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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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sinne geschlagen, ein verruchtes Ehebündniß mit seiner
Mutter Merope eingehen. Von Delphi aufbrechend, schlug
er den Weg nach Böotien ein. Er befand sich noch auf
der Straße zwischen Delphi und der Stadt Daulia, als
er, an einen Kreuzweg gelangt, einen Wagen sich entge¬
genkommen sah, auf dem ein ihm unbekannter alter Mann
mit einem Herolde, einem Wagenlenker und zwei Die¬
nern saß. Der Rosselenker, zusammt dem Alten, trieb
den Fußgänger, der ihnen in den schmalen Pfad gekom¬
men war, ungestüm aus dem Wege. Oedipus, von Natur
jähzornig, versetzte dem trotzigen Wagenführer einen Schlag.
Der Greis aber, wie er den Jüngling so keck auf den
Wagen anschreiten sah, zielte scharf mit seinem doppelten
Stachelstabe, den er zur Hand hatte, und versetzte ihm
einen schweren Streich auf den Scheitel. Jetzt war
Oedipus außer sich gebracht: zum erstenmal bediente er
sich der Heldenstärke, die ihm die Götter verliehen hatten,
erhub seinen Reisestock und stieß den Alten, daß er sich schnell
rücklings vom Wagensitze herabwälzte. Ein Handgemenge
entstand; Oedipus mußte sich gegen ihrer Drei seines Le¬
bens erwehren; aber seine Jugendstärke siegte, er er¬
schlug sie alle, bis auf Einen, der entrann, und zog
davon.

Ihm kam keine Ahnung in seine Seele, daß er
etwas Anderes gethan, als aus Nothwehr sich an einem
gemeinen Phocier oder Böotier mit seinen Knechten,
die ihm sammt demselben ans Leben wollten, gerächt habe.
Denn der Greis, der ihm begegnet, trug kein Zeichen hö¬
herer Würde an sich. Aber der Gemordete war Laius,
König von Theben, der Vater des Mörders gewesen,
der auf einer Reise nach dem pythischen Orakel begriffen

ſinne geſchlagen, ein verruchtes Ehebündniß mit ſeiner
Mutter Merope eingehen. Von Delphi aufbrechend, ſchlug
er den Weg nach Böotien ein. Er befand ſich noch auf
der Straße zwiſchen Delphi und der Stadt Daulia, als
er, an einen Kreuzweg gelangt, einen Wagen ſich entge¬
genkommen ſah, auf dem ein ihm unbekannter alter Mann
mit einem Herolde, einem Wagenlenker und zwei Die¬
nern ſaß. Der Roſſelenker, zuſammt dem Alten, trieb
den Fußgänger, der ihnen in den ſchmalen Pfad gekom¬
men war, ungeſtüm aus dem Wege. Oedipus, von Natur
jähzornig, verſetzte dem trotzigen Wagenführer einen Schlag.
Der Greis aber, wie er den Jüngling ſo keck auf den
Wagen anſchreiten ſah, zielte ſcharf mit ſeinem doppelten
Stachelſtabe, den er zur Hand hatte, und verſetzte ihm
einen ſchweren Streich auf den Scheitel. Jetzt war
Oedipus außer ſich gebracht: zum erſtenmal bediente er
ſich der Heldenſtärke, die ihm die Götter verliehen hatten,
erhub ſeinen Reiſeſtock und ſtieß den Alten, daß er ſich ſchnell
rücklings vom Wagenſitze herabwälzte. Ein Handgemenge
entſtand; Oedipus mußte ſich gegen ihrer Drei ſeines Le¬
bens erwehren; aber ſeine Jugendſtärke ſiegte, er er¬
ſchlug ſie alle, bis auf Einen, der entrann, und zog
davon.

Ihm kam keine Ahnung in ſeine Seele, daß er
etwas Anderes gethan, als aus Nothwehr ſich an einem
gemeinen Phocier oder Böotier mit ſeinen Knechten,
die ihm ſammt demſelben ans Leben wollten, gerächt habe.
Denn der Greis, der ihm begegnet, trug kein Zeichen hö¬
herer Würde an ſich. Aber der Gemordete war Laïus,
König von Theben, der Vater des Mörders geweſen,
der auf einer Reiſe nach dem pythiſchen Orakel begriffen

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[315/0341] ſinne geſchlagen, ein verruchtes Ehebündniß mit ſeiner Mutter Merope eingehen. Von Delphi aufbrechend, ſchlug er den Weg nach Böotien ein. Er befand ſich noch auf der Straße zwiſchen Delphi und der Stadt Daulia, als er, an einen Kreuzweg gelangt, einen Wagen ſich entge¬ genkommen ſah, auf dem ein ihm unbekannter alter Mann mit einem Herolde, einem Wagenlenker und zwei Die¬ nern ſaß. Der Roſſelenker, zuſammt dem Alten, trieb den Fußgänger, der ihnen in den ſchmalen Pfad gekom¬ men war, ungeſtüm aus dem Wege. Oedipus, von Natur jähzornig, verſetzte dem trotzigen Wagenführer einen Schlag. Der Greis aber, wie er den Jüngling ſo keck auf den Wagen anſchreiten ſah, zielte ſcharf mit ſeinem doppelten Stachelſtabe, den er zur Hand hatte, und verſetzte ihm einen ſchweren Streich auf den Scheitel. Jetzt war Oedipus außer ſich gebracht: zum erſtenmal bediente er ſich der Heldenſtärke, die ihm die Götter verliehen hatten, erhub ſeinen Reiſeſtock und ſtieß den Alten, daß er ſich ſchnell rücklings vom Wagenſitze herabwälzte. Ein Handgemenge entſtand; Oedipus mußte ſich gegen ihrer Drei ſeines Le¬ bens erwehren; aber ſeine Jugendſtärke ſiegte, er er¬ ſchlug ſie alle, bis auf Einen, der entrann, und zog davon. Ihm kam keine Ahnung in ſeine Seele, daß er etwas Anderes gethan, als aus Nothwehr ſich an einem gemeinen Phocier oder Böotier mit ſeinen Knechten, die ihm ſammt demſelben ans Leben wollten, gerächt habe. Denn der Greis, der ihm begegnet, trug kein Zeichen hö¬ herer Würde an ſich. Aber der Gemordete war Laïus, König von Theben, der Vater des Mörders geweſen, der auf einer Reiſe nach dem pythiſchen Orakel begriffen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/341>, abgerufen am 19.04.2024.