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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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2.--7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT ANDEREN KINDERN.
nen, ohne dass seine körperliche und geistige Entwickelung
durch jene naturwidrige Verfrühung des Schulunterrichtes un-
tergraben worden ist.

Jeder Menschenfreund kann daher die in neuerer Zeit
allerwärts auftauchenden Spielschulen, Kindergärten und Kin-
derbewahranstalten als einen hochwichtigen Fortschritt nicht
anders als mit dem freudigsten Willkommen begrüssen, vor-
ausgesetzt, dass sie nach richtigen Grundsätzen geleitet wer-
den und besonders ihre Grenzen nicht überschreiten. Denn
ausser vielen anderen Segenswirkungen haben sie auch diese,
dass die Aeltern, welche meistens nicht wissen, was sie mit
den 4.--5. Jahr alt gewordenen Kindern im Hause anfangen
sollen, nicht aus eben dem Grunde verleitet werden, ihre Kin-
der vorzeitig in den Unterricht, der bei noch nicht vorhan-
dener Reife ein Saft und Kraft vernichtendes Lernjoch ist,
hineinzutreiben.

2) Das Kind mit anderen Kindern.

Ist der Umgang mit seines Gleichen dem Menschen im
Allgemeinen die ergiebigste Quelle für seine geistige Nahrung,
das naturgemässeste Mittel für seine geistige Belebung, Läute-
rung, Verjüngung und Veredelung, daher ein wesentliches
Lebensbedürfniss, so gilt dies im höchsten Grade vom Kinde.
Unter seines Gleichen fühlt sich das Kind erst ganz heimisch
und behaglich. Hier ist die für seine natürliche Entfaltung
fruchtbarste Sphäre. Durch diesen Wechselverkehr und Wett-
eifer wird jeder noch so verborgene Funke der geistigen
Individualitäten der Kinder geweckt und entflammt; und ge-
rade in dieser belebenden Wirkung liegt der angenehme Reiz,
welcher dem natürlichen Bedürfnisse des Kindes so ganz ent-
sprechend ist. Erfindungsgabe, Heiterkeit, Witz, Entschlossen-
heit, Muth beziehen aus dieser Quelle ihre Hauptnahrung.
Der diesem Alter ohnedies eigene Nachahmungstrieb ist in
solchen Momenten am lebendigsten. Die Pforten des geistigen
Inneren sind für alle Arten der Einwirkung geöffnet.

Es versteht sich daher von selbst, dass man, soweit als
eben möglich, für den Umgang die gutgeartetsten Kinder

2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT ANDEREN KINDERN.
nen, ohne dass seine körperliche und geistige Entwickelung
durch jene naturwidrige Verfrühung des Schulunterrichtes un-
tergraben worden ist.

Jeder Menschenfreund kann daher die in neuerer Zeit
allerwärts auftauchenden Spielschulen, Kindergärten und Kin-
derbewahranstalten als einen hochwichtigen Fortschritt nicht
anders als mit dem freudigsten Willkommen begrüssen, vor-
ausgesetzt, dass sie nach richtigen Grundsätzen geleitet wer-
den und besonders ihre Grenzen nicht überschreiten. Denn
ausser vielen anderen Segenswirkungen haben sie auch diese,
dass die Aeltern, welche meistens nicht wissen, was sie mit
den 4.—5. Jahr alt gewordenen Kindern im Hause anfangen
sollen, nicht aus eben dem Grunde verleitet werden, ihre Kin-
der vorzeitig in den Unterricht, der bei noch nicht vorhan-
dener Reife ein Saft und Kraft vernichtendes Lernjoch ist,
hineinzutreiben.

2) Das Kind mit anderen Kindern.

Ist der Umgang mit seines Gleichen dem Menschen im
Allgemeinen die ergiebigste Quelle für seine geistige Nahrung,
das naturgemässeste Mittel für seine geistige Belebung, Läute-
rung, Verjüngung und Veredelung, daher ein wesentliches
Lebensbedürfniss, so gilt dies im höchsten Grade vom Kinde.
Unter seines Gleichen fühlt sich das Kind erst ganz heimisch
und behaglich. Hier ist die für seine natürliche Entfaltung
fruchtbarste Sphäre. Durch diesen Wechselverkehr und Wett-
eifer wird jeder noch so verborgene Funke der geistigen
Individualitäten der Kinder geweckt und entflammt; und ge-
rade in dieser belebenden Wirkung liegt der angenehme Reiz,
welcher dem natürlichen Bedürfnisse des Kindes so ganz ent-
sprechend ist. Erfindungsgabe, Heiterkeit, Witz, Entschlossen-
heit, Muth beziehen aus dieser Quelle ihre Hauptnahrung.
Der diesem Alter ohnedies eigene Nachahmungstrieb ist in
solchen Momenten am lebendigsten. Die Pforten des geistigen
Inneren sind für alle Arten der Einwirkung geöffnet.

Es versteht sich daher von selbst, dass man, soweit als
eben möglich, für den Umgang die gutgeartetsten Kinder

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[118/0122] 2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT ANDEREN KINDERN. nen, ohne dass seine körperliche und geistige Entwickelung durch jene naturwidrige Verfrühung des Schulunterrichtes un- tergraben worden ist. Jeder Menschenfreund kann daher die in neuerer Zeit allerwärts auftauchenden Spielschulen, Kindergärten und Kin- derbewahranstalten als einen hochwichtigen Fortschritt nicht anders als mit dem freudigsten Willkommen begrüssen, vor- ausgesetzt, dass sie nach richtigen Grundsätzen geleitet wer- den und besonders ihre Grenzen nicht überschreiten. Denn ausser vielen anderen Segenswirkungen haben sie auch diese, dass die Aeltern, welche meistens nicht wissen, was sie mit den 4.—5. Jahr alt gewordenen Kindern im Hause anfangen sollen, nicht aus eben dem Grunde verleitet werden, ihre Kin- der vorzeitig in den Unterricht, der bei noch nicht vorhan- dener Reife ein Saft und Kraft vernichtendes Lernjoch ist, hineinzutreiben. 2) Das Kind mit anderen Kindern. Ist der Umgang mit seines Gleichen dem Menschen im Allgemeinen die ergiebigste Quelle für seine geistige Nahrung, das naturgemässeste Mittel für seine geistige Belebung, Läute- rung, Verjüngung und Veredelung, daher ein wesentliches Lebensbedürfniss, so gilt dies im höchsten Grade vom Kinde. Unter seines Gleichen fühlt sich das Kind erst ganz heimisch und behaglich. Hier ist die für seine natürliche Entfaltung fruchtbarste Sphäre. Durch diesen Wechselverkehr und Wett- eifer wird jeder noch so verborgene Funke der geistigen Individualitäten der Kinder geweckt und entflammt; und ge- rade in dieser belebenden Wirkung liegt der angenehme Reiz, welcher dem natürlichen Bedürfnisse des Kindes so ganz ent- sprechend ist. Erfindungsgabe, Heiterkeit, Witz, Entschlossen- heit, Muth beziehen aus dieser Quelle ihre Hauptnahrung. Der diesem Alter ohnedies eigene Nachahmungstrieb ist in solchen Momenten am lebendigsten. Die Pforten des geistigen Inneren sind für alle Arten der Einwirkung geöffnet. Es versteht sich daher von selbst, dass man, soweit als eben möglich, für den Umgang die gutgeartetsten Kinder

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/122>, abgerufen am 19.04.2024.