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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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die physischen und organischen einerseits und die psychischen anderer-
seits als zwei selbständige Gruppen gegenüber. Man mag über den Zu-
sammenhang des physischen und psychischen Lebens heute denken wie
man will, man mag noch so sehr betonen, daß unser geistiges Leben
vom Nervensysteme bedingt sei, man mag mit Recht alle unsere Ge-
fühle sich vorstellen als geknüpft an physiologische Vorgänge, so viel
ist sicher, daß wir aus Nervenzuständen die Koexistenz und Folge gei-
stiger Zustände nicht erklären können, daß der letzte erkennbare Zu-
stand materieller Elemente und die ersten Akkorde des Seelenlebens
sich bis jetzt und wahrscheinlich in aller Zukunft als selbständige Er-
scheinungen gegenüberstehen. Und daher sind jene Erklärungsversuche,
die aus bloßen physischen oder biologischen Elementen das Handeln
der Menschen direkt und allein ableiten wollen, sämtlich als verfehlt
oder unzulänglich zu erklären; nicht in gleichem Maße auch jene, die
z. B. aus dem Klima eine bestimmte Lebensweise, aus dieser einen
bestimmten körperlichen und geistigen Habitus, und aus diesem das
Vorwiegen bestimmter Gefühle, Überlegungen und Handlungsweisen
ableiten. Nur das muß bei allem Hinüber- und Herüberwirken natür-
licher und geistiger Ursachen auf einander festgehalten werden, daß
wir es mit zwei selbständigen Systemen der Verursachung zu tun ha-
ben, deren jedes, seinen eigenen Gesetzen folgend, selbständiger
Untersuchung der Zusammenhänge bedarf und fähig ist11.

Die Volkswirtschaft hat in Klima und Boden, in Reichtum und Ar-
mut an Mineralien, in der Lage des Landes, in Flüssen und Gebirgen,
in Flora und Fauna des Landes ein natürliches Ursachensystem unter
den Füßen; alles Tier- und Menschenleben ist bedingt durch die or-
ganischen Ursachen, ohne deren Heranziehung die einfachsten Vor-
kommnisse des Bevölkerungslebens unverständlich wären. Fast alle
wirtschaftliche Tätigkeit bezieht sich auf äußere Güter; alle Kapital-
bildung, alle Zunahme des Wohlstandes zeigt sich in Häusern, Fa-
briken und Maschinen, in Vieh und Werkzeugen, in Geld und Münze,
kurz in Objekten, welche den Naturgesetzen gehorchen, welche meist
in beschränkter Quantität vorhanden, zähl- und meßbar sind, durch
ihre Größenverhältnisse und ihre technisch physikalischen Eigen-
schaften bestimmte Wirkungen üben. Der jeweilige Stand der Tech-
nik, von geistigen Fortschritten abhängig, beherrscht doch mit äußer-
lichen Ergebnissen, mit Veranstaltungen natürlicher Art alles Wirt-
schaftsleben. Mag man in bezug auf alle diese Dinge sagen, die Volks-
wirtschaftslehre habe mehr die Ergebnisse der reinen und der an-
gewandten Naturwissenschaften anzuerkennen und zu verwerten; aber
jedenfalls muß sie diese Ursachen auch studieren, sie muß häufig die-
ses oder jenes aus diesen Gebieten auch selbständig untersuchen, schon
um überall die Grenzen der wirtschaftlichen Entwickelung zu ermes-

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die physischen und organischen einerseits und die psychischen anderer-
seits als zwei selbständige Gruppen gegenüber. Man mag über den Zu-
sammenhang des physischen und psychischen Lebens heute denken wie
man will, man mag noch so sehr betonen, daß unser geistiges Leben
vom Nervensysteme bedingt sei, man mag mit Recht alle unsere Ge-
fühle sich vorstellen als geknüpft an physiologische Vorgänge, so viel
ist sicher, daß wir aus Nervenzuständen die Koexistenz und Folge gei-
stiger Zustände nicht erklären können, daß der letzte erkennbare Zu-
stand materieller Elemente und die ersten Akkorde des Seelenlebens
sich bis jetzt und wahrscheinlich in aller Zukunft als selbständige Er-
scheinungen gegenüberstehen. Und daher sind jene Erklärungsversuche,
die aus bloßen physischen oder biologischen Elementen das Handeln
der Menschen direkt und allein ableiten wollen, sämtlich als verfehlt
oder unzulänglich zu erklären; nicht in gleichem Maße auch jene, die
z. B. aus dem Klima eine bestimmte Lebensweise, aus dieser einen
bestimmten körperlichen und geistigen Habitus, und aus diesem das
Vorwiegen bestimmter Gefühle, Überlegungen und Handlungsweisen
ableiten. Nur das muß bei allem Hinüber- und Herüberwirken natür-
licher und geistiger Ursachen auf einander festgehalten werden, daß
wir es mit zwei selbständigen Systemen der Verursachung zu tun ha-
ben, deren jedes, seinen eigenen Gesetzen folgend, selbständiger
Untersuchung der Zusammenhänge bedarf und fähig ist11.

Die Volkswirtschaft hat in Klima und Boden, in Reichtum und Ar-
mut an Mineralien, in der Lage des Landes, in Flüssen und Gebirgen,
in Flora und Fauna des Landes ein natürliches Ursachensystem unter
den Füßen; alles Tier- und Menschenleben ist bedingt durch die or-
ganischen Ursachen, ohne deren Heranziehung die einfachsten Vor-
kommnisse des Bevölkerungslebens unverständlich wären. Fast alle
wirtschaftliche Tätigkeit bezieht sich auf äußere Güter; alle Kapital-
bildung, alle Zunahme des Wohlstandes zeigt sich in Häusern, Fa-
briken und Maschinen, in Vieh und Werkzeugen, in Geld und Münze,
kurz in Objekten, welche den Naturgesetzen gehorchen, welche meist
in beschränkter Quantität vorhanden, zähl- und meßbar sind, durch
ihre Größenverhältnisse und ihre technisch physikalischen Eigen-
schaften bestimmte Wirkungen üben. Der jeweilige Stand der Tech-
nik, von geistigen Fortschritten abhängig, beherrscht doch mit äußer-
lichen Ergebnissen, mit Veranstaltungen natürlicher Art alles Wirt-
schaftsleben. Mag man in bezug auf alle diese Dinge sagen, die Volks-
wirtschaftslehre habe mehr die Ergebnisse der reinen und der an-
gewandten Naturwissenschaften anzuerkennen und zu verwerten; aber
jedenfalls muß sie diese Ursachen auch studieren, sie muß häufig die-
ses oder jenes aus diesen Gebieten auch selbständig untersuchen, schon
um überall die Grenzen der wirtschaftlichen Entwickelung zu ermes-

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[51/0055] die physischen und organischen einerseits und die psychischen anderer- seits als zwei selbständige Gruppen gegenüber. Man mag über den Zu- sammenhang des physischen und psychischen Lebens heute denken wie man will, man mag noch so sehr betonen, daß unser geistiges Leben vom Nervensysteme bedingt sei, man mag mit Recht alle unsere Ge- fühle sich vorstellen als geknüpft an physiologische Vorgänge, so viel ist sicher, daß wir aus Nervenzuständen die Koexistenz und Folge gei- stiger Zustände nicht erklären können, daß der letzte erkennbare Zu- stand materieller Elemente und die ersten Akkorde des Seelenlebens sich bis jetzt und wahrscheinlich in aller Zukunft als selbständige Er- scheinungen gegenüberstehen. Und daher sind jene Erklärungsversuche, die aus bloßen physischen oder biologischen Elementen das Handeln der Menschen direkt und allein ableiten wollen, sämtlich als verfehlt oder unzulänglich zu erklären; nicht in gleichem Maße auch jene, die z. B. aus dem Klima eine bestimmte Lebensweise, aus dieser einen bestimmten körperlichen und geistigen Habitus, und aus diesem das Vorwiegen bestimmter Gefühle, Überlegungen und Handlungsweisen ableiten. Nur das muß bei allem Hinüber- und Herüberwirken natür- licher und geistiger Ursachen auf einander festgehalten werden, daß wir es mit zwei selbständigen Systemen der Verursachung zu tun ha- ben, deren jedes, seinen eigenen Gesetzen folgend, selbständiger Untersuchung der Zusammenhänge bedarf und fähig ist11. Die Volkswirtschaft hat in Klima und Boden, in Reichtum und Ar- mut an Mineralien, in der Lage des Landes, in Flüssen und Gebirgen, in Flora und Fauna des Landes ein natürliches Ursachensystem unter den Füßen; alles Tier- und Menschenleben ist bedingt durch die or- ganischen Ursachen, ohne deren Heranziehung die einfachsten Vor- kommnisse des Bevölkerungslebens unverständlich wären. Fast alle wirtschaftliche Tätigkeit bezieht sich auf äußere Güter; alle Kapital- bildung, alle Zunahme des Wohlstandes zeigt sich in Häusern, Fa- briken und Maschinen, in Vieh und Werkzeugen, in Geld und Münze, kurz in Objekten, welche den Naturgesetzen gehorchen, welche meist in beschränkter Quantität vorhanden, zähl- und meßbar sind, durch ihre Größenverhältnisse und ihre technisch physikalischen Eigen- schaften bestimmte Wirkungen üben. Der jeweilige Stand der Tech- nik, von geistigen Fortschritten abhängig, beherrscht doch mit äußer- lichen Ergebnissen, mit Veranstaltungen natürlicher Art alles Wirt- schaftsleben. Mag man in bezug auf alle diese Dinge sagen, die Volks- wirtschaftslehre habe mehr die Ergebnisse der reinen und der an- gewandten Naturwissenschaften anzuerkennen und zu verwerten; aber jedenfalls muß sie diese Ursachen auch studieren, sie muß häufig die- ses oder jenes aus diesen Gebieten auch selbständig untersuchen, schon um überall die Grenzen der wirtschaftlichen Entwickelung zu ermes- 4*

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/55>, abgerufen am 18.04.2024.