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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
letztere in dem erkannten Unvermögen wurzelt, das Gewollte sofort,
durch blosse geistige Thätigkeit des Ich in allen Fällen zu verwirklichen.

Das Wesen des Willens bildet ein vielbehandeltes und gleichwol noch
nicht ergründetes Thema. Es ist eine Frage, welche die Philosophen zur
Zeit noch in zwei grosse Lager spaltet: ob der menschliche Wille wirklich
frei
sei (und was ist Freiheit?), oder ob -- mit Spinoza -- die mensch-
liche Freiheit, deren Alle sich rühmen, lediglich darin besteht, "dass die
Menschen sich ihres Wollens bewusst und der Ursachen, von denen sie
bestimmt werden, unbewusst sind"; dergestalt, dass die Gedanken und
Handlungen des Menschen lediglich eine Funktion sind ("Funktion" im
mathematischen Sinne) der Zustände, aus denen der Mensch hervorgegangen,
der inneren und äusseren Umstände, unter deren Herrschaft er gerade
steht -- eine Weltanschauung, nach welcher z. B. ein Mensch, der, wie er
meint, freiwillig den Arm aufhebt, vergleichbar wäre einer (nur allerdings
mit Bewusstsein begabten!) Marionette, die, während ihr mit naturgesetz-
licher Notwendigkeit der Arm durch einen Draht emporgezogen wird, blos
in dem Wahne stünde, denselben selbst zu heben.*)

Die Frage ist von tiefgreifendster Bedeutung namentlich für die
Rechtspflege und für die Beurteilung jenes schlimmsten aller Übel --
der Schuld.

Unleugbar zeigen nun die Fortschritte der Naturforschung, besonders
auf dem Gebiete der Physiologie und Psychiatrik, unterstützt auch durch
die Statistik der menschlichen Gesellschaft, eine stetig steigende Tendenz,
das Gebiet der möglicherweise noch für frei zu haltenden, nämlich einer
nachweisbar zwingenden Bestimmung entbehrenden Lebensäusserungen des
Menschen einzuengen; und es mögen darum Naturforscher und Irrenärzte
mehr zu der letzterwähnten Ansicht neigen. Ich stehe meinerseits nicht
an, mich zu derselben zu bekennen, und zwar meine ich, dass schon ein
Jeder zu demselben Ergebniss kommen muss, wofern wir nur ohne vor-
gefasste Meinung uns selbst darauf besinnen, was denn eigentlich in uns
vorgeht, wenn wir einen Entschluss zu fassen haben? Kommt uns kein
Zweifel an bezüglich dessen, was in einem gegebenen, vorliegenden Falle
zu thun sei, so handeln wir entweder instinktiv nach einem unbewusst und
ohne unser Zuthun von Natur in uns entstehenden Impulse, oder wir
folgen dabei sozusagen mechanisch einer schon von früher überkommenen
(und seinerzeit naturgesetzmässig erworbenen) Gewöhnung. Von freier
Entschliessung wird erst dann zu sprechen sein, wenn mehrere Möglich-
keiten des Handelns sich dem Geiste zur Auswahl darbieten, m. a. W. wenn
wir im Zweifel sind, was thun. Hier dürfte nun die Thatsache nicht in
Abrede zu stellen sein, dass sooft wir so für eine Handlung uns zu ent-
scheiden haben, es wiederum von unserm Willen völlig unabhängig erscheint,
welche Erinnerungen, Vorstellungen und Überlegungen sich uns bis zum

*) Wahrscheinlich ist dieser Vergleich eine Reminiscenz aus einer früheren
Auflage von Herrn Ludwig Büchner's "Kraft und Stoff"; in der mir vorliegenden
16. Auflage -- Leipzig 1888, 512 Seiten -- habe ich denselben jedoch vergeblich
gesucht.

Einleitung.
letztere in dem erkannten Unvermögen wurzelt, das Gewollte sofort,
durch blosse geistige Thätigkeit des Ich in allen Fällen zu verwirklichen.

Das Wesen des Willens bildet ein vielbehandeltes und gleichwol noch
nicht ergründetes Thema. Es ist eine Frage, welche die Philosophen zur
Zeit noch in zwei grosse Lager spaltet: ob der menschliche Wille wirklich
frei
sei (und was ist Freiheit?), oder ob — mit Spinoza — die mensch-
liche Freiheit, deren Alle sich rühmen, lediglich darin besteht, „dass die
Menschen sich ihres Wollens bewusst und der Ursachen, von denen sie
bestimmt werden, unbewusst sind“; dergestalt, dass die Gedanken und
Handlungen des Menschen lediglich eine Funktion sind („Funktion“ im
mathematischen Sinne) der Zustände, aus denen der Mensch hervorgegangen,
der inneren und äusseren Umstände, unter deren Herrschaft er gerade
steht — eine Weltanschauung, nach welcher z. B. ein Mensch, der, wie er
meint, freiwillig den Arm aufhebt, vergleichbar wäre einer (nur allerdings
mit Bewusstsein begabten!) Marionette, die, während ihr mit naturgesetz-
licher Notwendigkeit der Arm durch einen Draht emporgezogen wird, blos
in dem Wahne stünde, denselben selbst zu heben.*)

Die Frage ist von tiefgreifendster Bedeutung namentlich für die
Rechtspflege und für die Beurteilung jenes schlimmsten aller Übel —
der Schuld.

Unleugbar zeigen nun die Fortschritte der Naturforschung, besonders
auf dem Gebiete der Physiologie und Psychiatrik, unterstützt auch durch
die Statistik der menschlichen Gesellschaft, eine stetig steigende Tendenz,
das Gebiet der möglicherweise noch für frei zu haltenden, nämlich einer
nachweisbar zwingenden Bestimmung entbehrenden Lebensäusserungen des
Menschen einzuengen; und es mögen darum Naturforscher und Irrenärzte
mehr zu der letzterwähnten Ansicht neigen. Ich stehe meinerseits nicht
an, mich zu derselben zu bekennen, und zwar meine ich, dass schon ein
Jeder zu demselben Ergebniss kommen muss, wofern wir nur ohne vor-
gefasste Meinung uns selbst darauf besinnen, was denn eigentlich in uns
vorgeht, wenn wir einen Entschluss zu fassen haben? Kommt uns kein
Zweifel an bezüglich dessen, was in einem gegebenen, vorliegenden Falle
zu thun sei, so handeln wir entweder instinktiv nach einem unbewusst und
ohne unser Zuthun von Natur in uns entstehenden Impulse, oder wir
folgen dabei sozusagen mechanisch einer schon von früher überkommenen
(und seinerzeit naturgesetzmässig erworbenen) Gewöhnung. Von freier
Entschliessung wird erst dann zu sprechen sein, wenn mehrere Möglich-
keiten des Handelns sich dem Geiste zur Auswahl darbieten, m. a. W. wenn
wir im Zweifel sind, was thun. Hier dürfte nun die Thatsache nicht in
Abrede zu stellen sein, dass sooft wir so für eine Handlung uns zu ent-
scheiden haben, es wiederum von unserm Willen völlig unabhängig erscheint,
welche Erinnerungen, Vorstellungen und Überlegungen sich uns bis zum

*) Wahrscheinlich ist dieser Vergleich eine Reminiscenz aus einer früheren
Auflage von Herrn Ludwig Büchner's „Kraft und Stoff“; in der mir vorliegenden
16. Auflage — Leipzig 1888, 512 Seiten — habe ich denselben jedoch vergeblich
gesucht.
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[23/0043] Einleitung. letztere in dem erkannten Unvermögen wurzelt, das Gewollte sofort, durch blosse geistige Thätigkeit des Ich in allen Fällen zu verwirklichen. Das Wesen des Willens bildet ein vielbehandeltes und gleichwol noch nicht ergründetes Thema. Es ist eine Frage, welche die Philosophen zur Zeit noch in zwei grosse Lager spaltet: ob der menschliche Wille wirklich frei sei (und was ist Freiheit?), oder ob — mit Spinoza — die mensch- liche Freiheit, deren Alle sich rühmen, lediglich darin besteht, „dass die Menschen sich ihres Wollens bewusst und der Ursachen, von denen sie bestimmt werden, unbewusst sind“; dergestalt, dass die Gedanken und Handlungen des Menschen lediglich eine Funktion sind („Funktion“ im mathematischen Sinne) der Zustände, aus denen der Mensch hervorgegangen, der inneren und äusseren Umstände, unter deren Herrschaft er gerade steht — eine Weltanschauung, nach welcher z. B. ein Mensch, der, wie er meint, freiwillig den Arm aufhebt, vergleichbar wäre einer (nur allerdings mit Bewusstsein begabten!) Marionette, die, während ihr mit naturgesetz- licher Notwendigkeit der Arm durch einen Draht emporgezogen wird, blos in dem Wahne stünde, denselben selbst zu heben. *) Die Frage ist von tiefgreifendster Bedeutung namentlich für die Rechtspflege und für die Beurteilung jenes schlimmsten aller Übel — der Schuld. Unleugbar zeigen nun die Fortschritte der Naturforschung, besonders auf dem Gebiete der Physiologie und Psychiatrik, unterstützt auch durch die Statistik der menschlichen Gesellschaft, eine stetig steigende Tendenz, das Gebiet der möglicherweise noch für frei zu haltenden, nämlich einer nachweisbar zwingenden Bestimmung entbehrenden Lebensäusserungen des Menschen einzuengen; und es mögen darum Naturforscher und Irrenärzte mehr zu der letzterwähnten Ansicht neigen. Ich stehe meinerseits nicht an, mich zu derselben zu bekennen, und zwar meine ich, dass schon ein Jeder zu demselben Ergebniss kommen muss, wofern wir nur ohne vor- gefasste Meinung uns selbst darauf besinnen, was denn eigentlich in uns vorgeht, wenn wir einen Entschluss zu fassen haben? Kommt uns kein Zweifel an bezüglich dessen, was in einem gegebenen, vorliegenden Falle zu thun sei, so handeln wir entweder instinktiv nach einem unbewusst und ohne unser Zuthun von Natur in uns entstehenden Impulse, oder wir folgen dabei sozusagen mechanisch einer schon von früher überkommenen (und seinerzeit naturgesetzmässig erworbenen) Gewöhnung. Von freier Entschliessung wird erst dann zu sprechen sein, wenn mehrere Möglich- keiten des Handelns sich dem Geiste zur Auswahl darbieten, m. a. W. wenn wir im Zweifel sind, was thun. Hier dürfte nun die Thatsache nicht in Abrede zu stellen sein, dass sooft wir so für eine Handlung uns zu ent- scheiden haben, es wiederum von unserm Willen völlig unabhängig erscheint, welche Erinnerungen, Vorstellungen und Überlegungen sich uns bis zum *) Wahrscheinlich ist dieser Vergleich eine Reminiscenz aus einer früheren Auflage von Herrn Ludwig Büchner's „Kraft und Stoff“; in der mir vorliegenden 16. Auflage — Leipzig 1888, 512 Seiten — habe ich denselben jedoch vergeblich gesucht.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/43>, abgerufen am 19.04.2024.