Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Brust wie eine Flamme brannte. Wie ein schwer Er¬
kranktes mußte sie einmal über das andere hoch aufath¬
men; von Zeit zu Zeit warf sie heimliche Blicke auf den
herrlichen Helden Jason; Alles andere war aus ihrem
Gedächtnisse geschwunden; ein einziger süßer Kummer be¬
mächtigte sich ihrer Seele; Blässe wechselte auf ihrem
Antlitz mit Purpurröthe.

In der frohen Verwirrung war Niemand auf die
Verwandlung aufmerksam, die mit der Jungfrau vorge¬
gangen war. Die Knechte trugen die zubereiteten Spei¬
sen herbei; und die Argoschiffer, die sich vom Schweiße
der Ruderarbeit im warmen Bade gereinigt hatten, lab¬
ten sich, fröhlich zu Tische sitzend, an Speise und Trank.
Ueber dem Mahle erzählten dem Aeetes seine Enkel das
Schicksal, das sie unterwegs betroffen hatte, und nun
fragte er sie auch leise nach den Fremdlingen. "Ich will
es dir nicht bergen, Großvater," flüsterte ihm Argos zu,
"diese Männer kommen, das goldene Vließ unsers Vaters
Phrixus von dir zu erbitten. Ein König, der sie gern
aus ihrem Vaterland und ihrem Eigenthum vertreiben
möchte, hat ihnen diesen gefährlichen Auftrag ertheilt.
Er hofft, sie werden dem Zorne Jupiters und der Rache
des Phrixus nicht entgehen, bevor sie mit dem Vließ in
ihre Heimat zurückkommen. Ihr Schiff hat ihnen Pallas
(Minerva) bauen helfen, kein solches, wie wir Kolchier
sie gebrauchen, von denen wir, deine Enkel, freilich das
schlechteste bekommen haben, denn im ersten Windstöße
ging es zu Scheitern. Nein, diese Fremdlinge haben ein
Schiff, so fest gezimmert, daß alle Stürme vergebens da¬
gegen ankämpfen, und sie selbst sitzen unaufhörlich an dem
Ruder. Die tapfersten Helden Griechenlands haben sich

Bruſt wie eine Flamme brannte. Wie ein ſchwer Er¬
kranktes mußte ſie einmal über das andere hoch aufath¬
men; von Zeit zu Zeit warf ſie heimliche Blicke auf den
herrlichen Helden Jaſon; Alles andere war aus ihrem
Gedächtniſſe geſchwunden; ein einziger ſüßer Kummer be¬
mächtigte ſich ihrer Seele; Bläſſe wechſelte auf ihrem
Antlitz mit Purpurröthe.

In der frohen Verwirrung war Niemand auf die
Verwandlung aufmerkſam, die mit der Jungfrau vorge¬
gangen war. Die Knechte trugen die zubereiteten Spei¬
ſen herbei; und die Argoſchiffer, die ſich vom Schweiße
der Ruderarbeit im warmen Bade gereinigt hatten, lab¬
ten ſich, fröhlich zu Tiſche ſitzend, an Speiſe und Trank.
Ueber dem Mahle erzählten dem Aeetes ſeine Enkel das
Schickſal, das ſie unterwegs betroffen hatte, und nun
fragte er ſie auch leiſe nach den Fremdlingen. „Ich will
es dir nicht bergen, Großvater,“ flüſterte ihm Argos zu,
„dieſe Männer kommen, das goldene Vließ unſers Vaters
Phrixus von dir zu erbitten. Ein König, der ſie gern
aus ihrem Vaterland und ihrem Eigenthum vertreiben
möchte, hat ihnen dieſen gefährlichen Auftrag ertheilt.
Er hofft, ſie werden dem Zorne Jupiters und der Rache
des Phrixus nicht entgehen, bevor ſie mit dem Vließ in
ihre Heimat zurückkommen. Ihr Schiff hat ihnen Pallas
(Minerva) bauen helfen, kein ſolches, wie wir Kolchier
ſie gebrauchen, von denen wir, deine Enkel, freilich das
ſchlechteſte bekommen haben, denn im erſten Windſtöße
ging es zu Scheitern. Nein, dieſe Fremdlinge haben ein
Schiff, ſo feſt gezimmert, daß alle Stürme vergebens da¬
gegen ankämpfen, und ſie ſelbſt ſitzen unaufhörlich an dem
Ruder. Die tapferſten Helden Griechenlands haben ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0149" n="123"/>
Bru&#x017F;t wie eine Flamme brannte. Wie ein &#x017F;chwer Er¬<lb/>
kranktes mußte &#x017F;ie einmal über das andere hoch aufath¬<lb/>
men; von Zeit zu Zeit warf &#x017F;ie heimliche Blicke auf den<lb/>
herrlichen Helden Ja&#x017F;on; Alles andere war aus ihrem<lb/>
Gedächtni&#x017F;&#x017F;e ge&#x017F;chwunden; ein einziger &#x017F;üßer Kummer be¬<lb/>
mächtigte &#x017F;ich ihrer Seele; Blä&#x017F;&#x017F;e wech&#x017F;elte auf ihrem<lb/>
Antlitz mit Purpurröthe.</p><lb/>
            <p>In der frohen Verwirrung war Niemand auf die<lb/>
Verwandlung aufmerk&#x017F;am, die mit der Jungfrau vorge¬<lb/>
gangen war. Die Knechte trugen die zubereiteten Spei¬<lb/>
&#x017F;en herbei; und die Argo&#x017F;chiffer, die &#x017F;ich vom Schweiße<lb/>
der Ruderarbeit im warmen Bade gereinigt hatten, lab¬<lb/>
ten &#x017F;ich, fröhlich zu Ti&#x017F;che &#x017F;itzend, an Spei&#x017F;e und Trank.<lb/>
Ueber dem Mahle erzählten dem Aeetes &#x017F;eine Enkel das<lb/>
Schick&#x017F;al, das &#x017F;ie unterwegs betroffen hatte, und nun<lb/>
fragte er &#x017F;ie auch lei&#x017F;e nach den Fremdlingen. &#x201E;Ich will<lb/>
es dir nicht bergen, Großvater,&#x201C; flü&#x017F;terte ihm Argos zu,<lb/>
&#x201E;die&#x017F;e Männer kommen, das goldene Vließ un&#x017F;ers Vaters<lb/>
Phrixus von dir zu erbitten. Ein König, der &#x017F;ie gern<lb/>
aus ihrem Vaterland und ihrem Eigenthum vertreiben<lb/>
möchte, hat ihnen die&#x017F;en gefährlichen Auftrag ertheilt.<lb/>
Er hofft, &#x017F;ie werden dem Zorne Jupiters und der Rache<lb/>
des Phrixus nicht entgehen, bevor &#x017F;ie mit dem Vließ in<lb/>
ihre Heimat zurückkommen. Ihr Schiff hat ihnen Pallas<lb/>
(Minerva) bauen helfen, kein &#x017F;olches, wie wir Kolchier<lb/>
&#x017F;ie gebrauchen, von denen wir, deine Enkel, freilich das<lb/>
&#x017F;chlechte&#x017F;te bekommen haben, denn im er&#x017F;ten Wind&#x017F;töße<lb/>
ging es zu Scheitern. Nein, die&#x017F;e Fremdlinge haben ein<lb/>
Schiff, &#x017F;o fe&#x017F;t gezimmert, daß alle Stürme vergebens da¬<lb/>
gegen ankämpfen, und &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;itzen unaufhörlich an dem<lb/>
Ruder. Die tapfer&#x017F;ten Helden Griechenlands haben &#x017F;ich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[123/0149] Bruſt wie eine Flamme brannte. Wie ein ſchwer Er¬ kranktes mußte ſie einmal über das andere hoch aufath¬ men; von Zeit zu Zeit warf ſie heimliche Blicke auf den herrlichen Helden Jaſon; Alles andere war aus ihrem Gedächtniſſe geſchwunden; ein einziger ſüßer Kummer be¬ mächtigte ſich ihrer Seele; Bläſſe wechſelte auf ihrem Antlitz mit Purpurröthe. In der frohen Verwirrung war Niemand auf die Verwandlung aufmerkſam, die mit der Jungfrau vorge¬ gangen war. Die Knechte trugen die zubereiteten Spei¬ ſen herbei; und die Argoſchiffer, die ſich vom Schweiße der Ruderarbeit im warmen Bade gereinigt hatten, lab¬ ten ſich, fröhlich zu Tiſche ſitzend, an Speiſe und Trank. Ueber dem Mahle erzählten dem Aeetes ſeine Enkel das Schickſal, das ſie unterwegs betroffen hatte, und nun fragte er ſie auch leiſe nach den Fremdlingen. „Ich will es dir nicht bergen, Großvater,“ flüſterte ihm Argos zu, „dieſe Männer kommen, das goldene Vließ unſers Vaters Phrixus von dir zu erbitten. Ein König, der ſie gern aus ihrem Vaterland und ihrem Eigenthum vertreiben möchte, hat ihnen dieſen gefährlichen Auftrag ertheilt. Er hofft, ſie werden dem Zorne Jupiters und der Rache des Phrixus nicht entgehen, bevor ſie mit dem Vließ in ihre Heimat zurückkommen. Ihr Schiff hat ihnen Pallas (Minerva) bauen helfen, kein ſolches, wie wir Kolchier ſie gebrauchen, von denen wir, deine Enkel, freilich das ſchlechteſte bekommen haben, denn im erſten Windſtöße ging es zu Scheitern. Nein, dieſe Fremdlinge haben ein Schiff, ſo feſt gezimmert, daß alle Stürme vergebens da¬ gegen ankämpfen, und ſie ſelbſt ſitzen unaufhörlich an dem Ruder. Die tapferſten Helden Griechenlands haben ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/149
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/149>, abgerufen am 19.04.2024.