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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

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zu allen Zeiten unterlegen, und wenn nach dem Vor-
hergehenden in den Geheimlehren und Geheimgottes-
dienst des Alterthums auf der einen Seite allenthal-
ben den Geist eines höheren, nüchternen Erkenntnisses
und der innigeren Gemeinschaft mit dem Göttlichen
unverkennbar ist; so finden wir auf der andern Seite
jene reine Feyer auch eben so sehr durch orgiastische
Greuel einer rasenden thierischen Wollust befleckt. Wir
haben früher den eigentlichen und ursprünglichen Sinn
der Bacchischen Mysterien gesehen, deren spätere Miß-
bräuche und entsetzliche Ausschweifungen sich noch jetzt
im Sprichwort erhalten haben. Gehen wir alle die
verschiedenen Religionsformen der Völker durch, so
finden wir zu unserm Erstaunen, daß sich das Getöse
wilder sinnlicher Lust, blutige Grausamkeit und Fana-
tismus immer gerade zu jenen Lehren gesellt haben,
welche ursprünglich die meisten, mächtigsten Strahlen
einer höheren Wahrheit und Gotteserkenntniß in sich
enthielten. Die Geheimlehren der ganzen alten Welt
sind sich in Hinsicht ihres Inhaltes verwandt, (z. B.
die Bacchusmysterien mit den so verschiedenartig schei-
nenden Lehren des Apollo,) und dieser Inhalt ist noch
immer in jenen Ueberresten zu erkennen, die sich im
Götzendienst der jetzigen, besonders der asiatischen Völ-
ker erhalten haben. Mit Recht behauptete das Al-
terthum von einigen jener minder verunreinigten My-
sterien, daß sie, wie die Götter über die Heroen,
über alle andere von Menschen angeordnete Religions-
anstalten erhaben wären. Und die heiligen symboli-
schen Gestalten jener Geheimlehren, zu welchen unge-
heuren Zerrbildern sind sie entstellt worden! von je-
nem des Kinder-mordenden Molochs an bis zu dem

blu-

zu allen Zeiten unterlegen, und wenn nach dem Vor-
hergehenden in den Geheimlehren und Geheimgottes-
dienſt des Alterthums auf der einen Seite allenthal-
ben den Geiſt eines hoͤheren, nuͤchternen Erkenntniſſes
und der innigeren Gemeinſchaft mit dem Goͤttlichen
unverkennbar iſt; ſo finden wir auf der andern Seite
jene reine Feyer auch eben ſo ſehr durch orgiaſtiſche
Greuel einer raſenden thieriſchen Wolluſt befleckt. Wir
haben fruͤher den eigentlichen und urſpruͤnglichen Sinn
der Bacchiſchen Myſterien geſehen, deren ſpaͤtere Miß-
braͤuche und entſetzliche Ausſchweifungen ſich noch jetzt
im Sprichwort erhalten haben. Gehen wir alle die
verſchiedenen Religionsformen der Voͤlker durch, ſo
finden wir zu unſerm Erſtaunen, daß ſich das Getoͤſe
wilder ſinnlicher Luſt, blutige Grauſamkeit und Fana-
tismus immer gerade zu jenen Lehren geſellt haben,
welche urſpruͤnglich die meiſten, maͤchtigſten Strahlen
einer hoͤheren Wahrheit und Gotteserkenntniß in ſich
enthielten. Die Geheimlehren der ganzen alten Welt
ſind ſich in Hinſicht ihres Inhaltes verwandt, (z. B.
die Bacchusmyſterien mit den ſo verſchiedenartig ſchei-
nenden Lehren des Apollo,) und dieſer Inhalt iſt noch
immer in jenen Ueberreſten zu erkennen, die ſich im
Goͤtzendienſt der jetzigen, beſonders der aſiatiſchen Voͤl-
ker erhalten haben. Mit Recht behauptete das Al-
terthum von einigen jener minder verunreinigten My-
ſterien, daß ſie, wie die Goͤtter uͤber die Heroen,
uͤber alle andere von Menſchen angeordnete Religions-
anſtalten erhaben waͤren. Und die heiligen ſymboli-
ſchen Geſtalten jener Geheimlehren, zu welchen unge-
heuren Zerrbildern ſind ſie entſtellt worden! von je-
nem des Kinder-mordenden Molochs an bis zu dem

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[72/0082] zu allen Zeiten unterlegen, und wenn nach dem Vor- hergehenden in den Geheimlehren und Geheimgottes- dienſt des Alterthums auf der einen Seite allenthal- ben den Geiſt eines hoͤheren, nuͤchternen Erkenntniſſes und der innigeren Gemeinſchaft mit dem Goͤttlichen unverkennbar iſt; ſo finden wir auf der andern Seite jene reine Feyer auch eben ſo ſehr durch orgiaſtiſche Greuel einer raſenden thieriſchen Wolluſt befleckt. Wir haben fruͤher den eigentlichen und urſpruͤnglichen Sinn der Bacchiſchen Myſterien geſehen, deren ſpaͤtere Miß- braͤuche und entſetzliche Ausſchweifungen ſich noch jetzt im Sprichwort erhalten haben. Gehen wir alle die verſchiedenen Religionsformen der Voͤlker durch, ſo finden wir zu unſerm Erſtaunen, daß ſich das Getoͤſe wilder ſinnlicher Luſt, blutige Grauſamkeit und Fana- tismus immer gerade zu jenen Lehren geſellt haben, welche urſpruͤnglich die meiſten, maͤchtigſten Strahlen einer hoͤheren Wahrheit und Gotteserkenntniß in ſich enthielten. Die Geheimlehren der ganzen alten Welt ſind ſich in Hinſicht ihres Inhaltes verwandt, (z. B. die Bacchusmyſterien mit den ſo verſchiedenartig ſchei- nenden Lehren des Apollo,) und dieſer Inhalt iſt noch immer in jenen Ueberreſten zu erkennen, die ſich im Goͤtzendienſt der jetzigen, beſonders der aſiatiſchen Voͤl- ker erhalten haben. Mit Recht behauptete das Al- terthum von einigen jener minder verunreinigten My- ſterien, daß ſie, wie die Goͤtter uͤber die Heroen, uͤber alle andere von Menſchen angeordnete Religions- anſtalten erhaben waͤren. Und die heiligen ſymboli- ſchen Geſtalten jener Geheimlehren, zu welchen unge- heuren Zerrbildern ſind ſie entſtellt worden! von je- nem des Kinder-mordenden Molochs an bis zu dem blu-

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/82>, abgerufen am 18.04.2024.