Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Mutter war, davon. Jokaste gebar ihm nach und nach
vier Kinder, zuerst die männlichen Zwillinge Eteokles
und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die
jüngere Ismene. Aber diese vier waren zugleich seine
Kinder und seine Geschwister.


Die Entdeckung .

Lange Zeit schlief das grauenhafte Geheimniß und
Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬
rechter König, herrschte glücklich und geliebt an Jokaste's
Seite über Thebe. Endlich aber sandten die Götter eine
Pest in das Land, die unter dem Volke grausam zu wü¬
then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten
wollte. Die Thebaner suchten gegen das fürchterliche
Uebel, in welchem sie eine von den Göttern gesandte
Geissel erblickten, Schutz bei ihrem Herrscher, den sie
für einen Günstling der Götter hielten. Männer und
Frauen, Greise und Kinder, die Priester mit Oelzweigen
an ihrer Spitze, erschienen vor dem königlichen Pallaste,
setzten sich um und auf die Stufen des Altars, der vor
demselben stand, und harrten auf die Erscheinung ihres
Gebieters. Als Oedipus durch den Zusammenlauf heraus¬
gerufen aus seiner Königsburg trat, und nach der Ursache
fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und
Klagelaut erfüllt sey, antwortete ihm im Namen aller
der älteste Priester: "Du siehest selbst, o Herr, welches
Elend auf uns lastet: Triften und Felder versengt uner¬
trägliche Hitze; in unsern Häusern wüthet die verzehrende
Seuche, umsonst strebt die Stadt aus den blutigen Wo¬

Mutter war, davon. Jokaſte gebar ihm nach und nach
vier Kinder, zuerſt die männlichen Zwillinge Eteokles
und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die
jüngere Iſmene. Aber dieſe vier waren zugleich ſeine
Kinder und ſeine Geſchwiſter.


Die Entdeckung .

Lange Zeit ſchlief das grauenhafte Geheimniß und
Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬
rechter König, herrſchte glücklich und geliebt an Jokaſte's
Seite über Thebe. Endlich aber ſandten die Götter eine
Peſt in das Land, die unter dem Volke grauſam zu wü¬
then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten
wollte. Die Thebaner ſuchten gegen das fürchterliche
Uebel, in welchem ſie eine von den Göttern geſandte
Geiſſel erblickten, Schutz bei ihrem Herrſcher, den ſie
für einen Günſtling der Götter hielten. Männer und
Frauen, Greiſe und Kinder, die Prieſter mit Oelzweigen
an ihrer Spitze, erſchienen vor dem königlichen Pallaſte,
ſetzten ſich um und auf die Stufen des Altars, der vor
demſelben ſtand, und harrten auf die Erſcheinung ihres
Gebieters. Als Oedipus durch den Zuſammenlauf heraus¬
gerufen aus ſeiner Königsburg trat, und nach der Urſache
fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und
Klagelaut erfüllt ſey, antwortete ihm im Namen aller
der älteſte Prieſter: „Du ſieheſt ſelbſt, o Herr, welches
Elend auf uns laſtet: Triften und Felder verſengt uner¬
trägliche Hitze; in unſern Häuſern wüthet die verzehrende
Seuche, umſonſt ſtrebt die Stadt aus den blutigen Wo¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0344" n="318"/>
Mutter war, davon. Joka&#x017F;te gebar ihm nach und nach<lb/>
vier Kinder, zuer&#x017F;t die männlichen Zwillinge Eteokles<lb/>
und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die<lb/>
jüngere I&#x017F;mene. Aber die&#x017F;e vier waren zugleich &#x017F;eine<lb/>
Kinder und &#x017F;eine Ge&#x017F;chwi&#x017F;ter.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#fr #g">Die Entdeckung</hi> <hi rendition="#g">.</hi><lb/>
            </head>
            <p>Lange Zeit &#x017F;chlief das grauenhafte Geheimniß und<lb/>
Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬<lb/>
rechter König, herr&#x017F;chte glücklich und geliebt an Joka&#x017F;te's<lb/>
Seite über Thebe. Endlich aber &#x017F;andten die Götter eine<lb/>
Pe&#x017F;t in das Land, die unter dem Volke grau&#x017F;am zu wü¬<lb/>
then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten<lb/>
wollte. Die Thebaner &#x017F;uchten gegen das fürchterliche<lb/>
Uebel, in welchem &#x017F;ie eine von den Göttern ge&#x017F;andte<lb/>
Gei&#x017F;&#x017F;el erblickten, Schutz bei ihrem Herr&#x017F;cher, den &#x017F;ie<lb/>
für einen Gün&#x017F;tling der Götter hielten. Männer und<lb/>
Frauen, Grei&#x017F;e und Kinder, die Prie&#x017F;ter mit Oelzweigen<lb/>
an ihrer Spitze, er&#x017F;chienen vor dem königlichen Palla&#x017F;te,<lb/>
&#x017F;etzten &#x017F;ich um und auf die Stufen des Altars, der vor<lb/>
dem&#x017F;elben &#x017F;tand, und harrten auf die Er&#x017F;cheinung ihres<lb/>
Gebieters. Als Oedipus durch den Zu&#x017F;ammenlauf heraus¬<lb/>
gerufen aus &#x017F;einer Königsburg trat, und nach der Ur&#x017F;ache<lb/>
fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und<lb/>
Klagelaut erfüllt &#x017F;ey, antwortete ihm im Namen aller<lb/>
der älte&#x017F;te Prie&#x017F;ter: &#x201E;Du &#x017F;iehe&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t, o Herr, welches<lb/>
Elend auf uns la&#x017F;tet: Triften und Felder ver&#x017F;engt uner¬<lb/>
trägliche Hitze; in un&#x017F;ern Häu&#x017F;ern wüthet die verzehrende<lb/>
Seuche, um&#x017F;on&#x017F;t &#x017F;trebt die Stadt aus den blutigen Wo¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[318/0344] Mutter war, davon. Jokaſte gebar ihm nach und nach vier Kinder, zuerſt die männlichen Zwillinge Eteokles und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die jüngere Iſmene. Aber dieſe vier waren zugleich ſeine Kinder und ſeine Geſchwiſter. Die Entdeckung . Lange Zeit ſchlief das grauenhafte Geheimniß und Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬ rechter König, herrſchte glücklich und geliebt an Jokaſte's Seite über Thebe. Endlich aber ſandten die Götter eine Peſt in das Land, die unter dem Volke grauſam zu wü¬ then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten wollte. Die Thebaner ſuchten gegen das fürchterliche Uebel, in welchem ſie eine von den Göttern geſandte Geiſſel erblickten, Schutz bei ihrem Herrſcher, den ſie für einen Günſtling der Götter hielten. Männer und Frauen, Greiſe und Kinder, die Prieſter mit Oelzweigen an ihrer Spitze, erſchienen vor dem königlichen Pallaſte, ſetzten ſich um und auf die Stufen des Altars, der vor demſelben ſtand, und harrten auf die Erſcheinung ihres Gebieters. Als Oedipus durch den Zuſammenlauf heraus¬ gerufen aus ſeiner Königsburg trat, und nach der Urſache fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und Klagelaut erfüllt ſey, antwortete ihm im Namen aller der älteſte Prieſter: „Du ſieheſt ſelbſt, o Herr, welches Elend auf uns laſtet: Triften und Felder verſengt uner¬ trägliche Hitze; in unſern Häuſern wüthet die verzehrende Seuche, umſonſt ſtrebt die Stadt aus den blutigen Wo¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/344
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/344>, abgerufen am 18.04.2024.