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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Kreise umhersandte, ward ihr bald das entsetzliche Schick¬
sal klar, das ihr Pflegekind getroffen hatte, während sie
dem Heere der Argiver den frommen Liebesdienst leistete.
Denn nicht weit von dem Baume lag eine gräßliche
Schlange geringelt, ihren Kopf auf den schwellenden
Bauch zurückgelegt in träger Ruhe das eben abgehaltene
Mahl verdauend. Der unseligen Pflegemutter sträubte sich
das Haar und ihr Jammerschrei erfüllte die Lüfte. Auf
dieses waren auch die Helden herbeigeeilt; der erste, der
den Drachen erblickte, war Hippomedon; ohne zu säumen,
riß er ein Felsstück aus dem Boden und schleuderte es auf
das Ungethüm; aber sein gepanzerter Rücken schüttelte
den Wurf ab, als wäre es eine Handvoll Erde; da
sandte Hippomedon seinem ersten Wurfe den Speer nach
und dieser verfehlte sein Ziel nicht; er fuhr der Schlange
in den Rachen, durchs hervorspritzende Gehirn, und die
Spitze drang heraus zum Kamme. Das Unthier drehte
sich wie ein Kreisel mit dem langvorragenden Speer in
der Wunde, und hauchte endlich zischend seinen Athem aus.

Als die Schlange erlegt war, getraute sich erst die
arme Pflegemutter der Spur ihres Kindes nachzugehen,
sie fand weithin die Gräser vom Blute geröthet und
endlich fernab von dem Ort ihrer Ruhe das nackte Ge¬
bein des Kindleins. Die Verzweifelnde sammelte es in
ihren Schooß und übergab es den Helden, die mit ihrem
ganzen Heere dem unglücklichen Knaben, der ihnen zum
Opfer gefallen war, nachdem sie seine Ueberreste feier¬
lich bestattet, herrliche Leichenspiele bereiteten, ihm zu
Ehren die Nemeischen heiligen Kampfspiele stifteten, und
ihn unter dem Namen Archemoros, d. h. der Früh¬
vollendete, zuerst als Halbgott verehrten.

Kreiſe umherſandte, ward ihr bald das entſetzliche Schick¬
ſal klar, das ihr Pflegekind getroffen hatte, während ſie
dem Heere der Argiver den frommen Liebesdienſt leiſtete.
Denn nicht weit von dem Baume lag eine gräßliche
Schlange geringelt, ihren Kopf auf den ſchwellenden
Bauch zurückgelegt in träger Ruhe das eben abgehaltene
Mahl verdauend. Der unſeligen Pflegemutter ſträubte ſich
das Haar und ihr Jammerſchrei erfüllte die Lüfte. Auf
dieſes waren auch die Helden herbeigeeilt; der erſte, der
den Drachen erblickte, war Hippomedon; ohne zu ſäumen,
riß er ein Felsſtück aus dem Boden und ſchleuderte es auf
das Ungethüm; aber ſein gepanzerter Rücken ſchüttelte
den Wurf ab, als wäre es eine Handvoll Erde; da
ſandte Hippomedon ſeinem erſten Wurfe den Speer nach
und dieſer verfehlte ſein Ziel nicht; er fuhr der Schlange
in den Rachen, durchs hervorſpritzende Gehirn, und die
Spitze drang heraus zum Kamme. Das Unthier drehte
ſich wie ein Kreiſel mit dem langvorragenden Speer in
der Wunde, und hauchte endlich ziſchend ſeinen Athem aus.

Als die Schlange erlegt war, getraute ſich erſt die
arme Pflegemutter der Spur ihres Kindes nachzugehen,
ſie fand weithin die Gräſer vom Blute geröthet und
endlich fernab von dem Ort ihrer Ruhe das nackte Ge¬
bein des Kindleins. Die Verzweifelnde ſammelte es in
ihren Schooß und übergab es den Helden, die mit ihrem
ganzen Heere dem unglücklichen Knaben, der ihnen zum
Opfer gefallen war, nachdem ſie ſeine Ueberreſte feier¬
lich beſtattet, herrliche Leichenſpiele bereiteten, ihm zu
Ehren die Nemeiſchen heiligen Kampfſpiele ſtifteten, und
ihn unter dem Namen Archemoros, d. h. der Früh¬
vollendete, zuerſt als Halbgott verehrten.

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[351/0377] Kreiſe umherſandte, ward ihr bald das entſetzliche Schick¬ ſal klar, das ihr Pflegekind getroffen hatte, während ſie dem Heere der Argiver den frommen Liebesdienſt leiſtete. Denn nicht weit von dem Baume lag eine gräßliche Schlange geringelt, ihren Kopf auf den ſchwellenden Bauch zurückgelegt in träger Ruhe das eben abgehaltene Mahl verdauend. Der unſeligen Pflegemutter ſträubte ſich das Haar und ihr Jammerſchrei erfüllte die Lüfte. Auf dieſes waren auch die Helden herbeigeeilt; der erſte, der den Drachen erblickte, war Hippomedon; ohne zu ſäumen, riß er ein Felsſtück aus dem Boden und ſchleuderte es auf das Ungethüm; aber ſein gepanzerter Rücken ſchüttelte den Wurf ab, als wäre es eine Handvoll Erde; da ſandte Hippomedon ſeinem erſten Wurfe den Speer nach und dieſer verfehlte ſein Ziel nicht; er fuhr der Schlange in den Rachen, durchs hervorſpritzende Gehirn, und die Spitze drang heraus zum Kamme. Das Unthier drehte ſich wie ein Kreiſel mit dem langvorragenden Speer in der Wunde, und hauchte endlich ziſchend ſeinen Athem aus. Als die Schlange erlegt war, getraute ſich erſt die arme Pflegemutter der Spur ihres Kindes nachzugehen, ſie fand weithin die Gräſer vom Blute geröthet und endlich fernab von dem Ort ihrer Ruhe das nackte Ge¬ bein des Kindleins. Die Verzweifelnde ſammelte es in ihren Schooß und übergab es den Helden, die mit ihrem ganzen Heere dem unglücklichen Knaben, der ihnen zum Opfer gefallen war, nachdem ſie ſeine Ueberreſte feier¬ lich beſtattet, herrliche Leichenſpiele bereiteten, ihm zu Ehren die Nemeiſchen heiligen Kampfſpiele ſtifteten, und ihn unter dem Namen Archemoros, d. h. der Früh¬ vollendete, zuerſt als Halbgott verehrten.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/377>, abgerufen am 29.03.2024.