Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 18). 2. Bd. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

"Traurig?" Ginas Augen blickten höhnisch und finster. "Mir sind sie nicht traurig, ich habe mich nie vor Gräbern gefürchtet. Ah! du glaubtest immer, daß du alles wüßtest, wenn ich fortschlich -, aber du weiß nichts ... Einmal ... in San Vitale, du schliefst so fest, da zog ich den Schüssel unter deinem Kissen heraus, und dann schlich ich mich wieder hinaus in den Kirchhof. Es zog mich hin wie noch nie, und dort fand ich ein offenes Grab, das auf eine Leiche wartete. Und da legte ich mich hinein, ganz lang streckte ich mich aus. Ach, das that wohl, und ich fühlte, wie die große Kälte über mich kam, der tiefe Schlaf, und ich freute mich, da ... plötzlich durchzog mich eine Unruhe, ein Fieber. Über die Erde schlich ein linder Wind, und der sang. O, wie der sang ... die Liebeslieder sang er, mit denen der Frühling die schlafende Erde weckt. Und die ganze Erde fing an zu duften bis in das Grab, und die Blätter und Bäume dufteten, und die Knospen sprangen auf, die Knospen der Orangenbäume, die Knospen wurden Blüten, und die Blüten dufteten - ach, wie sie dufteten - und sie küßten sich, ich hörte es ganz deutlich, wie sie sich im Mondschein küßten, leise, leise! Da setzte ich mich auf in meinem Grab und horchte, und da kam eine Sehnsucht über mich, so eine Sehnsucht nach allem, was heiß und schön ist, nach allem, was Blüten treibt und im Rausch des

„Traurig?“ Ginas Augen blickten höhnisch und finster. „Mir sind sie nicht traurig, ich habe mich nie vor Gräbern gefürchtet. Ah! du glaubtest immer, daß du alles wüßtest, wenn ich fortschlich –, aber du weiß nichts … Einmal … in San Vitale, du schliefst so fest, da zog ich den Schüssel unter deinem Kissen heraus, und dann schlich ich mich wieder hinaus in den Kirchhof. Es zog mich hin wie noch nie, und dort fand ich ein offenes Grab, das auf eine Leiche wartete. Und da legte ich mich hinein, ganz lang streckte ich mich aus. Ach, das that wohl, und ich fühlte, wie die große Kälte über mich kam, der tiefe Schlaf, und ich freute mich, da … plötzlich durchzog mich eine Unruhe, ein Fieber. Über die Erde schlich ein linder Wind, und der sang. O, wie der sang … die Liebeslieder sang er, mit denen der Frühling die schlafende Erde weckt. Und die ganze Erde fing an zu duften bis in das Grab, und die Blätter und Bäume dufteten, und die Knospen sprangen auf, die Knospen der Orangenbäume, die Knospen wurden Blüten, und die Blüten dufteten – ach, wie sie dufteten – und sie küßten sich, ich hörte es ganz deutlich, wie sie sich im Mondschein küßten, leise, leise! Da setzte ich mich auf in meinem Grab und horchte, und da kam eine Sehnsucht über mich, so eine Sehnsucht nach allem, was heiß und schön ist, nach allem, was Blüten treibt und im Rausch des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0039" n="39"/>
        <p>&#x201E;Traurig?&#x201C; Ginas Augen blickten höhnisch und finster. &#x201E;Mir sind sie nicht traurig, ich habe mich nie vor Gräbern gefürchtet. Ah! du glaubtest immer, daß du alles wüßtest, wenn ich fortschlich &#x2013;, aber du weiß nichts &#x2026; Einmal &#x2026; in San Vitale, du schliefst so fest, da zog ich den Schüssel unter deinem Kissen heraus, und dann schlich ich mich wieder hinaus in den Kirchhof. Es zog mich hin wie noch nie, und dort fand ich ein offenes Grab, das auf eine Leiche wartete. Und da legte ich mich hinein, ganz lang streckte ich mich aus. Ach, das that wohl, und ich fühlte, wie die große Kälte über mich kam, der tiefe Schlaf, und ich freute mich, da &#x2026; plötzlich durchzog mich eine Unruhe, ein Fieber. Über die Erde schlich ein linder Wind, und der sang. O, wie der sang &#x2026; die Liebeslieder sang er, mit denen der Frühling die schlafende Erde weckt. Und die ganze Erde fing an zu duften bis in das Grab, und die Blätter und Bäume dufteten, und die Knospen sprangen auf, die Knospen der Orangenbäume, die Knospen wurden Blüten, und die Blüten dufteten &#x2013; ach, wie sie dufteten &#x2013; und sie küßten sich, ich hörte es ganz deutlich, wie sie sich im Mondschein küßten, leise, leise! Da setzte ich mich auf in meinem Grab und horchte, und da kam eine Sehnsucht über mich, so eine Sehnsucht nach allem, was heiß und schön ist, nach allem, was Blüten treibt und im Rausch des
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0039] „Traurig?“ Ginas Augen blickten höhnisch und finster. „Mir sind sie nicht traurig, ich habe mich nie vor Gräbern gefürchtet. Ah! du glaubtest immer, daß du alles wüßtest, wenn ich fortschlich –, aber du weiß nichts … Einmal … in San Vitale, du schliefst so fest, da zog ich den Schüssel unter deinem Kissen heraus, und dann schlich ich mich wieder hinaus in den Kirchhof. Es zog mich hin wie noch nie, und dort fand ich ein offenes Grab, das auf eine Leiche wartete. Und da legte ich mich hinein, ganz lang streckte ich mich aus. Ach, das that wohl, und ich fühlte, wie die große Kälte über mich kam, der tiefe Schlaf, und ich freute mich, da … plötzlich durchzog mich eine Unruhe, ein Fieber. Über die Erde schlich ein linder Wind, und der sang. O, wie der sang … die Liebeslieder sang er, mit denen der Frühling die schlafende Erde weckt. Und die ganze Erde fing an zu duften bis in das Grab, und die Blätter und Bäume dufteten, und die Knospen sprangen auf, die Knospen der Orangenbäume, die Knospen wurden Blüten, und die Blüten dufteten – ach, wie sie dufteten – und sie küßten sich, ich hörte es ganz deutlich, wie sie sich im Mondschein küßten, leise, leise! Da setzte ich mich auf in meinem Grab und horchte, und da kam eine Sehnsucht über mich, so eine Sehnsucht nach allem, was heiß und schön ist, nach allem, was Blüten treibt und im Rausch des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-29T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-29T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Geviertstriche „—“ werden als normale Gedankenstriche „–“ wiedergegeben.
  • Die Majuskelschreibweise Ae, Oe, Ue wird als Ä, Ö, Ü wiedergegeben.
  • Worttrennungen am Zeilenende werden ignoriert. Das Wort wird noch auf der gleichen Seite vervollständigt.
  • Die Transkription folgt im Übrigen dem Original.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber02_1899/39
Zitationshilfe: Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 18). 2. Bd. Stuttgart, 1899, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber02_1899/39>, abgerufen am 29.03.2024.