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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Dädalus und Ikarus.

Auch Dädalus aus Athen war ein Erechthide, ein
Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war
der kunstreichste Mann seiner Zeit, Baumeister, Bild¬
hauer und Arbeiter in Stein. In den verschiedensten
Gegenden der Welt wurden Werke seiner Kunst bewun¬
dert und von seinen Bildsäulen sagte man, sie leben,
gehen und sehen, und seyen für kein Bild sondern für
ein beseeltes Geschöpf zu halten. Denn während an
den Bildsäulen der früheren Meister die Augen geschlossen
waren, und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht
getrennt, schlaff herunter hingen, war er der erste, der
seinen Bildern offene Augen gab, sie die Hände aus¬
strecken und auf schreitenden Füßen stehen ließ. Aber so
kunstreich Dädalus war, so eitel und eifersüchtig war er
auch auf seine Kunst, und diese Untugend verführte ihn
zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend. Er hatte ei¬
nen Schwestersohn, Namens Talos, den er in seinen eige¬
nen Künsten unterrichtete, und der noch herrlichere An¬
lagen zeigte als sein Oheim und Meister. Noch als
Knabe hatte Talos die Töpferscheibe erfunden; den Kinn¬
backen einer Schlange, auf den er irgendwo gestoßen,
gebrauchte er als Säge und durchschnitt mit den gezackten
Zähnen ein kleines Brettchen, dann ahmte er dieses
Werkzeug in Eisen nach, in dessen Schärfe er eine Reihe
fortlaufender Zähne einschnitt, und wurde so der geprie¬
sene Erfinder der Säge. Ebenso erfand er das Drechsel¬
eisen, indem er zuerst zwei eiserne Arme verband, von
welchen der eine stille stand, während der andere sich

Dädalus und Ikarus.

Auch Dädalus aus Athen war ein Erechthide, ein
Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war
der kunſtreichſte Mann ſeiner Zeit, Baumeiſter, Bild¬
hauer und Arbeiter in Stein. In den verſchiedenſten
Gegenden der Welt wurden Werke ſeiner Kunſt bewun¬
dert und von ſeinen Bildſäulen ſagte man, ſie leben,
gehen und ſehen, und ſeyen für kein Bild ſondern für
ein beſeeltes Geſchöpf zu halten. Denn während an
den Bildſäulen der früheren Meiſter die Augen geſchloſſen
waren, und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht
getrennt, ſchlaff herunter hingen, war er der erſte, der
ſeinen Bildern offene Augen gab, ſie die Hände aus¬
ſtrecken und auf ſchreitenden Füßen ſtehen ließ. Aber ſo
kunſtreich Dädalus war, ſo eitel und eiferſüchtig war er
auch auf ſeine Kunſt, und dieſe Untugend verführte ihn
zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend. Er hatte ei¬
nen Schweſterſohn, Namens Talos, den er in ſeinen eige¬
nen Künſten unterrichtete, und der noch herrlichere An¬
lagen zeigte als ſein Oheim und Meiſter. Noch als
Knabe hatte Talos die Töpferſcheibe erfunden; den Kinn¬
backen einer Schlange, auf den er irgendwo geſtoßen,
gebrauchte er als Säge und durchſchnitt mit den gezackten
Zähnen ein kleines Brettchen, dann ahmte er dieſes
Werkzeug in Eiſen nach, in deſſen Schärfe er eine Reihe
fortlaufender Zähne einſchnitt, und wurde ſo der geprie¬
ſene Erfinder der Säge. Ebenſo erfand er das Drechſel¬
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[82/0108] Dädalus und Ikarus. Auch Dädalus aus Athen war ein Erechthide, ein Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war der kunſtreichſte Mann ſeiner Zeit, Baumeiſter, Bild¬ hauer und Arbeiter in Stein. In den verſchiedenſten Gegenden der Welt wurden Werke ſeiner Kunſt bewun¬ dert und von ſeinen Bildſäulen ſagte man, ſie leben, gehen und ſehen, und ſeyen für kein Bild ſondern für ein beſeeltes Geſchöpf zu halten. Denn während an den Bildſäulen der früheren Meiſter die Augen geſchloſſen waren, und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht getrennt, ſchlaff herunter hingen, war er der erſte, der ſeinen Bildern offene Augen gab, ſie die Hände aus¬ ſtrecken und auf ſchreitenden Füßen ſtehen ließ. Aber ſo kunſtreich Dädalus war, ſo eitel und eiferſüchtig war er auch auf ſeine Kunſt, und dieſe Untugend verführte ihn zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend. Er hatte ei¬ nen Schweſterſohn, Namens Talos, den er in ſeinen eige¬ nen Künſten unterrichtete, und der noch herrlichere An¬ lagen zeigte als ſein Oheim und Meiſter. Noch als Knabe hatte Talos die Töpferſcheibe erfunden; den Kinn¬ backen einer Schlange, auf den er irgendwo geſtoßen, gebrauchte er als Säge und durchſchnitt mit den gezackten Zähnen ein kleines Brettchen, dann ahmte er dieſes Werkzeug in Eiſen nach, in deſſen Schärfe er eine Reihe fortlaufender Zähne einſchnitt, und wurde ſo der geprie¬ ſene Erfinder der Säge. Ebenſo erfand er das Drechſel¬ eiſen, indem er zuerſt zwei eiſerne Arme verband, von welchen der eine ſtille ſtand, während der andere ſich

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/108>, abgerufen am 29.03.2024.