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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
comprendre, c'est tout pardonner" (als Subjekt) enthaltene Voraussetzung
zu verwirklichen suchen und damit eine Erkenntniss zu gewinnen streben,
deren Erwerbung durch jene oben genannten Affekte in der Regel voreilig
verhindert wird. Jene Weltanschauung müsste endlich die Mahnung in
sich schliessen, bei dem Kampfe gegen das Übel in dem Verfahren gegen
Übelthäter nicht über das zum Schutze des Einzelnen und der Gesellschaft
erforderliche Maass hinauszugehen.

Wir brauchen indess zu obiger Frage hier keine Stellung zu nehmen,
und genügt uns die Thatsache, dass unser Wille -- sei er auch von einer
uns unbewussten Notwendigkeit durchaus bestimmt, sei unsre Willensfreiheit
auch nur Illusion -- doch innerhalb unsres Bewusstseins wenigstens als
frei erscheint, nämlich als ein freier unmittelbar empfunden wird. Diese
Thatsache ist nicht nur unbestritten, sondern: dass wir überzeugt sind, frei
zu denken, und auch (innerhalb der Grenzen des uns physisch Möglichen)
frei zu handeln glauben, bildet sogar eine der am tiefsten eingewurzelten
menschlichen Überzeugungen. (l. l. c. c.)

u) Demjenigen nun, was in unserm Bewusstsein als unfrei em-
pfunden wird, sich dem unmittelbaren Einfluss unsres Willens entzieht,
schreiben wir eine ausser uns liegende Ursache zu, und die Gesamtheit
dieser Ursachen, denen wir ein eigenes Dasein, eine selbständige Exi-
stenz -- ähnlich der unsrigen (genauer: derjenigen des Ich's) -- bei-
legen, bildet für uns das Nicht-ich oder die Aussenwelt.

So, was wir sehen, hören, tastend fühlen, etc., gestaltet sich (als
eine unfreiwillige Empfindung) zunächst zur Anschauung von etwas
ausser uns Befindlichem. Der passiv empfangene Sinneseindruck löst
in der Regel, um als Empfindung in's Bewusstsein einzutreten, eine
rezeptive Thätigkeit des Geistes aus, und diese setzt sich noch über die
Empfindung hinaus fort, indem sie Veranlassung wird, dass wir (aktiv)
uns eine Vorstellung bilden von dem Gegenstand, der sie hervorruft.

Namentlich ist bekannt, wie wir so die Eindrücke der Farbenverteilung
und Helligkeitsverhältnisse, die wir aus einem zweidimensionalen Gesichts-
felde empfangen, in den (in einen vorgestellten dreidimensionalen) Raum
hinaus verlegen.

Bei der Bildung der Vorstellungen spielt übrigens die Induktion, ob-
wol meist unbewusst geübt, schon eine grosse Rolle. Sie z. B. ist es, die
uns veranlasst, denselben Tisch, den wir sehend als ausgedehnt resp. raum-
erfüllend wahrnehmen, auch mit Widerstandskräften auszustatten, dergleichen
sich uns beim Anfassen desselben kund geben. Mit Induktionsschlüssen
beteiligt sich der Verstand schon bei der Vorstellungsbildung; er vereinigt
oft die aus verschiedenen Sinnesorganen ihm zuteil gewordenen Botschaften
zur Gesamtanschauung eines Dinges, das sie veranlasste.

Besonders sind es Gesichts-, Tast- und Muskelsinn*), aus deren

*) Bekanntlich sollte man eigentlich von sieben Sinnen sprechen -- zum
wenigsten. Denn nicht nur ist das Funktioniren des Tastsinnes ein zwiefältiges

Einleitung.
comprendre, c'est tout pardonner“ (als Subjekt) enthaltene Voraussetzung
zu verwirklichen suchen und damit eine Erkenntniss zu gewinnen streben,
deren Erwerbung durch jene oben genannten Affekte in der Regel voreilig
verhindert wird. Jene Weltanschauung müsste endlich die Mahnung in
sich schliessen, bei dem Kampfe gegen das Übel in dem Verfahren gegen
Übelthäter nicht über das zum Schutze des Einzelnen und der Gesellschaft
erforderliche Maass hinauszugehen.

Wir brauchen indess zu obiger Frage hier keine Stellung zu nehmen,
und genügt uns die Thatsache, dass unser Wille — sei er auch von einer
uns unbewussten Notwendigkeit durchaus bestimmt, sei unsre Willensfreiheit
auch nur Illusion — doch innerhalb unsres Bewusstseins wenigstens als
frei erscheint, nämlich als ein freier unmittelbar empfunden wird. Diese
Thatsache ist nicht nur unbestritten, sondern: dass wir überzeugt sind, frei
zu denken, und auch (innerhalb der Grenzen des uns physisch Möglichen)
frei zu handeln glauben, bildet sogar eine der am tiefsten eingewurzelten
menschlichen Überzeugungen. (l. l. c. c.)

υ) Demjenigen nun, was in unserm Bewusstsein als unfrei em-
pfunden wird, sich dem unmittelbaren Einfluss unsres Willens entzieht,
schreiben wir eine ausser uns liegende Ursache zu, und die Gesamtheit
dieser Ursachen, denen wir ein eigenes Dasein, eine selbständige Exi-
stenz — ähnlich der unsrigen (genauer: derjenigen des Ich's) — bei-
legen, bildet für uns das Nicht-ich oder die Aussenwelt.

So, was wir sehen, hören, tastend fühlen, etc., gestaltet sich (als
eine unfreiwillige Empfindung) zunächst zur Anschauung von etwas
ausser uns Befindlichem. Der passiv empfangene Sinneseindruck löst
in der Regel, um als Empfindung in's Bewusstsein einzutreten, eine
rezeptive Thätigkeit des Geistes aus, und diese setzt sich noch über die
Empfindung hinaus fort, indem sie Veranlassung wird, dass wir (aktiv)
uns eine Vorstellung bilden von dem Gegenstand, der sie hervorruft.

Namentlich ist bekannt, wie wir so die Eindrücke der Farbenverteilung
und Helligkeitsverhältnisse, die wir aus einem zweidimensionalen Gesichts-
felde empfangen, in den (in einen vorgestellten dreidimensionalen) Raum
hinaus verlegen.

Bei der Bildung der Vorstellungen spielt übrigens die Induktion, ob-
wol meist unbewusst geübt, schon eine grosse Rolle. Sie z. B. ist es, die
uns veranlasst, denselben Tisch, den wir sehend als ausgedehnt resp. raum-
erfüllend wahrnehmen, auch mit Widerstandskräften auszustatten, dergleichen
sich uns beim Anfassen desselben kund geben. Mit Induktionsschlüssen
beteiligt sich der Verstand schon bei der Vorstellungsbildung; er vereinigt
oft die aus verschiedenen Sinnesorganen ihm zuteil gewordenen Botschaften
zur Gesamtanschauung eines Dinges, das sie veranlasste.

Besonders sind es Gesichts-, Tast- und Muskelsinn*), aus deren

*) Bekanntlich sollte man eigentlich von sieben Sinnen sprechen — zum
wenigsten. Denn nicht nur ist das Funktioniren des Tastsinnes ein zwiefältiges
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[25/0045] Einleitung. comprendre, c'est tout pardonner“ (als Subjekt) enthaltene Voraussetzung zu verwirklichen suchen und damit eine Erkenntniss zu gewinnen streben, deren Erwerbung durch jene oben genannten Affekte in der Regel voreilig verhindert wird. Jene Weltanschauung müsste endlich die Mahnung in sich schliessen, bei dem Kampfe gegen das Übel in dem Verfahren gegen Übelthäter nicht über das zum Schutze des Einzelnen und der Gesellschaft erforderliche Maass hinauszugehen. Wir brauchen indess zu obiger Frage hier keine Stellung zu nehmen, und genügt uns die Thatsache, dass unser Wille — sei er auch von einer uns unbewussten Notwendigkeit durchaus bestimmt, sei unsre Willensfreiheit auch nur Illusion — doch innerhalb unsres Bewusstseins wenigstens als frei erscheint, nämlich als ein freier unmittelbar empfunden wird. Diese Thatsache ist nicht nur unbestritten, sondern: dass wir überzeugt sind, frei zu denken, und auch (innerhalb der Grenzen des uns physisch Möglichen) frei zu handeln glauben, bildet sogar eine der am tiefsten eingewurzelten menschlichen Überzeugungen. (l. l. c. c.) υ) Demjenigen nun, was in unserm Bewusstsein als unfrei em- pfunden wird, sich dem unmittelbaren Einfluss unsres Willens entzieht, schreiben wir eine ausser uns liegende Ursache zu, und die Gesamtheit dieser Ursachen, denen wir ein eigenes Dasein, eine selbständige Exi- stenz — ähnlich der unsrigen (genauer: derjenigen des Ich's) — bei- legen, bildet für uns das Nicht-ich oder die Aussenwelt. So, was wir sehen, hören, tastend fühlen, etc., gestaltet sich (als eine unfreiwillige Empfindung) zunächst zur Anschauung von etwas ausser uns Befindlichem. Der passiv empfangene Sinneseindruck löst in der Regel, um als Empfindung in's Bewusstsein einzutreten, eine rezeptive Thätigkeit des Geistes aus, und diese setzt sich noch über die Empfindung hinaus fort, indem sie Veranlassung wird, dass wir (aktiv) uns eine Vorstellung bilden von dem Gegenstand, der sie hervorruft. Namentlich ist bekannt, wie wir so die Eindrücke der Farbenverteilung und Helligkeitsverhältnisse, die wir aus einem zweidimensionalen Gesichts- felde empfangen, in den (in einen vorgestellten dreidimensionalen) Raum hinaus verlegen. Bei der Bildung der Vorstellungen spielt übrigens die Induktion, ob- wol meist unbewusst geübt, schon eine grosse Rolle. Sie z. B. ist es, die uns veranlasst, denselben Tisch, den wir sehend als ausgedehnt resp. raum- erfüllend wahrnehmen, auch mit Widerstandskräften auszustatten, dergleichen sich uns beim Anfassen desselben kund geben. Mit Induktionsschlüssen beteiligt sich der Verstand schon bei der Vorstellungsbildung; er vereinigt oft die aus verschiedenen Sinnesorganen ihm zuteil gewordenen Botschaften zur Gesamtanschauung eines Dinges, das sie veranlasste. Besonders sind es Gesichts-, Tast- und Muskelsinn *), aus deren *) Bekanntlich sollte man eigentlich von sieben Sinnen sprechen — zum wenigsten. Denn nicht nur ist das Funktioniren des Tastsinnes ein zwiefältiges

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/45>, abgerufen am 18.04.2024.