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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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italienische Handelspolitik und manche ähnliche neuere Arbeiten zei-
gen, daß auf das einzelne richtig eingehende Arbeiten uns ziemlich
sicher lehren, wo Schutzzölle wohlstandhebend wirken. Natürlich bleibt
es daneben wahr, daß die Induktion schwieriger wird, je komplizierter
der Gegenstand ist, daß der Mangel an Experimenten ein Nachteil ist.
Aber mit Recht hat Keynes neuerdings darauf hingewiesen, daß auch
im Wirtschaftsleben teils direkt durch Verwaltung und Regierung ex-
perimentiert wird, teils indirekt durch verschiedene Ereignisse inner-
halb sonst gleicher Zustände etwas dem Experiment Ähnliches zu be-
schaffen ist. Außerdem aber verkennt Mill, wo er die Möglichkeit der
Induktion leugnet, daß die möglichst spezialisierte Beobachtung einer
immer größeren Zahl von Fällen und die Vergleichung derselben oder
ähnlicher Erscheinungen immer einen Ersatz des Experimentes bildet,
nur viel langsamer und umständlicher zum Ziele führt. Und an ande-
rer Stelle gibt er dies auch wieder zu. Er betont mit Nachdruck, daß
seine deduktive Methode auf einer vorausgehenden Induktion beruhe
und nachher der verifizierenden Induktion bedürfe. Wenn er auseinan-
der setzt, daß in den Gesellschaftswissenschaften annähernde Genera-
lisationen (z. B. "die meisten Menschen eines Landes, einer Klasse,
eines Alters haben die oder jene Eigenschaften") ausreichen, so sind
solche nach ihm selbst "durch hinreichende Induktionen" gewonnen.
Bei der Erörterung der sog. umgekehrt deduktiven oder historischen
Methode, die er von Comte übernimmt, die nichts wesentlich anderes
ist als Induktion, gibt er zu, daß man die Gesamtzustände eines Vol-
kes beobachten und schildern und daraus Regeln über Koexistenz und
Folge ableiten könne, deren letzte Erklärung man dann allerdings wie-
der psychologisch versuchen müsse. Seine Lehren von der falschen In-
duktion, von der falschen Analogie und Ähnliches sind beherzigens-
werte Anweisungen, wie man die Induktion nicht brauchen dürfe, aber
sie beweisen nicht, daß die übertreibenden Zitate aus seinen Jugend-
schriften, welche er in bezug auf die ausschließliche Berechtigung
der Deduktion für die Nationalökonomie in der Logik stehen ließ,
noch berechtigt waren.

Eine Hauptstütze endlich seiner Vorliebe für Deduktion, der Satz,
daß alle psychischen Phänomene auch in ihrer Massenwirkung aus der
individuellen Psychologie abzuleiten seien, ist nur zum Teil wahr. Ge-
wiß ist das Individuum stets der Ausgangspunkt der psychologischen
Untersuchung. Aber das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der
psychischen Strebungen gleicher und verschiedener Menschen ist eine
Sache für sich, die sich nicht durch Addieren und Subtrahieren der
Kräfte abmachen läßt. Mit Recht sagt Rümelin: "Der Gesamteffekt
vieler Individualkräfte ist nicht wie in der Mechanik eine Summe oder
ein Produkt." Jeder weiß, wie die psychischen Kräfte durch das Be-

italienische Handelspolitik und manche ähnliche neuere Arbeiten zei-
gen, daß auf das einzelne richtig eingehende Arbeiten uns ziemlich
sicher lehren, wo Schutzzölle wohlstandhebend wirken. Natürlich bleibt
es daneben wahr, daß die Induktion schwieriger wird, je komplizierter
der Gegenstand ist, daß der Mangel an Experimenten ein Nachteil ist.
Aber mit Recht hat Keynes neuerdings darauf hingewiesen, daß auch
im Wirtschaftsleben teils direkt durch Verwaltung und Regierung ex-
perimentiert wird, teils indirekt durch verschiedene Ereignisse inner-
halb sonst gleicher Zustände etwas dem Experiment Ähnliches zu be-
schaffen ist. Außerdem aber verkennt Mill, wo er die Möglichkeit der
Induktion leugnet, daß die möglichst spezialisierte Beobachtung einer
immer größeren Zahl von Fällen und die Vergleichung derselben oder
ähnlicher Erscheinungen immer einen Ersatz des Experimentes bildet,
nur viel langsamer und umständlicher zum Ziele führt. Und an ande-
rer Stelle gibt er dies auch wieder zu. Er betont mit Nachdruck, daß
seine deduktive Methode auf einer vorausgehenden Induktion beruhe
und nachher der verifizierenden Induktion bedürfe. Wenn er auseinan-
der setzt, daß in den Gesellschaftswissenschaften annähernde Genera-
lisationen (z. B. „die meisten Menschen eines Landes, einer Klasse,
eines Alters haben die oder jene Eigenschaften“) ausreichen, so sind
solche nach ihm selbst „durch hinreichende Induktionen“ gewonnen.
Bei der Erörterung der sog. umgekehrt deduktiven oder historischen
Methode, die er von Comte übernimmt, die nichts wesentlich anderes
ist als Induktion, gibt er zu, daß man die Gesamtzustände eines Vol-
kes beobachten und schildern und daraus Regeln über Koexistenz und
Folge ableiten könne, deren letzte Erklärung man dann allerdings wie-
der psychologisch versuchen müsse. Seine Lehren von der falschen In-
duktion, von der falschen Analogie und Ähnliches sind beherzigens-
werte Anweisungen, wie man die Induktion nicht brauchen dürfe, aber
sie beweisen nicht, daß die übertreibenden Zitate aus seinen Jugend-
schriften, welche er in bezug auf die ausschließliche Berechtigung
der Deduktion für die Nationalökonomie in der Logik stehen ließ,
noch berechtigt waren.

Eine Hauptstütze endlich seiner Vorliebe für Deduktion, der Satz,
daß alle psychischen Phänomene auch in ihrer Massenwirkung aus der
individuellen Psychologie abzuleiten seien, ist nur zum Teil wahr. Ge-
wiß ist das Individuum stets der Ausgangspunkt der psychologischen
Untersuchung. Aber das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der
psychischen Strebungen gleicher und verschiedener Menschen ist eine
Sache für sich, die sich nicht durch Addieren und Subtrahieren der
Kräfte abmachen läßt. Mit Recht sagt Rümelin: „Der Gesamteffekt
vieler Individualkräfte ist nicht wie in der Mechanik eine Summe oder
ein Produkt.“ Jeder weiß, wie die psychischen Kräfte durch das Be-

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[64/0068] italienische Handelspolitik und manche ähnliche neuere Arbeiten zei- gen, daß auf das einzelne richtig eingehende Arbeiten uns ziemlich sicher lehren, wo Schutzzölle wohlstandhebend wirken. Natürlich bleibt es daneben wahr, daß die Induktion schwieriger wird, je komplizierter der Gegenstand ist, daß der Mangel an Experimenten ein Nachteil ist. Aber mit Recht hat Keynes neuerdings darauf hingewiesen, daß auch im Wirtschaftsleben teils direkt durch Verwaltung und Regierung ex- perimentiert wird, teils indirekt durch verschiedene Ereignisse inner- halb sonst gleicher Zustände etwas dem Experiment Ähnliches zu be- schaffen ist. Außerdem aber verkennt Mill, wo er die Möglichkeit der Induktion leugnet, daß die möglichst spezialisierte Beobachtung einer immer größeren Zahl von Fällen und die Vergleichung derselben oder ähnlicher Erscheinungen immer einen Ersatz des Experimentes bildet, nur viel langsamer und umständlicher zum Ziele führt. Und an ande- rer Stelle gibt er dies auch wieder zu. Er betont mit Nachdruck, daß seine deduktive Methode auf einer vorausgehenden Induktion beruhe und nachher der verifizierenden Induktion bedürfe. Wenn er auseinan- der setzt, daß in den Gesellschaftswissenschaften annähernde Genera- lisationen (z. B. „die meisten Menschen eines Landes, einer Klasse, eines Alters haben die oder jene Eigenschaften“) ausreichen, so sind solche nach ihm selbst „durch hinreichende Induktionen“ gewonnen. Bei der Erörterung der sog. umgekehrt deduktiven oder historischen Methode, die er von Comte übernimmt, die nichts wesentlich anderes ist als Induktion, gibt er zu, daß man die Gesamtzustände eines Vol- kes beobachten und schildern und daraus Regeln über Koexistenz und Folge ableiten könne, deren letzte Erklärung man dann allerdings wie- der psychologisch versuchen müsse. Seine Lehren von der falschen In- duktion, von der falschen Analogie und Ähnliches sind beherzigens- werte Anweisungen, wie man die Induktion nicht brauchen dürfe, aber sie beweisen nicht, daß die übertreibenden Zitate aus seinen Jugend- schriften, welche er in bezug auf die ausschließliche Berechtigung der Deduktion für die Nationalökonomie in der Logik stehen ließ, noch berechtigt waren. Eine Hauptstütze endlich seiner Vorliebe für Deduktion, der Satz, daß alle psychischen Phänomene auch in ihrer Massenwirkung aus der individuellen Psychologie abzuleiten seien, ist nur zum Teil wahr. Ge- wiß ist das Individuum stets der Ausgangspunkt der psychologischen Untersuchung. Aber das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der psychischen Strebungen gleicher und verschiedener Menschen ist eine Sache für sich, die sich nicht durch Addieren und Subtrahieren der Kräfte abmachen läßt. Mit Recht sagt Rümelin: „Der Gesamteffekt vieler Individualkräfte ist nicht wie in der Mechanik eine Summe oder ein Produkt.“ Jeder weiß, wie die psychischen Kräfte durch das Be-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/68>, abgerufen am 24.04.2024.