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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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§ 15. Kritische Vorbemerkungen.
§ 15. Kritische Vorbemerkungen zum nächsten Paragraphen: In-
wiefern negative Urteile als negativ prädizirende anzusehen und
disjunktiv prädizirende Urteile von den disjunktiven zu unter-
scheiden sind.

Wir treten nunmehr an ein Untersuchungsfeld heran, auf welchem
grosse Vorsicht geboten ist, indem wir namhafteste Philosophen aller Zeiten
-- ich nenne zunächst nur Aristoteles und Kant -- hier weit ausein-
andergehen sehen und auch ganz neuerdings von autoritativen Seiten unhalt-
bare Theorieen aufgestellt zu finden meinen, die ihre Urheber, wofern diese
nur konsequent dabei zuwerke gingen, in die grössten Widersprüche mit
sich selbst verwickeln müssten.

Schon um die hiernach entgegenstehenden Hindernisse hinwegzuräumen
sehe ich mich veranlasst, der Fortsetzung des systematischen Teils unsrer
Disziplin einige Betrachtungen von kritisch-polemischer Natur voranzu-
schicken.

Bei diesen Vorbetrachtungen will ich mich des Rechnens noch ent-
halten, die Überlegungen vielmehr gemeinverständlich blos in Worten führen.
Der Kalkul wird schliesslich die Ergebnisse dieser Überlegungen bestätigen
und alles in noch hellerem Lichte erscheinen lassen.

Der Gründe für die Schwierigkeiten einer Theorie der Negation
und die durch sie bedingte Uneinigkeit unter den Fachgelehrten sind
mehrere, und werde hier auf die hauptsächlichsten im voraus hin-
gewiesen, obwol sie sich erst nach Bewältigung des Aussagenkalkuls
völlig überblicken und dann auch alle Schwierigkeiten sich als über-
wunden erkennen lassen werden.

Ein Hauptgrund dürfte zu erblicken sein in gewissen Unbestimmt-
heiten der Wortsprache, welche oft schon in ihren einfachsten und
fundamentalsten Satzbildungen die wünschenswerte Präzision vermissen
lässt, indem sie -- als eine notwendiger Zeichen, wie namentlich des
Instituts der Klammern, entbehrende -- verschiedene Auffassungen
dieser Satzbildungen zuzulassen scheint und insbesondere eine Ver-
mengung von Deutungen des Klassenkalkuls mit solchen des Aussagen-
kalkuls nicht selten nahe legt.

Die in Titel des § 16 genannten Sätze der Logik gehören wesent-
lich dem Aussagenkalkul an, wurzeln ganz in diesem und können in
ihrer ursprünglichen Bedeutung erst dort völlig erledigt werden
(Vergl. § 31).

Es kann sich im Klassenkalkul nur um Analoga von ebendiesen
Sätzen handeln, denen wir aber, weil sie gleichlautenden Ausdrucks
in der Formelsprache teilhaftig sind und später durch einen blossen
Wechsel der Interpretation, durch eine einfache Umdeutung aus ihnen

§ 15. Kritische Vorbemerkungen.
§ 15. Kritische Vorbemerkungen zum nächsten Paragraphen: In-
wiefern negative Urteile als negativ prädizirende anzusehen und
disjunktiv prädizirende Urteile von den disjunktiven zu unter-
scheiden sind.

Wir treten nunmehr an ein Untersuchungsfeld heran, auf welchem
grosse Vorsicht geboten ist, indem wir namhafteste Philosophen aller Zeiten
— ich nenne zunächst nur Aristoteles und Kant — hier weit ausein-
andergehen sehen und auch ganz neuerdings von autoritativen Seiten unhalt-
bare Theorieen aufgestellt zu finden meinen, die ihre Urheber, wofern diese
nur konsequent dabei zuwerke gingen, in die grössten Widersprüche mit
sich selbst verwickeln müssten.

Schon um die hiernach entgegenstehenden Hindernisse hinwegzuräumen
sehe ich mich veranlasst, der Fortsetzung des systematischen Teils unsrer
Disziplin einige Betrachtungen von kritisch-polemischer Natur voranzu-
schicken.

Bei diesen Vorbetrachtungen will ich mich des Rechnens noch ent-
halten, die Überlegungen vielmehr gemeinverständlich blos in Worten führen.
Der Kalkul wird schliesslich die Ergebnisse dieser Überlegungen bestätigen
und alles in noch hellerem Lichte erscheinen lassen.

Der Gründe für die Schwierigkeiten einer Theorie der Negation
und die durch sie bedingte Uneinigkeit unter den Fachgelehrten sind
mehrere, und werde hier auf die hauptsächlichsten im voraus hin-
gewiesen, obwol sie sich erst nach Bewältigung des Aussagenkalkuls
völlig überblicken und dann auch alle Schwierigkeiten sich als über-
wunden erkennen lassen werden.

Ein Hauptgrund dürfte zu erblicken sein in gewissen Unbestimmt-
heiten der Wortsprache, welche oft schon in ihren einfachsten und
fundamentalsten Satzbildungen die wünschenswerte Präzision vermissen
lässt, indem sie — als eine notwendiger Zeichen, wie namentlich des
Instituts der Klammern, entbehrende — verschiedene Auffassungen
dieser Satzbildungen zuzulassen scheint und insbesondere eine Ver-
mengung von Deutungen des Klassenkalkuls mit solchen des Aussagen-
kalkuls nicht selten nahe legt.

Die in Titel des § 16 genannten Sätze der Logik gehören wesent-
lich dem Aussagenkalkul an, wurzeln ganz in diesem und können in
ihrer ursprünglichen Bedeutung erst dort völlig erledigt werden
(Vergl. § 31).

Es kann sich im Klassenkalkul nur um Analoga von ebendiesen
Sätzen handeln, denen wir aber, weil sie gleichlautenden Ausdrucks
in der Formelsprache teilhaftig sind und später durch einen blossen
Wechsel der Interpretation, durch eine einfache Umdeutung aus ihnen

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[319/0339] § 15. Kritische Vorbemerkungen. § 15. Kritische Vorbemerkungen zum nächsten Paragraphen: In- wiefern negative Urteile als negativ prädizirende anzusehen und disjunktiv prädizirende Urteile von den disjunktiven zu unter- scheiden sind. Wir treten nunmehr an ein Untersuchungsfeld heran, auf welchem grosse Vorsicht geboten ist, indem wir namhafteste Philosophen aller Zeiten — ich nenne zunächst nur Aristoteles und Kant — hier weit ausein- andergehen sehen und auch ganz neuerdings von autoritativen Seiten unhalt- bare Theorieen aufgestellt zu finden meinen, die ihre Urheber, wofern diese nur konsequent dabei zuwerke gingen, in die grössten Widersprüche mit sich selbst verwickeln müssten. Schon um die hiernach entgegenstehenden Hindernisse hinwegzuräumen sehe ich mich veranlasst, der Fortsetzung des systematischen Teils unsrer Disziplin einige Betrachtungen von kritisch-polemischer Natur voranzu- schicken. Bei diesen Vorbetrachtungen will ich mich des Rechnens noch ent- halten, die Überlegungen vielmehr gemeinverständlich blos in Worten führen. Der Kalkul wird schliesslich die Ergebnisse dieser Überlegungen bestätigen und alles in noch hellerem Lichte erscheinen lassen. Der Gründe für die Schwierigkeiten einer Theorie der Negation und die durch sie bedingte Uneinigkeit unter den Fachgelehrten sind mehrere, und werde hier auf die hauptsächlichsten im voraus hin- gewiesen, obwol sie sich erst nach Bewältigung des Aussagenkalkuls völlig überblicken und dann auch alle Schwierigkeiten sich als über- wunden erkennen lassen werden. Ein Hauptgrund dürfte zu erblicken sein in gewissen Unbestimmt- heiten der Wortsprache, welche oft schon in ihren einfachsten und fundamentalsten Satzbildungen die wünschenswerte Präzision vermissen lässt, indem sie — als eine notwendiger Zeichen, wie namentlich des Instituts der Klammern, entbehrende — verschiedene Auffassungen dieser Satzbildungen zuzulassen scheint und insbesondere eine Ver- mengung von Deutungen des Klassenkalkuls mit solchen des Aussagen- kalkuls nicht selten nahe legt. Die in Titel des § 16 genannten Sätze der Logik gehören wesent- lich dem Aussagenkalkul an, wurzeln ganz in diesem und können in ihrer ursprünglichen Bedeutung erst dort völlig erledigt werden (Vergl. § 31). Es kann sich im Klassenkalkul nur um Analoga von ebendiesen Sätzen handeln, denen wir aber, weil sie gleichlautenden Ausdrucks in der Formelsprache teilhaftig sind und später durch einen blossen Wechsel der Interpretation, durch eine einfache Umdeutung aus ihnen

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/339>, abgerufen am 28.03.2024.