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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

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und sollen, und die Welt, mit allen ihren Heil- und
Correctionsmitteln, ist eine Anstalt für Reconvalescen-
ten. In so fern gelangen wir erst als Widergenesene
zum Gefühl des vollendeten Wohlseyns, werden nicht
sogleich mit diesem Gefühl geboren, und ganze, in
dem Irrthume langer Jahrhunderte befangene Völker,
scheinen in einzelnen Punkten über das, was recht oder
unrecht sey? ungewiß, und für den Zustand einer mo-
ralischen Lähmung, worinnen sie sich befinden, unem-
pfindlich geworden zu seyn. Indessen ist die Bestäti-
gung welche jenes oberflächliche Räsonnement über das
Gewissen hieraus zu empfangen scheint, bloß scheinbar,
und die Rückerinnerung an einen ehehin gesunden Zu-
stand ihrer geistigen Natur, bringen alle Menschen,
mehr oder minder deutlich mit sich ins Leben.

Abgesehen von jenem Bilde, so ist das Gewissen
nichts anders als das Organ jener ehehin dem menschli-
chen Geiste durchaus eigenthümlichen Sprache -- der
Sprache Gottes. Es ist dieses Organ ein Theil der
göttlichen Natur selber, jener Funke des höheren Le-
bens, welcher den Menschen erst zum Ebenbild des
Göttlichen machet, und seine Gemeinschaft mit diesem
vermittelt. Jenes Organ gehört zu dem eigenthümlich-
sten Charakter der menschlichen Natur -- das Ge-
wissen ist uns angeboren. Es ist dieselbe Anlage, die
sich uns als der versteckte Poet der Träume, und in
der Begeisterung der poetischen, so wie der höheren
prophetischen Region kund giebt.

Wenn das Gewissen ursprünglich ein Organ der
Stimme Gottes im Menschen gewesen, und diese
Stimme selber; so ist es freylich seit der großen
Sprachenverwirrung zum Theil weit von seiner ur-

sprüng-

und ſollen, und die Welt, mit allen ihren Heil- und
Correctionsmitteln, iſt eine Anſtalt fuͤr Reconvalescen-
ten. In ſo fern gelangen wir erſt als Widergeneſene
zum Gefuͤhl des vollendeten Wohlſeyns, werden nicht
ſogleich mit dieſem Gefuͤhl geboren, und ganze, in
dem Irrthume langer Jahrhunderte befangene Voͤlker,
ſcheinen in einzelnen Punkten uͤber das, was recht oder
unrecht ſey? ungewiß, und fuͤr den Zuſtand einer mo-
raliſchen Laͤhmung, worinnen ſie ſich befinden, unem-
pfindlich geworden zu ſeyn. Indeſſen iſt die Beſtaͤti-
gung welche jenes oberflaͤchliche Raͤſonnement uͤber das
Gewiſſen hieraus zu empfangen ſcheint, bloß ſcheinbar,
und die Ruͤckerinnerung an einen ehehin geſunden Zu-
ſtand ihrer geiſtigen Natur, bringen alle Menſchen,
mehr oder minder deutlich mit ſich ins Leben.

Abgeſehen von jenem Bilde, ſo iſt das Gewiſſen
nichts anders als das Organ jener ehehin dem menſchli-
chen Geiſte durchaus eigenthuͤmlichen Sprache — der
Sprache Gottes. Es iſt dieſes Organ ein Theil der
goͤttlichen Natur ſelber, jener Funke des hoͤheren Le-
bens, welcher den Menſchen erſt zum Ebenbild des
Goͤttlichen machet, und ſeine Gemeinſchaft mit dieſem
vermittelt. Jenes Organ gehoͤrt zu dem eigenthuͤmlich-
ſten Charakter der menſchlichen Natur — das Ge-
wiſſen iſt uns angeboren. Es iſt dieſelbe Anlage, die
ſich uns als der verſteckte Poet der Traͤume, und in
der Begeiſterung der poetiſchen, ſo wie der hoͤheren
prophetiſchen Region kund giebt.

Wenn das Gewiſſen urſpruͤnglich ein Organ der
Stimme Gottes im Menſchen geweſen, und dieſe
Stimme ſelber; ſo iſt es freylich ſeit der großen
Sprachenverwirrung zum Theil weit von ſeiner ur-

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[57/0067] und ſollen, und die Welt, mit allen ihren Heil- und Correctionsmitteln, iſt eine Anſtalt fuͤr Reconvalescen- ten. In ſo fern gelangen wir erſt als Widergeneſene zum Gefuͤhl des vollendeten Wohlſeyns, werden nicht ſogleich mit dieſem Gefuͤhl geboren, und ganze, in dem Irrthume langer Jahrhunderte befangene Voͤlker, ſcheinen in einzelnen Punkten uͤber das, was recht oder unrecht ſey? ungewiß, und fuͤr den Zuſtand einer mo- raliſchen Laͤhmung, worinnen ſie ſich befinden, unem- pfindlich geworden zu ſeyn. Indeſſen iſt die Beſtaͤti- gung welche jenes oberflaͤchliche Raͤſonnement uͤber das Gewiſſen hieraus zu empfangen ſcheint, bloß ſcheinbar, und die Ruͤckerinnerung an einen ehehin geſunden Zu- ſtand ihrer geiſtigen Natur, bringen alle Menſchen, mehr oder minder deutlich mit ſich ins Leben. Abgeſehen von jenem Bilde, ſo iſt das Gewiſſen nichts anders als das Organ jener ehehin dem menſchli- chen Geiſte durchaus eigenthuͤmlichen Sprache — der Sprache Gottes. Es iſt dieſes Organ ein Theil der goͤttlichen Natur ſelber, jener Funke des hoͤheren Le- bens, welcher den Menſchen erſt zum Ebenbild des Goͤttlichen machet, und ſeine Gemeinſchaft mit dieſem vermittelt. Jenes Organ gehoͤrt zu dem eigenthuͤmlich- ſten Charakter der menſchlichen Natur — das Ge- wiſſen iſt uns angeboren. Es iſt dieſelbe Anlage, die ſich uns als der verſteckte Poet der Traͤume, und in der Begeiſterung der poetiſchen, ſo wie der hoͤheren prophetiſchen Region kund giebt. Wenn das Gewiſſen urſpruͤnglich ein Organ der Stimme Gottes im Menſchen geweſen, und dieſe Stimme ſelber; ſo iſt es freylich ſeit der großen Sprachenverwirrung zum Theil weit von ſeiner ur- ſpruͤng-

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/67>, abgerufen am 23.04.2024.