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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Bitterer Schmerz ergriff den Argonautenführer Ja¬
son mit allen seinen Helden, als sie den guten Dolionen¬
könig in seinem Blute liegen sahen. Drei Tage lang
trauerten in friedlicher Vermischung die Helden und die
Dolionen, rauften sich die Haare und stellten den Ge¬
bliebenen zu Ehren gemeinschaftlich Trauerkampfspiele
an; dann schifften die fremden Helden weiter. Elite, die
Gemahlin des gefallenen Dolionenköniges, erdrosselte sich
mit dem Stricke, noch ehe sie geboren hatte.


Herkules zurückgelassen.

Nach einer stürmevollen Fahrt landeten die Helden
in einem Meerbusen Bithyniens, bei der Stadt Cios.
Die Mysier, die hier wohnten, empfingen sie gar freund¬
lich, thürmten dürres Holz zum wärmenden Feuer auf,
machten den Ankömmlingen aus grünem Laub eine weiche
Streu, und setzten ihnen noch in der Abenddämmerung
Wein und Speise zur Gnüge vor. Herkules, der alle
Bequemlichkeiten der Reise verschmähte, ließ seine Ge¬
nossen beim Mahle sitzen und machte einen Streifzug in
den Wald, um sich aus einem Tannenbaum ein besseres
Ruder für den kommenden Morgen zu schnitzen. Bald
fand er eine Tanne, die ihm gerecht war, nicht zu sehr
mit Aesten beladen, in der Größe und im Umfang wie
der Ast einer schlanken Pappel. Sogleich legte er Kö¬
cher und Bogen auf die Erde, zog sein Löwenfell aus,
warf seine eherne Keule auf den Boden und zog den
Stamm, den er mit beiden Händen gefaßt, mit sammt
den Wurzeln und der daran hängenden Erde heraus, so

Bitterer Schmerz ergriff den Argonautenführer Ja¬
ſon mit allen ſeinen Helden, als ſie den guten Dolionen¬
könig in ſeinem Blute liegen ſahen. Drei Tage lang
trauerten in friedlicher Vermiſchung die Helden und die
Dolionen, rauften ſich die Haare und ſtellten den Ge¬
bliebenen zu Ehren gemeinſchaftlich Trauerkampfſpiele
an; dann ſchifften die fremden Helden weiter. Elite, die
Gemahlin des gefallenen Dolionenköniges, erdroſſelte ſich
mit dem Stricke, noch ehe ſie geboren hatte.


Herkules zurückgelaſſen.

Nach einer ſtürmevollen Fahrt landeten die Helden
in einem Meerbuſen Bithyniens, bei der Stadt Cios.
Die Myſier, die hier wohnten, empfingen ſie gar freund¬
lich, thürmten dürres Holz zum wärmenden Feuer auf,
machten den Ankömmlingen aus grünem Laub eine weiche
Streu, und ſetzten ihnen noch in der Abenddämmerung
Wein und Speiſe zur Gnüge vor. Herkules, der alle
Bequemlichkeiten der Reiſe verſchmähte, ließ ſeine Ge¬
noſſen beim Mahle ſitzen und machte einen Streifzug in
den Wald, um ſich aus einem Tannenbaum ein beſſeres
Ruder für den kommenden Morgen zu ſchnitzen. Bald
fand er eine Tanne, die ihm gerecht war, nicht zu ſehr
mit Aeſten beladen, in der Größe und im Umfang wie
der Aſt einer ſchlanken Pappel. Sogleich legte er Kö¬
cher und Bogen auf die Erde, zog ſein Löwenfell aus,
warf ſeine eherne Keule auf den Boden und zog den
Stamm, den er mit beiden Händen gefaßt, mit ſammt
den Wurzeln und der daran hängenden Erde heraus, ſo

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[103/0129] Bitterer Schmerz ergriff den Argonautenführer Ja¬ ſon mit allen ſeinen Helden, als ſie den guten Dolionen¬ könig in ſeinem Blute liegen ſahen. Drei Tage lang trauerten in friedlicher Vermiſchung die Helden und die Dolionen, rauften ſich die Haare und ſtellten den Ge¬ bliebenen zu Ehren gemeinſchaftlich Trauerkampfſpiele an; dann ſchifften die fremden Helden weiter. Elite, die Gemahlin des gefallenen Dolionenköniges, erdroſſelte ſich mit dem Stricke, noch ehe ſie geboren hatte. Herkules zurückgelaſſen. Nach einer ſtürmevollen Fahrt landeten die Helden in einem Meerbuſen Bithyniens, bei der Stadt Cios. Die Myſier, die hier wohnten, empfingen ſie gar freund¬ lich, thürmten dürres Holz zum wärmenden Feuer auf, machten den Ankömmlingen aus grünem Laub eine weiche Streu, und ſetzten ihnen noch in der Abenddämmerung Wein und Speiſe zur Gnüge vor. Herkules, der alle Bequemlichkeiten der Reiſe verſchmähte, ließ ſeine Ge¬ noſſen beim Mahle ſitzen und machte einen Streifzug in den Wald, um ſich aus einem Tannenbaum ein beſſeres Ruder für den kommenden Morgen zu ſchnitzen. Bald fand er eine Tanne, die ihm gerecht war, nicht zu ſehr mit Aeſten beladen, in der Größe und im Umfang wie der Aſt einer ſchlanken Pappel. Sogleich legte er Kö¬ cher und Bogen auf die Erde, zog ſein Löwenfell aus, warf ſeine eherne Keule auf den Boden und zog den Stamm, den er mit beiden Händen gefaßt, mit ſammt den Wurzeln und der daran hängenden Erde heraus, ſo

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/129>, abgerufen am 19.04.2024.