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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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gen, bei deren Anblick Alle die Köpfe bückten. Aber
Tiphys hieß mit dem Rudern inne halten und die schäu¬
mende Welle wälzte sich unschädlich unter dem Kiele hin
und hob das Schiff hoch über die zusammenschwimmenden
Felsen empor. Die Helden arbeiteten, daß die Ruder
sich krümmten; jetzt riß der Strudel das Schiff wieder
mitten in die Felsen hinab. Schon stießen die Felsen zu
beiden Seiten an den Bauch des Schiffes; da gab ihm
die Schutzgöttin Minerva einen unsichtbaren Stoß, daß
es glücklich durchkam und die zusammenschlagenden Fel¬
sen nur eben noch die äußersten Bretter des Hintertheiles
zermalmten. Als erst die Helden den Aether und die
offene See wieder vor sich sahen, da athmeten sie von
der Todesangst wieder auf und es war ihnen, als wä¬
ren sie aus der Unterwelt emporgetaucht. "Das ist nicht
durch unsre Kraft geschehen," rief Tiphys, "wohl fühlte
ich hinter mir die göttliche Hand Minervens, deren
Schnellkraft das Schiff durch die Felsen stieß! Nichts
haben wir fortan zu fürchten; alle andern Arbeiten nach
dieser Gefahr hat uns Phineus als leicht geschildert."
Aber Jason schüttelte traurig sein Haupt und sprach:
"Guter Tiphys, ich habe die Götter versucht, daß ich
dieses Unternehmen mir von Pelias auflegen ließ; lieber
hätte ich mich von ihm in Stücke sollen hauen lassen!
Jetzt bringe ich in Seufzen die Nächte nach den Tagen
zu, nicht für mich besorgt, nein, nur auf Euer Leben und
Heil bedacht, und wie ich aus so gräßlichen Gefahren
euch der Heimat unverloren zurückgeben soll." So sprach
der Held, seine Genossen zu versuchen. Diese aber ju¬
belten ihm freudig zu und verlangten vorwärts.


Schwab, das klass. Alterthum. I. 8

gen, bei deren Anblick Alle die Köpfe bückten. Aber
Tiphys hieß mit dem Rudern inne halten und die ſchäu¬
mende Welle wälzte ſich unſchädlich unter dem Kiele hin
und hob das Schiff hoch über die zuſammenſchwimmenden
Felſen empor. Die Helden arbeiteten, daß die Ruder
ſich krümmten; jetzt riß der Strudel das Schiff wieder
mitten in die Felſen hinab. Schon ſtießen die Felſen zu
beiden Seiten an den Bauch des Schiffes; da gab ihm
die Schutzgöttin Minerva einen unſichtbaren Stoß, daß
es glücklich durchkam und die zuſammenſchlagenden Fel¬
ſen nur eben noch die äußerſten Bretter des Hintertheiles
zermalmten. Als erſt die Helden den Aether und die
offene See wieder vor ſich ſahen, da athmeten ſie von
der Todesangſt wieder auf und es war ihnen, als wä¬
ren ſie aus der Unterwelt emporgetaucht. „Das iſt nicht
durch unſre Kraft geſchehen,“ rief Tiphys, „wohl fühlte
ich hinter mir die göttliche Hand Minervens, deren
Schnellkraft das Schiff durch die Felſen ſtieß! Nichts
haben wir fortan zu fürchten; alle andern Arbeiten nach
dieſer Gefahr hat uns Phineus als leicht geſchildert.“
Aber Jaſon ſchüttelte traurig ſein Haupt und ſprach:
„Guter Tiphys, ich habe die Götter verſucht, daß ich
dieſes Unternehmen mir von Pelias auflegen ließ; lieber
hätte ich mich von ihm in Stücke ſollen hauen laſſen!
Jetzt bringe ich in Seufzen die Nächte nach den Tagen
zu, nicht für mich beſorgt, nein, nur auf Euer Leben und
Heil bedacht, und wie ich aus ſo gräßlichen Gefahren
euch der Heimat unverloren zurückgeben ſoll.“ So ſprach
der Held, ſeine Genoſſen zu verſuchen. Dieſe aber ju¬
belten ihm freudig zu und verlangten vorwärts.


Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 8
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[113/0139] gen, bei deren Anblick Alle die Köpfe bückten. Aber Tiphys hieß mit dem Rudern inne halten und die ſchäu¬ mende Welle wälzte ſich unſchädlich unter dem Kiele hin und hob das Schiff hoch über die zuſammenſchwimmenden Felſen empor. Die Helden arbeiteten, daß die Ruder ſich krümmten; jetzt riß der Strudel das Schiff wieder mitten in die Felſen hinab. Schon ſtießen die Felſen zu beiden Seiten an den Bauch des Schiffes; da gab ihm die Schutzgöttin Minerva einen unſichtbaren Stoß, daß es glücklich durchkam und die zuſammenſchlagenden Fel¬ ſen nur eben noch die äußerſten Bretter des Hintertheiles zermalmten. Als erſt die Helden den Aether und die offene See wieder vor ſich ſahen, da athmeten ſie von der Todesangſt wieder auf und es war ihnen, als wä¬ ren ſie aus der Unterwelt emporgetaucht. „Das iſt nicht durch unſre Kraft geſchehen,“ rief Tiphys, „wohl fühlte ich hinter mir die göttliche Hand Minervens, deren Schnellkraft das Schiff durch die Felſen ſtieß! Nichts haben wir fortan zu fürchten; alle andern Arbeiten nach dieſer Gefahr hat uns Phineus als leicht geſchildert.“ Aber Jaſon ſchüttelte traurig ſein Haupt und ſprach: „Guter Tiphys, ich habe die Götter verſucht, daß ich dieſes Unternehmen mir von Pelias auflegen ließ; lieber hätte ich mich von ihm in Stücke ſollen hauen laſſen! Jetzt bringe ich in Seufzen die Nächte nach den Tagen zu, nicht für mich beſorgt, nein, nur auf Euer Leben und Heil bedacht, und wie ich aus ſo gräßlichen Gefahren euch der Heimat unverloren zurückgeben ſoll.“ So ſprach der Held, ſeine Genoſſen zu verſuchen. Dieſe aber ju¬ belten ihm freudig zu und verlangten vorwärts. Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 8

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/139>, abgerufen am 25.04.2024.