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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

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5. Von einer babylonischen Sprachen-
verwirrung.

Wir verfolgen den seltsamen Contrast unserer Natur
noch weiter. *) Von jeher hat die ernstere Moral
nicht den höchsten Werth in jene innerlichen Empfin-
dungen und Genüsse gelegt, von denen sich der Mensch
in den glückseligsten Stunden seines inneren Lebens er-
griffen fühlt. Und dennoch erscheinen diese Freu-
den, welche die Seele aus dem Umgange und der Ge-
meinschaft mit ihrem höheren Ursprunge empfängt, als
die reinsten und geistigsten, deren sie in dem jetzigen
Daseyn empfänglich ist. Jene ernstere Moral redet
vielmehr von einer tiefen, geistigen Verlassung und
Entbehrung selbst unserer geistigsten Genüsse, als von
einem Zustande, welcher zur Entwickelung des inneren
Lebens nothwendig, seinem Gedeihen öfters viel för-
derlicher sey, als der des Genusses, obgleich dieser
Schmerz, welcher selbst des Trostes der Thränen und
einer sinnlichen Fühlbarkeit entbehrt, der höchste ist,
den die Seele in ihrem jetzigen Zustande ertragen kann.

Und in der That, selbst jene geistigsten und rein-
sten Empfindungen, gränzen nahe an eine andere Re-
gion des Gefühles, die den Geist leicht in die größten
Widersprüche und Gefahren stürzt. Diesen größten
Gefahren unter allen ist der unbewachte Menschengeist

zu
*) Ueber jenen Contrast vergleiche man we[i]ter: Franz
Baaders Begründung der Ethik durch die Physik. --
5. Von einer babyloniſchen Sprachen-
verwirrung.

Wir verfolgen den ſeltſamen Contraſt unſerer Natur
noch weiter. *) Von jeher hat die ernſtere Moral
nicht den hoͤchſten Werth in jene innerlichen Empfin-
dungen und Genuͤſſe gelegt, von denen ſich der Menſch
in den gluͤckſeligſten Stunden ſeines inneren Lebens er-
griffen fuͤhlt. Und dennoch erſcheinen dieſe Freu-
den, welche die Seele aus dem Umgange und der Ge-
meinſchaft mit ihrem hoͤheren Urſprunge empfaͤngt, als
die reinſten und geiſtigſten, deren ſie in dem jetzigen
Daſeyn empfaͤnglich iſt. Jene ernſtere Moral redet
vielmehr von einer tiefen, geiſtigen Verlaſſung und
Entbehrung ſelbſt unſerer geiſtigſten Genuͤſſe, als von
einem Zuſtande, welcher zur Entwickelung des inneren
Lebens nothwendig, ſeinem Gedeihen oͤfters viel foͤr-
derlicher ſey, als der des Genuſſes, obgleich dieſer
Schmerz, welcher ſelbſt des Troſtes der Thraͤnen und
einer ſinnlichen Fuͤhlbarkeit entbehrt, der hoͤchſte iſt,
den die Seele in ihrem jetzigen Zuſtande ertragen kann.

Und in der That, ſelbſt jene geiſtigſten und rein-
ſten Empfindungen, graͤnzen nahe an eine andere Re-
gion des Gefuͤhles, die den Geiſt leicht in die groͤßten
Widerſpruͤche und Gefahren ſtuͤrzt. Dieſen groͤßten
Gefahren unter allen iſt der unbewachte Menſchengeiſt

zu
*) Ueber jenen Contraſt vergleiche man we[i]ter: Franz
Baaders Begruͤndung der Ethik durch die Phyſik. —
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[71/0081] 5. Von einer babyloniſchen Sprachen- verwirrung. Wir verfolgen den ſeltſamen Contraſt unſerer Natur noch weiter. *) Von jeher hat die ernſtere Moral nicht den hoͤchſten Werth in jene innerlichen Empfin- dungen und Genuͤſſe gelegt, von denen ſich der Menſch in den gluͤckſeligſten Stunden ſeines inneren Lebens er- griffen fuͤhlt. Und dennoch erſcheinen dieſe Freu- den, welche die Seele aus dem Umgange und der Ge- meinſchaft mit ihrem hoͤheren Urſprunge empfaͤngt, als die reinſten und geiſtigſten, deren ſie in dem jetzigen Daſeyn empfaͤnglich iſt. Jene ernſtere Moral redet vielmehr von einer tiefen, geiſtigen Verlaſſung und Entbehrung ſelbſt unſerer geiſtigſten Genuͤſſe, als von einem Zuſtande, welcher zur Entwickelung des inneren Lebens nothwendig, ſeinem Gedeihen oͤfters viel foͤr- derlicher ſey, als der des Genuſſes, obgleich dieſer Schmerz, welcher ſelbſt des Troſtes der Thraͤnen und einer ſinnlichen Fuͤhlbarkeit entbehrt, der hoͤchſte iſt, den die Seele in ihrem jetzigen Zuſtande ertragen kann. Und in der That, ſelbſt jene geiſtigſten und rein- ſten Empfindungen, graͤnzen nahe an eine andere Re- gion des Gefuͤhles, die den Geiſt leicht in die groͤßten Widerſpruͤche und Gefahren ſtuͤrzt. Dieſen groͤßten Gefahren unter allen iſt der unbewachte Menſchengeiſt zu *) Ueber jenen Contraſt vergleiche man weiter: Franz Baaders Begruͤndung der Ethik durch die Phyſik. —

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/81>, abgerufen am 28.03.2024.