in seiner
Gewalt hat, die Umgebung, die mitwirkenden Ursachen beliebig zu
ändern, d. h. zu experimentieren und so den Gegenstand von allen
Seiten her leichter zu fassen. Nicht bloß ist das bei volkswirtschaft-
lichen Erscheinungen nicht oft und nicht leicht möglich, sondern diese
sind stets -- auch in ihrer einfachsten Form -- sehr viel kompliziertere
Gegenstände, abhängig von den verschiedensten Ursachen, beeinflußt
durch eine Reihe mitwirkender Bedingungen8. Nehmen wir eine Stei-
gerung des Getreidepreises, des Lohnes, eine Kursveränderung oder
gar eine Handelskrisis, einen Fortschritt der Arbeitsteilung; fast jeder
solche Vorgang besteht aus Gefühlen, Motiven und Handlungen ge-
wisser Gruppen von Menschen, dann aus Massentatsachen der Natur
(z. B. einer Ernte) oder des technischen Lebens (z. B. der Maschinen-
einführung), er ist beeinflußt von Sitten und Einrichtungen, deren
Ursachen weit auseinander liegen. Es handelt sich also stets oder meist
um die gleichzeitige Beobachtung von zeitlich und räumlich zerstreu-
ten, aber in sich zusammenhängenden Tatsachen. Und vollends wenn
typische Formen des volkswirtschaftlichen Lebens beobachtet werden
sollen, wie die Familienwirtschaft, die Unternehmung, die Aktien-
gesellschaft, der Gewerkverein, der Markt, die Börse, so steigert sich
die Schwierigkeit des Selbst- und des Richtigsehens ins Ungemessene.

Und doch -- seit es eine höhere geistige Kultur mit Schulbildung,
Presse und Lektüre gibt, erreichen zahlreiche Geschäftsmänner und Be-
amte durch jahrelange praktische Lebenserfahrung und Übung eine ge-
wisse Fähigkeit, volkswirtschaftliche Erscheinungen im großen und
ganzen richtig zu beobachten. Und daneben hat die Wissenschaft und
der Unterricht in ihr, die regelmäßige Schulung im wissenschaftlichen
Beobachten, in der Beseitigung der wahrscheinlichen Täuschungen und
Fehlerquellen manche Praktiker und viele Theoretiker so weit gebracht,
daß die kritische vorsichtige Beobachtung heute weiter verbreitet ist,
als je früher. Diese Schulung hat es auch dahin gebracht, daß, wo wir
nicht selbst beobachten können, auf die Nachrichten und Beobachtun-
gen anderer angewiesen sind, wir doch mit scharfem Blick das Brauch-

Alle Beobachtung isoliert aus dem Chaos der Erscheinungen einen ein-
zelnen Vorgang, um ihn für sich zu betrachten. Sie beruht stets auf
Abstraktion; sie analysiert einen Teilinhalt. Je kleiner er ist, je iso-
lierter er sich darstellt, desto leichter ist das Geschäft. Die Beobachtung
soll erschöpfend, vollständig, genau sein, alle wahrnehmbaren Bezie-
hungen des Gegenstandes eruieren, eine genaue Größen-, Zeit-, Raum-
bestimmung enthalten; sie will die Gleichheit und Ähnlichkeit, wie
die Verschiedenheit gegenüber den verwandten oder entgegengesetzten
Erscheinungen feststellen. Die relative Einfachheit der elementaren
Naturvorgänge erleichtert auf dem Gebiete der Naturwissenschaften die
Beobachtung sehr; es kommt dazu, daß der Naturforscher es in seiner
Gewalt hat, die Umgebung, die mitwirkenden Ursachen beliebig zu
ändern, d. h. zu experimentieren und so den Gegenstand von allen
Seiten her leichter zu fassen. Nicht bloß ist das bei volkswirtschaft-
lichen Erscheinungen nicht oft und nicht leicht möglich, sondern diese
sind stets — auch in ihrer einfachsten Form — sehr viel kompliziertere
Gegenstände, abhängig von den verschiedensten Ursachen, beeinflußt
durch eine Reihe mitwirkender Bedingungen8. Nehmen wir eine Stei-
gerung des Getreidepreises, des Lohnes, eine Kursveränderung oder
gar eine Handelskrisis, einen Fortschritt der Arbeitsteilung; fast jeder
solche Vorgang besteht aus Gefühlen, Motiven und Handlungen ge-
wisser Gruppen von Menschen, dann aus Massentatsachen der Natur
(z. B. einer Ernte) oder des technischen Lebens (z. B. der Maschinen-
einführung), er ist beeinflußt von Sitten und Einrichtungen, deren
Ursachen weit auseinander liegen. Es handelt sich also stets oder meist
um die gleichzeitige Beobachtung von zeitlich und räumlich zerstreu-
ten, aber in sich zusammenhängenden Tatsachen. Und vollends wenn
typische Formen des volkswirtschaftlichen Lebens beobachtet werden
sollen, wie die Familienwirtschaft, die Unternehmung, die Aktien-
gesellschaft, der Gewerkverein, der Markt, die Börse, so steigert sich
die Schwierigkeit des Selbst- und des Richtigsehens ins Ungemessene.

Und doch — seit es eine höhere geistige Kultur mit Schulbildung,
Presse und Lektüre gibt, erreichen zahlreiche Geschäftsmänner und Be-
amte durch jahrelange praktische Lebenserfahrung und Übung eine ge-
wisse Fähigkeit, volkswirtschaftliche Erscheinungen im großen und
ganzen richtig zu beobachten. Und daneben hat die Wissenschaft und
der Unterricht in ihr, die regelmäßige Schulung im wissenschaftlichen
Beobachten, in der Beseitigung der wahrscheinlichen Täuschungen und
Fehlerquellen manche Praktiker und viele Theoretiker so weit gebracht,
daß die kritische vorsichtige Beobachtung heute weiter verbreitet ist,
als je früher. Diese Schulung hat es auch dahin gebracht, daß, wo wir
nicht selbst beobachten können, auf die Nachrichten und Beobachtun-
gen anderer angewiesen sind, wir doch mit scharfem Blick das Brauch-

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[31/0035] Alle Beobachtung isoliert aus dem Chaos der Erscheinungen einen ein- zelnen Vorgang, um ihn für sich zu betrachten. Sie beruht stets auf Abstraktion; sie analysiert einen Teilinhalt. Je kleiner er ist, je iso- lierter er sich darstellt, desto leichter ist das Geschäft. Die Beobachtung soll erschöpfend, vollständig, genau sein, alle wahrnehmbaren Bezie- hungen des Gegenstandes eruieren, eine genaue Größen-, Zeit-, Raum- bestimmung enthalten; sie will die Gleichheit und Ähnlichkeit, wie die Verschiedenheit gegenüber den verwandten oder entgegengesetzten Erscheinungen feststellen. Die relative Einfachheit der elementaren Naturvorgänge erleichtert auf dem Gebiete der Naturwissenschaften die Beobachtung sehr; es kommt dazu, daß der Naturforscher es in seiner Gewalt hat, die Umgebung, die mitwirkenden Ursachen beliebig zu ändern, d. h. zu experimentieren und so den Gegenstand von allen Seiten her leichter zu fassen. Nicht bloß ist das bei volkswirtschaft- lichen Erscheinungen nicht oft und nicht leicht möglich, sondern diese sind stets — auch in ihrer einfachsten Form — sehr viel kompliziertere Gegenstände, abhängig von den verschiedensten Ursachen, beeinflußt durch eine Reihe mitwirkender Bedingungen8. Nehmen wir eine Stei- gerung des Getreidepreises, des Lohnes, eine Kursveränderung oder gar eine Handelskrisis, einen Fortschritt der Arbeitsteilung; fast jeder solche Vorgang besteht aus Gefühlen, Motiven und Handlungen ge- wisser Gruppen von Menschen, dann aus Massentatsachen der Natur (z. B. einer Ernte) oder des technischen Lebens (z. B. der Maschinen- einführung), er ist beeinflußt von Sitten und Einrichtungen, deren Ursachen weit auseinander liegen. Es handelt sich also stets oder meist um die gleichzeitige Beobachtung von zeitlich und räumlich zerstreu- ten, aber in sich zusammenhängenden Tatsachen. Und vollends wenn typische Formen des volkswirtschaftlichen Lebens beobachtet werden sollen, wie die Familienwirtschaft, die Unternehmung, die Aktien- gesellschaft, der Gewerkverein, der Markt, die Börse, so steigert sich die Schwierigkeit des Selbst- und des Richtigsehens ins Ungemessene. Und doch — seit es eine höhere geistige Kultur mit Schulbildung, Presse und Lektüre gibt, erreichen zahlreiche Geschäftsmänner und Be- amte durch jahrelange praktische Lebenserfahrung und Übung eine ge- wisse Fähigkeit, volkswirtschaftliche Erscheinungen im großen und ganzen richtig zu beobachten. Und daneben hat die Wissenschaft und der Unterricht in ihr, die regelmäßige Schulung im wissenschaftlichen Beobachten, in der Beseitigung der wahrscheinlichen Täuschungen und Fehlerquellen manche Praktiker und viele Theoretiker so weit gebracht, daß die kritische vorsichtige Beobachtung heute weiter verbreitet ist, als je früher. Diese Schulung hat es auch dahin gebracht, daß, wo wir nicht selbst beobachten können, auf die Nachrichten und Beobachtun- gen anderer angewiesen sind, wir doch mit scharfem Blick das Brauch-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/35>, abgerufen am 18.04.2024.