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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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ihr nicht. Da verwandelte sich ihre Liebe in Haß: sie
sann auf Lüge, ihn zu verderben, erschien vor ihrem Ge¬
mahl und sprach zu ihm: "Erschlage den Bellerophontes,
o Gemahl, wenn dich nicht selbst unrühmlicher Tod treffen
soll, denn der Treulose hat mir seine strafbare Neigung
bekannt, und mich zur Untreue gegen dich verleiten wol¬
len." Als der König solches vernommen, bemächtigte
sich seiner ein blinder Eifer. Weil er jedoch den ver¬
ständigen Jüngling so lieb gehabt hatte, vermied er den
Gedanken, ihn zu ermorden, denn er machte ihm Grauen.
Aber dennoch sann er auf sein Verderben. Er schickte
daher den Unschuldigen zu seinem Schwiegervater
Jobates, dem Könige von Lycien, und gab ihm ein
zusammengefaltetes Täfelchen mit, das er dem Letzteren
bei seiner Ankunft in Lycien, gleichsam als einen Em¬
pfehlungsbrief, vorweisen sollte; auf dieses waren gewisse
Zeichen eingeritzt, die den Wink enthielten, den Ueber¬
bringer hinrichten zu lassen. Arglos wandelte Bellero¬
phontes dahin, aber die allwaltenden Götter nahmen ihn
in ihren Schutz. Als er, über's Meer nach Asien ge¬
fahren, am schönen Strome Xanthus angekommen war
und also Lycien erreicht hatte, trat er vor den König
Jobates. Dieser aber, ein gütiger, gastfreundlicher Fürst
nach der alten Sitte, nahm den edeln Fremdling auf,
ohne zu fragen, wer er sey, noch woher er komme. Seine
würdige Gestalt und sein fürstliches Benehmen genügten
ihm zur Ueberzeugung, daß er keinen gemeinen Gast beher¬
berge. Er ehrte den Jüngling auf alle Weise, gab ihm
alle Tage ein neues Fest und brachte den Göttern von
Tag zu Tage ein neues Stieropfer. Neun Tage waren
so vorübergegangen, und erst als die zehnte Morgen¬

ihr nicht. Da verwandelte ſich ihre Liebe in Haß: ſie
ſann auf Lüge, ihn zu verderben, erſchien vor ihrem Ge¬
mahl und ſprach zu ihm: „Erſchlage den Bellerophontes,
o Gemahl, wenn dich nicht ſelbſt unrühmlicher Tod treffen
ſoll, denn der Treuloſe hat mir ſeine ſtrafbare Neigung
bekannt, und mich zur Untreue gegen dich verleiten wol¬
len.“ Als der König ſolches vernommen, bemächtigte
ſich ſeiner ein blinder Eifer. Weil er jedoch den ver¬
ſtändigen Jüngling ſo lieb gehabt hatte, vermied er den
Gedanken, ihn zu ermorden, denn er machte ihm Grauen.
Aber dennoch ſann er auf ſein Verderben. Er ſchickte
daher den Unſchuldigen zu ſeinem Schwiegervater
Jobates, dem Könige von Lycien, und gab ihm ein
zuſammengefaltetes Täfelchen mit, das er dem Letzteren
bei ſeiner Ankunft in Lycien, gleichſam als einen Em¬
pfehlungsbrief, vorweiſen ſollte; auf dieſes waren gewiſſe
Zeichen eingeritzt, die den Wink enthielten, den Ueber¬
bringer hinrichten zu laſſen. Arglos wandelte Bellero¬
phontes dahin, aber die allwaltenden Götter nahmen ihn
in ihren Schutz. Als er, über's Meer nach Aſien ge¬
fahren, am ſchönen Strome Xanthus angekommen war
und alſo Lycien erreicht hatte, trat er vor den König
Jobates. Dieſer aber, ein gütiger, gaſtfreundlicher Fürſt
nach der alten Sitte, nahm den edeln Fremdling auf,
ohne zu fragen, wer er ſey, noch woher er komme. Seine
würdige Geſtalt und ſein fürſtliches Benehmen genügten
ihm zur Ueberzeugung, daß er keinen gemeinen Gaſt beher¬
berge. Er ehrte den Jüngling auf alle Weiſe, gab ihm
alle Tage ein neues Feſt und brachte den Göttern von
Tag zu Tage ein neues Stieropfer. Neun Tage waren
ſo vorübergegangen, und erſt als die zehnte Morgen¬

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[272/0298] ihr nicht. Da verwandelte ſich ihre Liebe in Haß: ſie ſann auf Lüge, ihn zu verderben, erſchien vor ihrem Ge¬ mahl und ſprach zu ihm: „Erſchlage den Bellerophontes, o Gemahl, wenn dich nicht ſelbſt unrühmlicher Tod treffen ſoll, denn der Treuloſe hat mir ſeine ſtrafbare Neigung bekannt, und mich zur Untreue gegen dich verleiten wol¬ len.“ Als der König ſolches vernommen, bemächtigte ſich ſeiner ein blinder Eifer. Weil er jedoch den ver¬ ſtändigen Jüngling ſo lieb gehabt hatte, vermied er den Gedanken, ihn zu ermorden, denn er machte ihm Grauen. Aber dennoch ſann er auf ſein Verderben. Er ſchickte daher den Unſchuldigen zu ſeinem Schwiegervater Jobates, dem Könige von Lycien, und gab ihm ein zuſammengefaltetes Täfelchen mit, das er dem Letzteren bei ſeiner Ankunft in Lycien, gleichſam als einen Em¬ pfehlungsbrief, vorweiſen ſollte; auf dieſes waren gewiſſe Zeichen eingeritzt, die den Wink enthielten, den Ueber¬ bringer hinrichten zu laſſen. Arglos wandelte Bellero¬ phontes dahin, aber die allwaltenden Götter nahmen ihn in ihren Schutz. Als er, über's Meer nach Aſien ge¬ fahren, am ſchönen Strome Xanthus angekommen war und alſo Lycien erreicht hatte, trat er vor den König Jobates. Dieſer aber, ein gütiger, gaſtfreundlicher Fürſt nach der alten Sitte, nahm den edeln Fremdling auf, ohne zu fragen, wer er ſey, noch woher er komme. Seine würdige Geſtalt und ſein fürſtliches Benehmen genügten ihm zur Ueberzeugung, daß er keinen gemeinen Gaſt beher¬ berge. Er ehrte den Jüngling auf alle Weiſe, gab ihm alle Tage ein neues Feſt und brachte den Göttern von Tag zu Tage ein neues Stieropfer. Neun Tage waren ſo vorübergegangen, und erſt als die zehnte Morgen¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/298>, abgerufen am 29.03.2024.