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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Die Sieben gegen Thebe.
Polynices und Tydeus bei Adrast.

Adrastus, der Sohn des Talaus, König von Argos,
hatte fünf Kinder, darunter zwei schöne Töchter, Argia
und Deipyle. Ueber diese war ihm ein seltsamer Orakel¬
spruch geworden: er werde dieselben dereinst einem Löwen
und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens besann
sich der König, welchen Sinn dieses dunkle Wort haben könne,
und als die Mägdlein herangewachsen waren, gedachte
er sie so zu vermählen, daß die ängstliche Wahrsagung auf
keine Weise erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort
sollte nicht zu Schanden werden. Von zweierlei Seiten
kamen zwei Flüchtlinge durch Argos Thore. Aus Thebe
war Polynices von seinem Bruder Eteokles verjagt wor¬
den ; Tydeus, des Oeneus Sohn, war aus Kalydon geflohen,
wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht ab¬
sichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen sich vor
dem Königspallaste von Argos. In der Dunkelheit der
Nacht hielten sie sich für Feinde und geriethen mit ein¬
ander ins Handgemenge. Adrastus hörte das Waffenge¬
tümmel unter seiner Burg, stieg bei Fackelschein von ihr
herab und trennte die Streitenden. Als nun zu seinen
beiden Seiten einer der Heldensöhne stand, die noch eben
mit einander gekämpft hatten, so erstaunte der König wie
vor einem plötzlichen Gesichte, denn von dem Schilde des

Die Sieben gegen Thebe.
Polynices und Tydeus bei Adraſt.

Adraſtus, der Sohn des Talaus, König von Argos,
hatte fünf Kinder, darunter zwei ſchöne Töchter, Argia
und Deipyle. Ueber dieſe war ihm ein ſeltſamer Orakel¬
ſpruch geworden: er werde dieſelben dereinſt einem Löwen
und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens beſann
ſich der König, welchen Sinn dieſes dunkle Wort haben könne,
und als die Mägdlein herangewachſen waren, gedachte
er ſie ſo zu vermählen, daß die ängſtliche Wahrſagung auf
keine Weiſe erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort
ſollte nicht zu Schanden werden. Von zweierlei Seiten
kamen zwei Flüchtlinge durch Argos Thore. Aus Thebe
war Polynices von ſeinem Bruder Eteokles verjagt wor¬
den ; Tydeus, des Oeneus Sohn, war aus Kalydon geflohen,
wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht ab¬
ſichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen ſich vor
dem Königspallaſte von Argos. In der Dunkelheit der
Nacht hielten ſie ſich für Feinde und geriethen mit ein¬
ander ins Handgemenge. Adraſtus hörte das Waffenge¬
tümmel unter ſeiner Burg, ſtieg bei Fackelſchein von ihr
herab und trennte die Streitenden. Als nun zu ſeinen
beiden Seiten einer der Heldenſöhne ſtand, die noch eben
mit einander gekämpft hatten, ſo erſtaunte der König wie
vor einem plötzlichen Geſichte, denn von dem Schilde des

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[[345]/0371] Die Sieben gegen Thebe. Polynices und Tydeus bei Adraſt. Adraſtus, der Sohn des Talaus, König von Argos, hatte fünf Kinder, darunter zwei ſchöne Töchter, Argia und Deipyle. Ueber dieſe war ihm ein ſeltſamer Orakel¬ ſpruch geworden: er werde dieſelben dereinſt einem Löwen und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens beſann ſich der König, welchen Sinn dieſes dunkle Wort haben könne, und als die Mägdlein herangewachſen waren, gedachte er ſie ſo zu vermählen, daß die ängſtliche Wahrſagung auf keine Weiſe erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort ſollte nicht zu Schanden werden. Von zweierlei Seiten kamen zwei Flüchtlinge durch Argos Thore. Aus Thebe war Polynices von ſeinem Bruder Eteokles verjagt wor¬ den ; Tydeus, des Oeneus Sohn, war aus Kalydon geflohen, wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht ab¬ ſichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen ſich vor dem Königspallaſte von Argos. In der Dunkelheit der Nacht hielten ſie ſich für Feinde und geriethen mit ein¬ ander ins Handgemenge. Adraſtus hörte das Waffenge¬ tümmel unter ſeiner Burg, ſtieg bei Fackelſchein von ihr herab und trennte die Streitenden. Als nun zu ſeinen beiden Seiten einer der Heldenſöhne ſtand, die noch eben mit einander gekämpft hatten, ſo erſtaunte der König wie vor einem plötzlichen Geſichte, denn von dem Schilde des

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. [345]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/371>, abgerufen am 29.03.2024.