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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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mit durchstochenen und zusammengebundenen Füßen in
das wilde Gebirge Cithäron werfen. Aber der Hirte, wel¬
cher den grausamen Auftrag erhalten hatte, empfand Mit¬
leid mit dem unschuldigen Kinde, und übergab es einem
andern Hirten, der in demselben Gebirge die Herden des
Königes Polybus von Korinth weidete. Dann kehrte er
wieder heim, und stellte sich vor dem Könige und seiner
Gemahlin Jokaste, als hätte er den Auftrag erfüllt. Diese
glaubten das Kind verschmachtet oder von wilden Thie¬
ren zerrissen und die Erfüllung des Orakelspruches dadurch
unmöglich gemacht. Sie beruhigten ihr Gewissen mit dem
Gedanken, daß sie durch die Aufopferung des Kindes das¬
selbe vor Vatermord behütet hätten und lebten jetzt erst
mit erleichtertem Herzen.

Der Hirte des Polybus löste indessen dem Kinde,
das ihm, ohne daß er es wußte, woher es kam, übergeben
worden war, die ganz durchbohrten Fersen der Füße und
nannte ihn von seinen Wunden Oedipus, das heißt
Schwellfuß. So brachte er ihn nach Korinth zu seinem
Herrn, dem Könige Polybus. Dieser erbarmte sich des
Findlings, übergab ihn seiner Gemahlin Merope, und
zog ihn als seinen eigenen Sohn auf, für den er auch am
Hofe und im ganzen Lande galt. Zum Jünglinge heran¬
gereift, wurde er dort stets für den höchsten Bürger ge¬
halten und lebte selbst in der glücklichen Ueberzeugung,
Sohn und Erbe des Königes Polybus zu seyn, der keine
andere Kinder hatte. Da ereignete sich ein Zufall, der
ihn aus dieser Zuversicht plötzlich in den Abgrund der
Zweifel stürzte. Ein Korinther, der ihm schon längere
Zeit aus Neid abhold war, rief an einem Festmahle,
von Wein überfüllt, dem ihm gegenübergelagerten Oedipus

mit durchſtochenen und zuſammengebundenen Füßen in
das wilde Gebirge Cithäron werfen. Aber der Hirte, wel¬
cher den grauſamen Auftrag erhalten hatte, empfand Mit¬
leid mit dem unſchuldigen Kinde, und übergab es einem
andern Hirten, der in demſelben Gebirge die Herden des
Königes Polybus von Korinth weidete. Dann kehrte er
wieder heim, und ſtellte ſich vor dem Könige und ſeiner
Gemahlin Jokaſte, als hätte er den Auftrag erfüllt. Dieſe
glaubten das Kind verſchmachtet oder von wilden Thie¬
ren zerriſſen und die Erfüllung des Orakelſpruches dadurch
unmöglich gemacht. Sie beruhigten ihr Gewiſſen mit dem
Gedanken, daß ſie durch die Aufopferung des Kindes daſ¬
ſelbe vor Vatermord behütet hätten und lebten jetzt erſt
mit erleichtertem Herzen.

Der Hirte des Polybus löste indeſſen dem Kinde,
das ihm, ohne daß er es wußte, woher es kam, übergeben
worden war, die ganz durchbohrten Ferſen der Füße und
nannte ihn von ſeinen Wunden Oedipus, das heißt
Schwellfuß. So brachte er ihn nach Korinth zu ſeinem
Herrn, dem Könige Polybus. Dieſer erbarmte ſich des
Findlings, übergab ihn ſeiner Gemahlin Merope, und
zog ihn als ſeinen eigenen Sohn auf, für den er auch am
Hofe und im ganzen Lande galt. Zum Jünglinge heran¬
gereift, wurde er dort ſtets für den höchſten Bürger ge¬
halten und lebte ſelbſt in der glücklichen Ueberzeugung,
Sohn und Erbe des Königes Polybus zu ſeyn, der keine
andere Kinder hatte. Da ereignete ſich ein Zufall, der
ihn aus dieſer Zuverſicht plötzlich in den Abgrund der
Zweifel ſtürzte. Ein Korinther, der ihm ſchon längere
Zeit aus Neid abhold war, rief an einem Feſtmahle,
von Wein überfüllt, dem ihm gegenübergelagerten Oedipus

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[313/0339] mit durchſtochenen und zuſammengebundenen Füßen in das wilde Gebirge Cithäron werfen. Aber der Hirte, wel¬ cher den grauſamen Auftrag erhalten hatte, empfand Mit¬ leid mit dem unſchuldigen Kinde, und übergab es einem andern Hirten, der in demſelben Gebirge die Herden des Königes Polybus von Korinth weidete. Dann kehrte er wieder heim, und ſtellte ſich vor dem Könige und ſeiner Gemahlin Jokaſte, als hätte er den Auftrag erfüllt. Dieſe glaubten das Kind verſchmachtet oder von wilden Thie¬ ren zerriſſen und die Erfüllung des Orakelſpruches dadurch unmöglich gemacht. Sie beruhigten ihr Gewiſſen mit dem Gedanken, daß ſie durch die Aufopferung des Kindes daſ¬ ſelbe vor Vatermord behütet hätten und lebten jetzt erſt mit erleichtertem Herzen. Der Hirte des Polybus löste indeſſen dem Kinde, das ihm, ohne daß er es wußte, woher es kam, übergeben worden war, die ganz durchbohrten Ferſen der Füße und nannte ihn von ſeinen Wunden Oedipus, das heißt Schwellfuß. So brachte er ihn nach Korinth zu ſeinem Herrn, dem Könige Polybus. Dieſer erbarmte ſich des Findlings, übergab ihn ſeiner Gemahlin Merope, und zog ihn als ſeinen eigenen Sohn auf, für den er auch am Hofe und im ganzen Lande galt. Zum Jünglinge heran¬ gereift, wurde er dort ſtets für den höchſten Bürger ge¬ halten und lebte ſelbſt in der glücklichen Ueberzeugung, Sohn und Erbe des Königes Polybus zu ſeyn, der keine andere Kinder hatte. Da ereignete ſich ein Zufall, der ihn aus dieſer Zuverſicht plötzlich in den Abgrund der Zweifel ſtürzte. Ein Korinther, der ihm ſchon längere Zeit aus Neid abhold war, rief an einem Feſtmahle, von Wein überfüllt, dem ihm gegenübergelagerten Oedipus

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/339>, abgerufen am 18.04.2024.